Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
2
Desirée
Die Grafen von Trauttmannsberg wohnten nahe dem Schottenstift im ersten Bezirk. Draußen schien die Oktobersonne, doch ihre Strahlen hatten sich so verausgabt, den plötzlichen Wintereinbruch vor Charlottes Hochzeit zu vertreiben, dass sie gegen den Herbst nichts auszurichten vermochten. Doch ganz gleich, welche Temperaturen in Wien herrschten, im Grünen Salon des Palais Trauttmannsberg blieb es Frühling. Blumen rankten über die Tapete und formten Kränze, in denen Vogelpaare einander neugierig betrachteten. Die weißen Stühle mit zartgrünen Bezügen umstanden eine rosengeschmückte Kaffeetafel.
Der Duft von Topfenstrudel erfüllte die Luft. Desirée, die sich auf dem Weg hierher alle möglichen Szenarien des Scheiterns dieser literarischen Zusammenkunft ausgemalt hatte, versöhnte die Aussicht auf diese Mehlspeise mehr, als sie zugeben wollte. Mama hatte beim Mittagessen darauf geachtet, dass sie sich nicht zu viel auf den Teller nahm. Insofern fand sich für diese Köstlichkeit genug Platz.
Sie würde Anna und Theo von Gullivers Reisen erzählen und ihnen zeigen, was Swifts Roman so besonders machte. Und wenn sich die Kinder nicht für Gesellschaftskritik begeistern konnten, würde sie sich eben an der Backkunst der Trauttmannsberg'schen Köchin gütlich tun. Da sie nicht erwartete, dass Caroline von Trauttmannsberg dem Treffen beiwohnen würde, würde auch niemand daran Anstoß nehmen, wenn sie sich mehr als ein Stück dieser Köstlichkeit einverleibte.
Anna und Theodor warteten mit ihrem Hauslehrer bereits am Tisch. Aus ihren Mienen las sie deutlich, dass sie dieser Literaturstunde nicht freiwillig beiwohnten. Wie wunderbar! Von den vier Leuten in diesem Raum waren drei nur anwesend, weil ihre Mütter sie gezwungen hatten, und einer, weil er dafür ein Gehalt bezog. Dieses Experiment war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Caroline von Trauttmannsberg schien keine solchen Bedenken zu hegen, wünschte ihnen einen fruchtbaren Austausch und verließ den Salon. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, stützte Anna den Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf darauf ab. Theodor unterdrückte ein Gähnen und folgte dem Beispiel seiner Schwester.
»Was hat euch bei Gullivers Reisen am besten gefallen?«, begann Desirée. Sie hatte sich eigentlich eine bessere Frage für den Einstieg überlegen wollen, überhaupt hatte sie in Gedanken der Ehrgeiz gepackt, und sie hatte dem Trauttmannsberg'schen Nachwuchs eine Literaturstunde erteilen wollen, die ihresgleichen suchte. Leider war es bei der Idee geblieben, denn ihr war der Musketierroman wieder in die Quere gekommen, und sie hatte sich an deren Abenteuern ergötzt und weitere Kapitel dazugeträumt. Am Ende hatte sie sich auf ihre Intuition und auf Mechthild von Rechbergs Empfehlung verlassen, mit Swifts Gulliver anzufangen.
Mechthild von Rechberg hatten die Althenau-Töchter bereits in ihren ersten Tagen in Wien bei einem Ausritt kennengelernt. Vielmehr waren Antonias und Charlottes Pferde durch deren Kutsche aufgeschreckt worden, und Mechthild hatte sich als Retterin in der Not erwiesen und sie mit ihrer Kutsche nach Hause gebracht.
Desirée hatte die Dame sofort gemocht und umgehend ins Herz geschlossen, als diese sie in ihr Reich, die Hofbibliothek, einlud. Mechthild von Rechberg war die Freundin, nach der sich Desirée immer gesehnt hatte. Dass die Hüterin der Bücherschätze der Hofburg ihre Mutter hätte sein können, störte sie nicht. Mit ihr verband Desirée ein lebhaftes Interesse an jeder Art von Literatur, und mit niemandem hatte sie bisher so intensiv über Figuren und deren Motivation diskutieren, Handlungsstränge vergleichen und sich über Schauplätze austauschen können. Die Bibliothekarin hatte eine Gabe, immer das richtige Buch für ihre Leserin zu finden. Manchmal kam es Desirée so vor, als erspüre ihre Freundin die Stimmung, die Wünsche und Sehnsüchte ihres Gegenübers und brachte diese mit einem Kleinod aus ihrer Bücherschatzkammer zusammen. Mechthild hatte noch nie gefehlt, deswegen war sich Desirée sicher, dass auch der Gulliver verfangen würde, wenn sie es richtig anstellte.
»Wie lernen wir Gulliver kennen?«, fragte Desirée.
Anna und Theodor sahen einander an.
»Mögt ihr diesen Mann, wenn ihr ihm das erste Mal begegnet?«, fügte Desirée lächelnd hinzu.
»Wie soll ich ihm begegnen, wenn es ihn nur im Buch gibt?«, wollte Theodor wissen.
»Beim Lesen triffst du ihn. Du begleitest ihn und erlebst Abenteuer mit ihm«, erklärte Desirée.
Theodor zuckte mit den Schultern. Eine Seefahrt, ein Schiffbruch und winzige Menschen reizten ihn wohl wenig.
