Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Mein Srulik hatte es morgens eilig, zur Arbeit zu kommen. Er zog einen Schuh an, den zweiten hielt er in der Hand, und dann, auf einmal, hörte sein Herz auf zu schlagen. Er sank vom Bett auf den kalten Boden und starb, mit dem Schuh in der Hand. Einundvierzig Jahre war mein Srulik alt und ist, einfach so, eines schönen Tages gegangen.
Barfuß, in einem dünnen Nachthemd, stand ich mitten im Schlafzimmer und schrie: »Hilfe! Srulik ist gegangen! Hilfe! Srulik ist gegangen!«
Als ich keine Stimme mehr hatte, stand ich da und schaute abwechselnd auf unseren Sohn Etan, der damals kaum vier Jahre alt war, und auf den toten Srulik und fragte mich, woher Hilfe kommen würde.
Und ob ihr es glaubt oder nicht - sie kam.
Sajtschik, der Friseur, erschien. Er rannte ins Schlafzimmer, schüttelte zwei-, dreimal den toten Srulik, rief seinen Namen, dann reichte er mir ein Glas Wasser, umarmte meinen kleinen Etan und lief los, um Dr. Wollmann zu holen, der kurz darauf eintraf, meinen Srulik anschaute und sagte: »Leale, es tut mir sehr leid.«
Ich erinnere mich nicht mehr, was dann geschah.
Sieben Tage lang schluckte ich Medikamente. Rosa, die Nachbarin, war verantwortlich für die Bewirtung der Gäste und Sajtschik für deren Empfang. Er kümmerte sich um die Nachbarn, die kamen, um Trost zu spenden, spielte mit meinem Etan, erzählte ihm Geschichten und brachte ihn ins Bett.
Sieben Tage und sieben Nächte saß Herr Sajtschik, der Friseur, mit uns zusammen.
Am Ende der sieben Trauertage, als wir vom Friedhof zurückkamen, teilte er mir mit: »Ab morgen arbeitest du bei mir im Friseursalon.«
Bis mein Srulik starb, hatte ich Sajtschik nicht gekannt, den Menschen Sajtschik.
Sajtschik war für mich der Friseur mit Brillantine im Haar, in einem weißen Anzug, mit schwarzen Lackschuhen und mit grünen Augen. Sajtschik war Sruliks Freund gewesen, und mein Srulik, er ruhe in Frieden, war der beste Schneider im ganzen Viertel und auch der Einzige.
Tage- und nächtelang hatte mein Srulik für Sajtschik auf Bestellung weiße Anzüge genäht. Und ich liebte es, ihm zuzuschauen, wie er den weißen Stoff zuschnitt und, mit Stecknadeln zwischen den Lippen, die Nähte mit grauer Kreide markierte, sie mit einem Reihfaden zusammenheftete und den genauen Abstand zwischen den Knöpfen ausmaß.
Ein Künstler, wirklich ein Künstler, sagte ich mir. Stundenlang schaute ich ihm bei der Arbeit zu, und obwohl er fast achtzehn Jahre älter war als ich, hatte ich immer gespürt, dass ich ihn aus großer Liebe geheiratet hatte.
Als Srulik mich ins Viertel gebracht hatte, war ich vielleicht achtzehn gewesen. Zu meinem Glück war er in den Kibbuz gekommen, um Mordechai zu besuchen. Mordechai war derjenige, der mich in dem Waisenhaus in Polen gefunden hatte, und auch der Einzige aus dem Städtchen von Srulik, der noch vor dem Krieg ins Land gekommen war. Vom ganzen Städtchen sind nur Mordechai und Srulik geblieben.
Mordechais Frau war eine seltsame Frau, schön und schweigsam, den ganzen Tag über arbeitete sie im Magazin und im Sekretariat des Kibbuz, und am Abend machte sie Wachdienst. Ihre beiden Kinder waren sehr klein und wuchsen bei Kinderschwestern im Babyhaus auf. Ich war die ganzen Jahre im Haus der großen Kinder, und einmal am Tag kam Mordechai, um zu sehen, wie es mir ging.
