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Liverpool, Dezember 1940
Die junge Emily Haycock rannte wie der Wind die George Street entlang nach Hause. Sie war zehn Minuten später als sonst dran, und ihre Lunge schien sich mit dem Dunst des Merseys zu füllen, als sie die letzten Meter hügelaufwärts zum hinteren Tor lief. Sie war pünktlich aus der Munitionsfabrik gekommen, doch der Bus hatte unendlich lange gebraucht. Die George Street befand sich oben auf einem Steilhang, von dem ausgetretene Stufen nach unten zu den Docks führten.
Emily wusste, dass sie sich zu Hause umgehend die Essensmarken greifen und wieder loslaufen musste, um im Eckladen am Ende der Albert Street mit dem Rest der Fabrikarbeiter anzustehen. Sie hoffte, dass noch genug Bacon und Butter übrig wären, wenn sie an der Reihe wäre, damit sie ihren kleinen Brüdern ein Abendessen machen konnte. Bald wurde es dunkel, dann schloss der Laden, und alle bereiteten sich auf die Verdunkelung vor.
Emilys Stiefvater Alfred war im letzten Jahr verwundet von seinem Regiment, King's Own Lancaster, zurückgekehrt. Jetzt trug er eine Schiene an seinem Bein und ging am Stock. Es war offensichtlich, dass er immerzu Schmerzen hatte, auch wenn er sich selten beklagte. Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er sich sofort bei der Heimwehr gemeldet, bei der er nun jede einzelne Nacht verbrachte, sieben Tage die Woche.
»Hallo, Spatz«, sagte er, als Emily beinahe zur Hintertür hineinstürzte. Er saß auf der Sofakante. Morgens hatte es ihre gesammelten Kräfte gebraucht, das Ungetüm mit dem Holzrahmen und dem Rosshaarpolster aus dem Wohnzimmer vor den Küchenherd zu ziehen. Und auf ihm, eingehüllt in eine geflickte Decke, schlief Emilys erbärmlich dünne Mutter. Obwohl es ihr sichtlich schlecht ging, hatte sie am frühen Morgen darauf bestanden, aus dem Bett gehoben und nach unten getragen zu werden. Die Luft in der Küche roch säuerlich nach Blut und Sputum, ungewaschenem Haar und von Erbrochenem fauligen Atem.
»Pst.« Alfred hielt einen Finger an seine Lippen.
»Wie geht es ihr?«, flüsterte Emily, näherte sich auf Zehenspitzen dem Sofa und betrachtete das einst schöne, blasse Gesicht, das nun die Farbe von Talg hatte. Der Kopf ihrer Mutter war zur Seite gedreht, das Gesicht beinahe zur Rückenlehne gewandt. Schweißperlen standen auf ihrer Oberlippe, und Emily konnte ihren angestrengten und flachen Atem hören. Ihre Mutter lag im heilsamen Tiefschlaf der Kranken. In einem ihrer Mundwinkel war noch ein kleiner Blutstreifen, den sie bei einem ihrer Hustenanfälle mit ihrem Taschentuch dort verwischt haben musste. Ihre Lider waren dünn wie Pergament, und ihre Augen schienen tiefer eingesunken.
»Hast du einen guten Tag gehabt?« Alfred streichelte Emilys Unterarm. Es war eine liebevolle Geste, mit der er ihr Solidarität im gemeinsamen Kummer signalisierte. Emily brachte keinen Ton heraus. Jedes Mal, wenn sie das Haus betrat, brauchte sie einen Moment, um sich darauf einzustellen, wie ihr Leben jetzt war, nicht, wie es sein sollte. Sie war erst sechzehn, und wenn sie tagsüber in der Fabrik an ihrer Werkbank stand, konnte sie sich einbilden, dass es diese neue Situation mit ihrer schwer kranken Mutter und dem verwundeten Stiefvater nicht gab. Sie konnte sich ausmalen, alles wäre noch so wie vor dem Krieg, vor der Schwindsucht, bevor sie ihren Plan aufgeben musste, sich im St. Angelus zur Krankenschwester ausbilden zu lassen.
»Der Arzt war heute hier. Er hat gesagt, dass er sie ins Sanatorium schicken möchte, drüben in West Kirby. Sie hat versprochen, es sich zu überlegen. Er hat gesagt, er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihr dort ein Bett zu besorgen. Ein guter Mann. Ja, das ist er.«
Emily bejahte stumm. Sie hatte den Facharzt oft gesehen, wenn er ihre Mutter besuchte, und mochte ihn sehr. Ihr kam er wie die Güte und Fürsorge in Person vor.
»Wie bezahle ich Sie für Ihren Besuch?«, hatte sie Alfred nach dem ersten Mal fragen hören.
»Gar nicht«, hatte der Arzt geantwortet. »Die Regierung deckt die Kosten im Rahmen eines Sonderprogramms, und selbst wenn nicht, würden Sie nichts zahlen müssen.«
Nachdem er gegangen war, hatte Emily seine Liste mit Anweisungen gelesen.
In dem Augenblick hatte Emily gewusst, dass ihr Traum, Krankenschwester zu werden, geplatzt war.
