Schweitzer Fachinformationen
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Blut und Wasser
Langsam lichtet sich der Nebel. Es ist der Moment, in dem die Sonne sich den Weg bahnt durch das milchige Grau, durch den Wald, die Bäume und das Tal. Und in dem sie schließlich den Blick freigibt und wie der gelbe Schein einer übergroßen Taschenlampe zuerst die Wipfel der Bäume, dann die Zweige, dann das Gras anstrahlt.
Auf einer kleinen Lichtung neben der Straße steht eine Gruppe Rehe, die Köpfe auf das Gras gesenkt. Hundertmal ist Mara die Strecke schon gefahren. Bei Regen, bei Sonne, bei Wind, im Schnee und einmal auch im Sturm. Und viele Male hat er neben ihr gesessen. Die Hände locker am Lenkrad, sie sieht ihn noch im Profil: die gerade Nase, das angedeutete Lächeln in den Mundwinkeln, die buschigen blonden Augenbrauen und den plötzlichen, direkten Blick aus den graublauen Augen.
Jetzt ist sie unterwegs zu ihm, auch das ist eine ewige Wiederholung. Wie oft der Satz »Kommst du zu mir - oder soll ich zu dir kommen?« gefallen ist. Das ist jetzt das letzte Mal. Diesen Satz wird es niemals mehr geben. Denn Philipp ist tot. Seine Leiche wurde vor einer halben Stunde an einem Waldweg neben der Landstraße zwischen Roppeviller und Bitsch gefunden, kaum zehn Meter von seinem Wagen entfernt.
»Kanntest du ihn?«, hat ihr Chef aus dem Kaiserslauterer Präsidium am Telefon gefragt, als sie, gerade erwacht, glaubte, noch zu schlafen und einen gruseligen Albtraum zu durchleben. Aber es war kein Traum. Der Kollege klärte sie über die Details auf: Eine Gruppe Frauen war beim Wildkräutersammeln gewesen und hatte die Leiche auf einem Wanderweg entdeckt.
Eine männliche Leiche, etwa einen Meter achtzig groß, blond, leicht ergraut, ein Polizist in Zivilkleidung, der unweit seines Privatwagens lag. Hauptkommissar Philipp Meinhard.
Philipp, ihr Klassenkamerad, ihre Jugendliebe, ihre Amour fou und ihr bester Freund.
Die Sonne hat den Nebel weggewischt. Mara hat das Tal durchquert, und sie kann schon die Kurve sehen, hinter der es rechts in den Wald geht. Die Straßen sind hier schmaler als auf der kaum zehn Kilometer entfernten deutschen Seite, die Kurven schärfer. Beim Einbiegen in den Weg fragt sie sich, was Philipp mitten in der Nacht hier wollte.
Keine zweihundert Meter hinter der Straße erkennt sie Philipps Audi, dahinter haben ein Krankenwagen und drei weitere Fahrzeuge geparkt.
Neben den Sanitätern, deren Anwesenheit im Grunde nutzlos ist, sind Armin Weber, Philipps Kollege von der Dienststelle in Weidenbrünn, und der Lokalreporter Franz Tischler am Tatort.
Mara steigt aus ihrem Volvo. Später wird sie nicht mehr wissen, wie sie es geschafft hat, die paar Schritte zu gehen, dorthin, wo Philipps Körper ist, in einer kleinen Böschung am Weg. Ihr ist nicht übel und auch nicht kalt, sie fühlt nichts, gar nichts. Nur ihre Hände werden taub.
Sie bewegt sich auf die Stelle zu, wo ein Mann auf dem Bauch am Boden liegt, mit dem Gesicht im Gras. Um ihn herum ist Blut, sehr viel Blut. Es hat seinen blauen Pullover und seine Jeans durchtränkt. Seine blonden Haare, die jetzt von mehr Grau durchzogen sind, als sie es in Erinnerung hat, bilden am Hinterkopf einen Wirbel.