Meinen Srulik traf ich bei Mordechai, schon in der ersten Woche, nachdem ich ins Land gekommen war. Ab da wollte er jedes Mal, wenn er Mordechai besuchte, auch mich sehen. Immer brachte er Süßigkeiten und Bücher mit, und manchmal nähte er mir auch einen Rock oder ein Kleid.
Mordechai erzählte mir, dass Sruliks verstorbene Frau ebenfalls Leale geheißen hatte.
Zwei Jahre später schlug mir Srulik vor, mit ihm zu leben, und ich zögerte keine Sekunde.
Ich habe doch so sehr gelitten im Kibbuz. Ich war dünn und schwach. Jedes Mal, wenn man mir Hacke und Spaten gab, hatte ich Angst, meine Arme würden mir von den Schultern fallen, und der Geruch von Erde lähmte mich und verursachte mir Sodbrennen. Für mich war es der Geruch des Krieges.
In den Feldern, den Orangenhainen und Obstgärten hatte ich das Gefühl zu ersticken, während der Blütezeit bekam ich Asthmaanfälle, im Stall wurde ich von den Kühen getreten, und im Herzen wusste ich, dass kein Kibbuznik mich je heiraten würde.
Ich fühlte, dass es das Schicksal war, das mir Srulik gebracht hatte, ich glaubte, wir seien füreinander bestimmt. Ich war inzwischen - so hatte man im Kibbuz entschieden - etwa achtzehn, und Srulik war ein erfahrener Mann, der schon zweimal achtzehn Jahre gelebt hatte.
Bereits an meinem ersten Tag im Viertel traf ich Sajtschik, den Friseur, vor seiner Ladentür.
Srulik umarmte mich fest und sagte mit zitternder Stimme zu Sajtschik: »Das ist Leale, noch einmal eine Leale für mich.«
Und bis heute höre ich, wie Srulik zu mir sagte: »Leale, das ist der schöne Sajtschik, wir sind Freunde von dort.«
Sajtschik lächelte und sagte: »Immer waren wir zusammen, Nachbarn, eine Pritsche über der anderen.«
»In der freien Zeit«, fuhr Srulik fort, »wenn wir die Latrine geputzt hatten, wenn wir unsere Suppe mit Dreck gegessen hatten, hat Sajtschik Frisuren entworfen.«
»Und dein Srulik«, sagte Sajtschik, »hat dort gestreifte Anzüge genäht.«
»Du siehst, majn kind«, sagte Sajtschik bei diesem Treffen zu mir, »man braucht einen Beruf, um zu leben.«
Und Srulik wiederholte: »Ja, Leale, man braucht einen Beruf, um zu leben.«
Auch nach unserer Hochzeit blieb Sajtschik, der Friseur, mit Srulik verbunden. Oft kam er nach einem Arbeitstag zu uns, um einen Anzug auszusuchen oder anzuprobieren. Ganze Nächte verbrachte er flüsternd mit Srulik in dessen Arbeitszimmer.
Einmal platzte ich in das kleine Arbeitszimmer und weinte und sagte zu Srulik, dass er viel eher Sajtschiks Mann sei als meiner.
Srulik wurde rot und Sajtschik blass.
»Wir haben einen Bund«, antwortete er mir nach einem langen Schweigen.
So lernte ich, dass man Sajtschik nicht wehtun durfte. Ich bat um Verzeihung und mischte mich nicht mehr ein, aber in meinem Herzen war ein bisschen Zorn auf Sajtschik, der abends zu Srulik kam und der, weil er keine Frau und keine Kinder hatte, bis mitten in der Nacht blieb, als hätte auch Srulik keine Familie.
