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LISSABON, 6. Dezember 1999
Wenn jemand Tomás Noronha an diesem Morgen gesagt hätte, er würde die nächsten Wochen damit verbringen, durch die Welt zu reisen, um eine fünfhundert Jahre alte Verschwörung zwischen den beiden einstigen Weltmächten Spanien und Portugal aufzuklären und in die esoterische Welt der Kabbala und der Tempelritter einzutauchen, hätte er vermutlich gelacht. Und doch stand ihm genau das bevor.
Er parkte auf dem Parkplatz der Universität, der um 9:30 Uhr noch relativ leer war. Dann ging er in die Halle des Vorlesungsgebäudes, in dem die Studenten in Grüppchen zusammenstanden und sich über die Ereignisse des Vorabends austauschten. Als Tomás an ihnen vorbeiging, hörte er zwei der jungen Frauen aufgeregt flüstern; Tomás Noronha war groß und schlank, mit seinen fünfunddreißig Jahren ein gutaussehender Mann, dessen leuchtend grüne Augen das Auffälligste waren, das er von seiner französischen Urgroßmutter geerbt hatte. Er öffnete die Tür zu Hörsaal T9, betätigte mehrere Lichtschalter und legte seine Aktentasche auf das Pult.
Sofort strömten Studenten in kleinen Gruppen in den Saal und setzten sich an ihre üblichen Plätze neben den üblichen Sitzpartnern. Tomás nahm seine Unterlagen aus der Aktentasche, setzte sich ebenfalls und wartete, bis auch einige Nachzügler ihre Plätze eingenommen hatten. Die meisten von ihnen waren junge Frauen. Manche von ihnen wirkten noch schläfrig, andere vom Morgenkaffee eher aufgekratzt und putzmunter.
Nach ein paar Minuten stand er auf und begrüßte seine Zuhörerschaft, die mit einem dissonanten "Guten Morgen" antwortete.
"Bisher haben wir eine Stele zu Ehren des Gottes Marduk untersucht", kam Tomás gleich zur Sache, "und die Keilschriften der Akkader, Assyrer und Babylonier miteinander verglichen. Außerdem haben wir über die Ägypter und ihre Hieroglyphenschrift gesprochen, ein paar Passagen aus dem Ägyptischen Totenbuch übersetzt sowie die Inschriften des Karnak-Tempels und einige Papyrustexte gelesen. Heute schließen wir unsere Betrachtungen Ägyptens ab. Dazu möchte ich Ihnen erzählen, wie es gelang, die Hieroglyphenschrift zu entschlüsseln." Er hielt inne und blickte sich um. "Hat jemand von Ihnen eine Idee?"
Einige Studenten lächelten. Sie kannten die ungeschickte Art ihres Dozenten, sie am Unterricht zu beteiligen.
"Mit dem Stein von Rosette", sagte jemand.
"Ja", stimmte Tomás zu. "Der Stein von Rosette hat eine Rolle gespielt, aber er war nicht der einzige Faktor. Und er war auch nicht der entscheidende."
Die Studenten schauten überrascht. Die junge Frau, die geantwortet hatte, war sogar ein wenig enttäuscht, nicht die richtige Antwort gegeben zu haben.
"Der Stein von Rosette war also nicht der Schlüssel zum Entziffern der Hieroglyphenschrift?", fragte eine kleine, pummelige Studentin in der zweiten Reihe.
Tomás lächelte. Die Bedeutung des Steins von Rosette herabzusetzen hatte den gewünschten Effekt gezeigt. Seine Zuhörerschaft blickte ihn gespannt an.
"Er hat dabei geholfen", räumte Tomás ein, "aber er war bei Weitem nicht alles. Wie Sie wissen, waren die Hieroglyphen über Jahrhunderte ein großes Rätsel. Die ersten von ihnen stammen aus dem 3. Jahrtausend vor Christus. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts nach Christus wurden die Hieroglyphen dann plötzlich nicht mehr verwendet, und nur eine Generation später war quasi niemand mehr in der Lage, sie überhaupt zu lesen. Weiß jemand, warum?"
Niemand antwortete.
"Haben die Ägypter etwa kollektiven Gedächtnisschwund bekommen?", witzelte einer der wenigen männlichen Studenten.
"Grund war die christliche Kirche", klärte Tomás auf. "Die Christen verboten den Ägyptern die Verwendung ihrer Hieroglyphenschrift, damit sie ihre heidnische Vergangenheit und die Vielgötterei vergessen sollten. Diese Maßnahme wurde so drastisch umgesetzt, dass das Wissen um die alte Schreibform in kürzester Zeit einfach erlosch. Das Interesse für die Hieroglyphenschrift wurde erst Ende des 16. Jahrhunderts wiederbelebt, als Papst Sixtus V. auf den Plätzen Roms ägyptische Obelisken aufstellen ließ."
Die Vorlesung wurde vom leisen Knarzen der Tür unterbrochen, als eine junge Frau den Raum betrat. Tomás blickte irritiert auf. Dann schaute er näher hin. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie war blond, hatte türkisfarbene Augen und eine milchweiße Haut. Sie ging nach hinten und setzte sich etwas abseits in die letzte Reihe. Dabei bewegte sie sich mit einer Selbstsicherheit, die zeigte, dass sie sich ihrer umwerfenden Schönheit bewusst war.