Er ist von hinten erschossen worden. Aus nächster Nähe. Zwei Schüsse, von denen einer tödlich war. Philipps rechte Hand ist nach oben ausgestreckt, so als hätte er sie im Tod noch heben wollen, der linke Arm ist reglos an den Körper gedrückt.
Jetzt wird ihr doch kalt, und sie fängt an zu zittern.
Der Kollege aus Weidenbrünn geht auf sie zu. »Mara! Frau Winter, Sie kannten ihn doch gut? Ihr wart doch Freunde?«
Die Knie knicken ihr weg, der Kollege stützt sie und bringt sie zu einer Bank. Dort sitzt eine Frau, die ihr Gesicht in den Händen vergraben hat. Es ist Silvie Thomé, auch sie ist keine Unbekannte für Mara.
Sie ist die Nachbarstochter aus der Kindheit. Silvie Brunner, das rothaarige Mädchen, das den Weidenbrünner Förster Peter Thomé geheiratet hat. Heute engagiert sie sich beim Bund für Umwelt und Naturschutz. Sie beschäftigt sich schon seit der Schulzeit mit Heilkräutern, und sie war an diesem Morgen nicht weit von hier mit einer Gruppe Frauen im Wald unterwegs.
»Sie hat ihn gefunden«, sagt Armin Weber. Der kleine Polizist sieht blass und mitgenommen aus. Fast zehn Jahre hat er mit Hauptkommissar Meinhard zusammengearbeitet.
Ein Stück entfernt steht der Reporter vom »Pfälzer Boten«. In der Region ist er als Unikum bekannt, trägt sommers wie winters einen dunkelgrünen Parka, hat eine Prinz-Eisenherz-Frisur und einen rötlichen Schnurrbart. Er weiß alles und kennt jeden.
»Was will der bloß hier?«, murmelt Armin Weber. »Hat ihm das einer von den Sanitätern zugespielt?«
Mara antwortet nicht, sondern schaut auf den reglosen Körper am Boden. Sie kann einen Teil seines Gesichts sehen. Er ist es, wirklich - so absurd ihr das auch erscheinen mag.
Sie hat ihn noch anrufen wollen am vergangenen Wochenende, ihm sagen wollen, dass sie da ist, dass sie zum Geburtstag ihrer Mutter in ihren Heimatort gekommen ist. Aber am Samstag hat sie gezögert, und am Sonntag ist es dann zu spät gewesen. In Wahrheit hat sie sich gescheut, Unruhe in Philipps Leben zu bringen. Er war inzwischen verheiratet, fast sieben Jahre schon, mit einer Juristin. Sie haben zwei Kinder, einen sechsjährigen Jungen und ein vierjähriges Mädchen. Philipp hat den Bauernhof seiner Eltern renoviert, er war in der Pfalz fest verwurzelt. Seine Tage verliefen in einem gleichmäßigen Rhythmus und immer innerhalb desselben kleinen Radius. Schwer, das zu begreifen. In der Schule war er ein wacher, rebellischer Geist, sie haben vom Auswandern nach Neuseeland geträumt, sind zusammen nach Paris und an den Atlantik gefahren. Aber als sie sich mit Mitte zwanzig zum ersten Mal getrennt haben, verschoben sich auch ihre Prioritäten.
Vor drei Jahren haben sie sich zum letzten Mal geküsst. Das war nach dem Erntedankfest, das hier Kerwe genannt wird. Sie wollte ihn nach Hause fahren, weil er zu viel getrunken hatte. Auf dem dunklen Parkplatz hielten sie sich plötzlich in den Armen, und später, beim Fahren, sagte er: »Bitte nicht gleich nach Hause! Ich will mit dir allein sein.«
Und sie wusste, wo. Dort waren sie schon als Jugendliche das eine oder andere Mal gewesen. Ein Hochsitz im Nadelwald, dort, wo die Bäume am dichtesten standen. Lachend, unter dem Knacken der Holzstufen der Leiter, kletterten sie nach oben. Sein Kinn war fest wie immer, glatt, die Lippen weich, und er roch so gut. Wie als Teenager knutschten sie fast eine Stunde lang, und plötzlich fiel ihm auf, dass sie keine Jacke trug.