Als die sieben Trauertage vorbei waren und ich den kleinen Etan in den Kindergarten gebracht hatte, ging ich nicht in die leere Wohnung zurück. Bis heute weiß ich nicht, was mich dazu trieb, Sajtschiks Vorschlag anzunehmen und bei ihm im Friseursalon zu arbeiten.
Ich glaube, ich hatte Angst, dass ich nicht genug Geld für meinen Etan haben würde, vielleicht hatte ich auch Angst, in der leeren Wohnung verrückt zu werden.
In Sajtschiks Friseursalon sah es aus wie immer, alles glänzte vor Sauberkeit, die Spiegel, die Geräte, das Waschbecken, die Handtücher, die Umhänge und der Fußboden, doch als ich kam, schlug Sajtschik vor, ich solle sauber machen.
»Aber es ist doch schon alles sauber«, sagte ich.
»Ich habe es gern, wenn der Salon vor Sauberkeit strahlt«, antwortete er.
Nachdem ich eine Woche lang den sauberen Friseursalon geputzt hatte, brach ich in Tränen aus. »Ich will kein Mitleid«, sagte ich mit erstickter Stimme und rannte aus dem Friseursalon.
Sajtschik rannte mir nach und packte mich an der Schulter.
»Ein Beruf«, sagte er ruhig zu mir, »man braucht einen Beruf, um zu leben.«
»Aber ich habe keinen Beruf«, erwiderte ich verzweifelt.
»Leale«, sagte er liebevoll, »irgendetwas kannst du bestimmt trotzdem.«
»Ich kann tief, tief in der Erde leben, ohne Essen, ohne Wasser, ohne Licht, das ist es, was ich am besten kann«, brach es aus mir heraus.
Sajtschik schwieg. Ich zitterte am ganzen Körper und lief bis abends mit bösen Gedanken herum.
Am nächsten Morgen ging ich wieder in den Friseursalon.
Sajtschik hatte mir in einer Ecke schon einen kleinen Tisch vorbereitet, mit Nagellackfläschchen, mit Aceton, Vaseline, Nagelfeile, Nagelschere und mit Watte in einem Glasbehälter. Und bevor die ersten Kundinnen kamen, brachte er mir alles bei, als wäre er ein großer Fachmann für Maniküre.
Von diesem Tag an arbeitete ich von neun Uhr morgens bis zu dem Zeitpunkt, wenn Etan nach Hause kam, im Friseursalon.
Über dreißig Jahre lang saß ich auf demselben Platz, auf einem Hocker vor einem niedrigen Tisch. Ich atmete den Geruch des Acetons ein, ich schüttelte alle möglichen Nagellackfläschchen und betrachtete die Finger und die Fingernägel aller Frauen des Viertels.
Und mit jedem Tag, der verging, liebte ich Sajtschik mehr.
Und dann, einfach so, nach einer schweren Krankheit, ist auch mein Sajtschik gegangen.
Wieder und wieder habe ich die Beerdigung in Kiriat Scha'ul vor Augen, ohne Familie, ohne Verwandte, ohne Kinder. Nur ein paar alte Leute aus dem Viertel und Mordechai vom Kibbuz folgten seinem Sarg, sehr langsam und still.
Niemand weinte. Wir hatten ja schon seit vielen Jahren keine Tränen mehr.
Vor uns schritten die Rabbiner, die gekommen waren, um von Gott Gnade und Vergebung zu erflehen. Ich konnte mich nicht beherrschen und sagte zu ihnen, um diesen Mann, der da gegangen war, müsse Gott weinen.
Dann verlor ich meine Stimme, und nur meine Lippen bewegten sich stumm, als ich sagte, dass Sajtschik a mentsch gewesen sei, ein wirklicher Mensch.
Dorka, Guta und Zila hatten Angst, ich würde zusammenbrechen, aber auch ihnen tat das Herz weh, und womit hätten sie schon helfen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.