Nach kurzem Zögern fuhr Tomás fort: "Die Gelehrten versuchten daraufhin, die Hieroglyphen zu entschlüsseln, aber ohne Erfolg. Als Napoleon in Ägypten einfiel, folgte ihm eine Gruppe von Wissenschaftlern und Historikern, die den Auftrag hatte, alles, was sie fand, zu kartografieren, zu registrieren und zu vermessen. Dieses Team landete 1798 in Ägypten und wurde im folgenden Jahr ins Nildelta beordert, um ein Steinfragment zu untersuchen, das die dort stationierten Soldaten nahe der Stadt Rosette entdeckt hatten."
Die junge Frau musste Ausländerin sein, dachte sich Tomás. Portugiesinnen hatten nicht so helle Haut und Haare.
"Die französischen Gelehrten identifizierten drei Arten von Zeichen: griechische und demotische sowie Hieroglyphen. Sie schlussfolgerten daraufhin, dass der Stein ein und denselben Text in drei Sprachen enthielt und erkannten seine immense Bedeutung. Doch dann fielen britische Truppen in Ägypten ein und besiegten die Franzosen, und der Stein, der eigentlich nach Paris geschickt werden sollte, gelangte ins British Museum nach London. Wie die Übersetzung des griechischen Textteils ergab, handelte es sich bei der Inschrift um einen Beschluss des Priesterrates, in dem bekannt gegeben wurde, welche Vergünstigungen Pharao Ptolemaios V. dem ägyptischen Volk als Ausgleich für die ihm anerkannten Ehren gewährte. Die Engländer schlussfolgerten daraus, dass es nicht allzu schwer sein dürfte, die demotische Schrift zu entschlüsseln, wenn es sich wirklich dreimal um den gleichen Text handelte. Aber dabei tauchten drei Probleme auf." Tomás hielt den rechten Daumen in die Höhe. "Erstens war der Stein beschädigt. Der griechische Text war noch relativ gut erhalten, nicht aber der demotische Teil und vor allem nicht die Hieroglyphen. Mehr als die Hälfte des Hieroglyphentextes fehlte, und selbst die verbliebenen vierzehn Zeilen waren in einem schlechten Zustand." Er hob auch den Zeigefinger. "Zweitens waren die beiden zu entschlüsselnden Schriften in Ägyptisch verfasst, einer Sprache, die seit mindestens achthundert Jahren nicht mehr gesprochen worden war. Die Engländer konnten zwar die Hieroglyphen bestimmten griechischen Wörtern zuordnen, aber sie wussten nicht, wie diese Hieroglyphen ausgesprochen wurden." Tomás hob nun auch den Mittelfinger. "Drittens glaubten die Gelehrten, dass die Hieroglyphen Ideogramme waren, also Bildzeichen, bei denen jedes Zeichen ein ganzes Wort oder einen Begriff darstellt, im Gegensatz zu Phonogrammen, bei denen jedes Zeichen einen Laut abbildet, wie das bei unserem Alphabet der Fall ist."
"Und wie wurden die Hieroglyphen dann entziffert?", fragte eine der Studentinnen.
"Den ersten erfolgreichen Ansatz lieferte ein hochbegabter Engländer namens Thomas Young. Schon im Alter von vierzehn Jahren beherrschte er Griechisch, Latein, Italienisch, Hebräisch, Chaldäisch, Syrisch, Persisch, Arabisch, Äthiopisch, Türkisch und . was war es noch gleich.?"
"Chinesisch", schlug ein Witzbold vor und wurde mit Gelächter belohnt.
"Samaritisch", erinnerte sich Tomás. "Young nahm 1814 eine Kopie der drei Inschriften des Rosettesteins mit in seine Sommerferien und untersuchte sie in allen Einzelheiten. Mehrere Hieroglyphen in einer Art Ring, einer sogenannten Kartusche, erregten seine Aufmerksamkeit. Er nahm an, dass diese Kartusche dazu diente, etwas Wichtiges hervorzuheben. Dank des griechischen Textes wusste er bereits, dass dieser Teil von Ptolemaios handelte. Er zählte also zwei und zwei zusammen und kam zu dem Schluss, dass die Kartusche den Namen Ptolemaios enthielt. Dann tat er etwas Bahnbrechendes: Anstatt darauf zu beharren, dass die Schrift aus Ideogrammen besteht, dachte er, dass das Wort auch phonetisch geschrieben sein könnte. Er stellte Mutmaßungen an, wie die einzelnen Hieroglyphen in der Kartusche wohl ausgesprochen worden sein könnten." Tomás ging eilig zum Whiteboard und zeichnete ein Quadrat an. "Er nahm an, dass dieses Symbol, das erste in der Kartusche, dem ersten Laut im Namen des Pharaos entsprach, also einem P."
Daneben zeichnete Tomás einen unten geschlossenen Halbkreis. "Dieses Zeichen, das zweite in der Kartusche, interpretierte er als t." Als nächstes zeichnete er eine Schlaufe , gefolgt von einem liegenden Löwen im Profil. "Die Schlaufe übersetzte er als o, den Löwen als l."
Anschließend malte Tomás zwei waagerechte, parallele Linien, die am linken Ende geschlossen waren. "In diesem Symbol vermutete er ein m." Darauf folgten zwei nebeneinander aufrecht stehende Messer. "Diese Messer deutete er als i." Zuletzt zeichnete er einen aufrecht stehenden Haken. "Und das hier hielt er für ein s."
Tomás drehte sich um und blickte seine Zuhörer an.
"Sehen Sie?" Er zeigte auf seine Hieroglyphen, während er sie aussprach. "P, t, o, l, m, i, s. Ptolmis. Ptolemaios."
Auf den Gesichtern der Studenten machte sich erstauntes Erkennen breit.
"Wir...
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