»Ist dir nicht kalt?«
»Nein, gar nicht. Jetzt überhaupt nicht mehr«, flüsterte sie und wühlte ihre Finger in sein dichtes Haar.
»Wenn wir jetzt nicht gehen, geh ich nicht mehr heim«, sagte er. »Gar nicht mehr.«
»Gut. Dann gehen wir jetzt«, sagte Mara und kletterte vom Hochsitz hinunter.
Danach haben sie sich nur noch in Gegenwart anderer gesehen und ab und zu Mails geschrieben. Die letzte an ihrem Geburtstag Anfang Juni. »Alles Liebe zum Geburtstag. Denke an dich heute. Und auch sonst oft«, hat er geschrieben.
Der Mann sei seit etwa drei Stunden tot, haben die Forensiker gesagt. Eine Waffe habe er nicht bei sich gehabt, sie stecke im Handschuhfach des Wagens. Auch sein Handy sei nicht auffindbar. Mehrere Wagenspuren seien auf dem Waldweg nachweisbar.
Blöd nur, dass dieser Weg sowohl vom deutschen als auch vom französischen Forstamt genutzt wird, außerdem von Privatleuten, die den Waldweg als Abkürzung nehmen, obwohl das eigentlich verboten ist.
Jemand gibt Mara eine Flasche Wasser, sie trinkt sie fast aus, greift in ihre Jackentasche und zieht ihren Notizblock heraus. Sie notiert sich die Position des Toten, den Abstand zum Auto, die Lage der Schusswunden am Rücken und zwischen den Schulterblättern. Sie fragt Silvie Thomé nach den genauen Umständen des Auffindens, und sie sieht nicht weg, als die Männer in den weißen Schutzanzügen den toten Polizisten auf eine Bahre heben und zum Fahrzeug tragen.
»Du musst das nicht machen«, sagt Armin Weber. »Wir können doch auch einen Kollegen für die Ermittlungen einsetzen.«
Mara sieht ihn an. »Auf keinen Fall«, sagt sie bestimmt. »Ich habe doch schon angefangen.«
Sie will gerade in ihr Auto steigen, als ein blauer Renault mit französischem Kennzeichen angefahren kommt. Darin sitzt ein Typ Ende fünfzig, mit mürrischem Gesichtsausdruck. Er hebt zum Gruß die Hand und parkt seinen Wagen hinter Maras Volvo. Mara schließt ihre Autotür wieder und geht auf ihn zu. Er ist mittelgroß, hat gewellte graue Haare und einen leichten Bart mit rötlichen Spuren. Es ist der französische Kollege aus Weißenburg.
Offenbar hat er nicht gut geschlafen. Er wirkt zerknautscht und blinzelt sie mit müden Augen an. »Yannick Briand«, stellt er sich vor. »Ich hoffe, Sie haben noch einen Moment Zeit.«
Er spricht ein fast akzentfreies Deutsch und beharrt offenbar nicht darauf, sich nur auf Französisch mit ihr zu unterhalten. Maras Französisch ist recht passabel, aber sie ist dem Kollegen aus Weißenburg dankbar, dass sie jetzt, in dieser Situation, nicht nach den passenden Wörtern suchen muss.
»Sicher. Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagt sie, nachdem sie sich ihrerseits vorgestellt hat. Sie übermittelt ihm die bisher bekannten Fakten und erzählt, dass es sich bei dem getöteten Polizisten um einen Freund, ihren ehemaligen Partner, handelt.
Yannick Briand nickt und sieht sie traurig an. »Wir werden hier gemeinsam ermitteln«, sagt er. Ein deutsches Opfer und ein Tatort, der in Frankreich liegt. »Meine Leute kommen gleich«, teilt der Kommissar ihr mit.
Mara gibt ihm ihre...
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