»Sie will das Haus und die Kinder nicht verlassen, aber deine Worte von heute Morgen haben gewirkt«, sagte Alfred. »Dr. Gaskell möchte sie noch einmal röntgen lassen, und dann möchte er die schwer befallene Lungenseite kollabieren lassen, um sie zu entlasten. Er weiß nicht, was er sonst tun soll, weil die Bettruhe nicht zu helfen scheint. Deine Mutter kann so stur sein.« Dabei sah er seine Frau mit einem solch zärtlichen Blick an, dass Emily es kaum aushielt. Sie wusste, was er meinte. Heute Morgen hatte sie ihn gebeten, wieder den Arzt zu rufen. Der anscheinend rapide Verfall hatte ihr Sorgen gemacht. Anstatt wenige Male am Tag Blut zu husten, war es morgens alle fünf Minuten gewesen.
»Wenigstens stimmt sie der Bettruhe zu. An die hält sie sich.« Emily griff nach Strohhalmen, und Alfred wusste es.
»Sie hat auch zugestimmt, morgen zu Dr. Gaskell ins St. Angelus zu gehen. Er ist ein guter Mann und der Beste für diese Krankheit hier in Liverpool, weißt du? Er kennt sich aus. Ich denke, er wird versuchen, sie nach dem Röntgen zu überreden, dass sie sich gleich ins Sanatorium bringen lässt. Wie er mir erzählt hat, ist er in Sorge, dass es um den anderen Lungenflügel schlecht steht. Das Problem ist, dass wegen des Krieges so viele Sanatorien geschlossen wurden. Die Warteliste kann über Monate voll sein. Vielleicht findet sie keinen Platz.«
Alfred verstummte. Sie beide wussten, wenn Emilys Mutter bereit war, ihre kleinen Söhne zu verlassen, musste sie sehr krank sein.
»Um zehn Uhr morgen früh sollen wir im St. Angelus sein«, sagte er nach einer Weile.
Emily hockte sich hin, ergriff die knochige, blau geäderte Hand ihrer Mutter, die wie eine Vogelkralle anmutete, und küsste den Handrücken. Sie verbarg ihr Gesicht, weil Alfred sie nicht weinen sehen durfte. Er hatte schon genug, mit dem er fertig werden musste, und sie sollte ihn unterstützen, ihm keine Last sein.
Emilys Eltern glaubten, dass sie nicht ahnte, wie schlimm es stand. Da irrten sie. Sie hatte die beiden nachts reden, flüstern und weinen gehört, wenn sie glaubten, Emily und die jüngeren Kinder würden schlafen.
Sie hatte den Husten ihrer Mutter bemerkt, ihr Frösteln und Schwitzen, das Blutwürgen und wie sie - übermannt von Erschöpfung - in einen Sessel sank. Ebenso die geschwollenen Knöchel und die schmerzende Brust. In ihrer Kindheit in den Hafenstraßen von Liverpool hatte sie genug Leute mit demselben Leiden gesehen, um Bescheid zu wissen.
Heute Morgen, als Emily ihre Mutter wusch und ihr ihren Tee brachte, hatte sie ihre Entscheidung gefällt.
»Ich höre in der Fabrik auf, Mam. Rita ist eine große Hilfe mit den Kindern, doch bis es dir besser geht, bleibe ich lieber zu Hause. Schließlich hat der Arzt gesagt, dass du nur einmal am Tag aufstehen darfst, um zur Toilette zu gehen. Ich muss hier sein, Mam.«
Ihre Stimme war gebrochen, denn Emily war den Tränen näher gewesen, als sie dachte. Ihre Mutter hatte versucht zu antworten, bekam jedoch erneut einen Hustenanfall. Emily sah den leuchtend roten Schaum, den ihre Mutter in ihrem Taschentuch verbergen wollte.
»Ich denke auch, es ist das Beste, Liebes«, hatte ihre Mutter gesagt und das Gesicht vor Schmerz verzogen, als Emily ihre Arme anhob, um sie zu waschen, und ihr dabei behutsam das Taschentuch aus den dünnen Fingern wand.
»Das ist kein gutes Zeichen, oder?«, hatte sie mit einem Kopfnicken zu dem roten Flecken gefragt.
»Ach, ich weiß nicht, Liebes. Vielleicht ist es das doch, du weißt schon: Das Schlechte muss raus, damit man richtig gesund wird.« Emilys Mutter hatte keine Ahnung, woher diese Worte kamen; sie wollte lediglich ihre Tochter beruhigen. Eventuell entsprangen sie einer uralten Erinnerung, dem Geist eines verstorbenen Angehörigen, oder sie hatte sich das in ihrer Stunde der Not schlicht ausgedacht, während sie darum rang, ihrer Familie die Angst zu nehmen. Und sie alle zusammenzuhalten.
»Ich bitte Dad, den Arzt zu rufen, und sage in der Fabrik, dass ich zu Hause gebraucht werde. Der nächste Freitag könnte mein letzter Tag sein. Das hier muss besser werden, Mam. Gehst du bitte ins Sanatorium?«
Mutter und Tochter lächelten einander matt zu. Dann bückte Emily sich und küsste ihre Mutter auf die Wange. »Ich muss weitermachen, Mam. Hörst du die Kleinen?«
Wieder wechselten sie einen Blick liebevoller Erschöpfung, da sie den...
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