»Was denkst du, Anna?«, fragte Desirée.
»Ganz ehrlich?«, vergewisserte sich Anna.
»Natürlich. Es wird spannender, wenn wir unterschiedliche Meinungen vertreten.«
Anna nickte. »Ich finde, dass Gulliver ein sehr langes Buch ist und ich länger als eine Woche brauche, um es zu lesen.«
»Wie weit bist du gekommen?«, fragte Desirée, die langsam ungeduldig wurde.
»Ich habe es auf Mamas Anweisung aus der Bibliothek geholt und auf meinen Schreibtisch gelegt.« Anna sah sie fest an.
Auf Desirées Frage, ob sie es seitdem wieder zur Hand genommen habe, schüttelte Anna den Kopf. »Ich wusste, dass ich es nicht schaffe, also habe ich mich mit anderen Dingen beschäftigt, die ich beenden kann.«
Desirée schluckte und hoffte, ihre Mimik unter Kontrolle zu behalten. Was hatte sie sich da bloß eingebrockt? Mit Leseverweigerern in einem Raum zu sein, war schwer zu ertragen. Der Hauslehrer grinste. Was gab es da zu lachen? Hätte er die Lektüre nicht in seinen Unterricht integrieren können? Nun gut, es half nichts.
»Dann lesen wir Gulliver eben zusammen!«, sagte Desirée betont fröhlich. »Ich liebe dieses Buch und wette, dass ihr es auch lieben werdet, wenn ihr euch darauf einlasst.«
Die Kinder seufzten. Anna zog den roten Lederband heran, schlug ihn auf und platzierte ihn so, dass ihr Bruder ebenfalls hineinsehen konnte.
»Wir lesen abwechselnd: Ich beginne, dann Anna, dann Theodor, und bestimmt möchte euer Lehrer auch eine Seite lesen, bevor ich wieder übernehme.« Desirée lächelte den Hauslehrer an. Später würde sie Caroline von Trauttmannsberg vorschlagen, die Lektüre über die Woche fortzusetzen, damit sie bei der nächsten Literaturstunde diskutieren konnten. Er würde hier keine ruhige Kugel schieben. Wenn sie sich mit den Kindern abmühen musste, sollte er seinen Anteil daran haben.
Nach den längsten zwei Stunden in Desirées Leben steckte Caroline von Trauttmannsberg den Kopf zur Tür herein und schlug vor, die erste Literatureinheit bei Topfenstrudel und heißer Schokolade zu feiern. Desirée wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, so ausgelaugt war sie von den zähen Versuchen, über das Gelesene zu sprechen.
Auf dem Weg zum Esszimmer versicherte ihr die Gräfin von Trauttmannsberg, wie sehr sie Desirées Bereitschaft zu schätzen wisse. »Ich weiß, was Sie auf sich nehmen«, flüsterte sie. »Und ich bin Ihnen unendlich dankbar. Glauben Sie mir, ich werde mich erkenntlich zeigen.«
Desirée versicherte ihr, dies sei nicht nötig, sie freue sich über das Literaturgespräch - und ärgerte sich sofort über diese anerzogene Lüge. In Wahrheit gab es kaum etwas, das sie weniger reizte. Die letzten zwei Stunden waren eine Tortur für alle gewesen: Die Kinder langweilten sich, der Hauslehrer begegnete Desirée und dem Text mit überlegener Missbilligung - kein Wunder, dass die Kinder keine Begeisterung für Literatur aufbrachten. Trotzdem konnte Desirée nicht begreifen, warum sie diesen magischen Funken nicht entzünden konnte.
Mit einem Mal flammte Widerstand in ihr auf: Sie würde sich nicht geschlagen geben. Schließlich handelte es sich um die Geschwister ihres Schwagers, und die konnte sie nicht zu verwirrten Individuen verkommen lassen, die nur die Naturwissenschaften verehrten. Nein! Diese Kinder würden Bücher lieben lernen! Vielleicht fanden sie in Liliput keine Heimat, aber sie würde mit ihnen durch Welten reisen, die es nur zwischen zwei Buchdeckeln gab. Sie würde mit ihnen im Château d'If leiden, in Troja um Hektor bangen und mit Helena, Lysander und Demetrius eine magische Nacht erleben. Irgendwann würden sie den Hauslehrer anbetteln, mit ihnen zu lesen.
Die Teestunde gestaltete sich angenehm, was vor allem daran lag, dass Anna und Theo mit ihrer Mutter ungezwungen plauderten und es nicht dauernd darum ging, eine Partie an Land zu ziehen. Desirée fand es so gemütlich, dass sie zwei Stück Topfenstrudel aß. Vielleicht belohnte sie sich damit für die Mühsal der Literaturstunde oder nährte ihren neu gefundenen Optimismus. Letztlich war es ihr gleichgültig. Ihre Mutter hätte ihr nie gestattet, in Anwesenheit fremder Menschen solche Mengen zu verdrücken, aber Caroline hatte ihr die zweite Portion aufgenötigt - wohl als Entschädigung für das mangelnde Interesse ihrer Kinder. Nach dem zweiten Stück fühlte sie sich so satt, dass sie sich am liebsten hingelegt hätte. Bernadette hatte sich für fünf Uhr angekündigt, um sie abzuholen. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.