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Muttersein bildet für Frauen auch heute noch die Norm und entsprechend stellt Kinderlosigkeit eine begründungspflichtige Abweichung derselben dar. Diese Tatsache schlägt sich bereits in unserem Sprachgebrauch darüber nieder: Während «Mutterschaft» positiv oder zumindest neutral konnotiert ist, finden sich für Frauen ohne Kind nur unzureichende, weil defizitäre Ersatzbegriffe wie «kinderlos», «fNicht-Mutter» oder «ohne Kind». In neuerer Literatur wird daher der Begriff «kinderfrei» vorgeschlagen. Wobei sich das Empfinden im Abschiedsprozess von einem unerfüllten Kinderwunsch subjektiv von einer anfangs schmerzhaft erlebten «Kinder-losigkeit» zur ressourcenorientierten «Kinder-freiheit» mit Blick auf neu gewonnene Möglichkeiten entwickeln kann. Regula Simon, eine der Fachpersonen des vorliegenden Buches, arbeitet als systemische Beraterin und begleitet Menschen insbesondere beim Abschied vom Kinderwunsch. Sie hat das Wortspiel «OK» geprägt, was meint, «ohne Kind» auch «okay» zu sein - sie spricht damit vielen Frauen (und Männern) aus dem Herzen!
In der klassischen Literatur ist die kinderlose Frau meist mit negativen Stereotypen behaftet: die Hexe, die alte Jungfer, die Hure. Dahingegen wird die aufopferungs- und hingebungsvolle «gute Mutter» glorifiziert und Mutterschaft im Extrem dieses Mythos zur Verkörperung des Weiblichen schlechthin: Frausein wird mit Muttersein gleichgesetzt und (nur) Mutterschaft macht glücklich. Je nach demographischem, kulturellem oder religiösem Kontext bleibt die Frau in dieser Vorstellung bis heute für Fortpflanzung und Soziales verantwortlich.
Dreht man das Rad der Zeit zurück, überliefern archäologische Funde aus vorpatriarchaler Zeit - Ton-Artefakte, die vor ihrer Entdeckung Tausende von Jahren unter der Erde schlummerten - ein ganz anderes Frauenbild. Göttinnen-Figurinen aus Ausgrabungen von Europa bis Sibirien zeugen von Frauen als Lebensspenderin, Fruchtbarkeitsgöttin, Priesterin oder Clan-Oberhaupt. Göttin Artemis beispielsweise repräsentierte als Archetyp Unabhängigkeit und Selbstversorgung. Attribute, die Eigenständigkeit und Ganzheit ohne Mann und Familie ermöglichten. Sie wurde im Gegensatz zu Demeter und Persephone, den beiden mütterlichen Frauentypen, als jungfräuliche Göttin verehrt. Die Künstlerin Margrith Gyr befasst sich seit 20 Jahren mit dem Thema Urweiblichkeit und gestaltet archaische Frauenskulpturen in Anlehnung an frühe Mythologien nach. Die versammelten Ton-Figurationen in diesem Buch stammen von ihr.
Heute gilt die kinderfreie Frau in unserer Gesellschaft längst nicht mehr als alte Jungfer. Dennoch haben Vorurteile ihr gegenüber Bestand. Je nach Kontext und Gegenüber wird sie als egoistisch geschimpft, als beziehungsunfähig und wenig belastbar, als Übriggebliebene, Emanze oder Karrierefrau. In jedem Fall aber muss sie sich erklären. Dass viele Frauen (und Männer) bewusst kinderfrei bleiben und sich mit ungeteiltem Engagement einer sozialen Aufgabe oder einer Berufung verschreiben, die der Gesellschaft zugutekommt, wird dabei außer Acht gelassen. Die Formel kinderlos = egoistisch geht nicht auf. Hanna2, eine der porträtierten Frauen, wollte bewusst keine Kinder und bezeichnet sich dennoch mit großer Selbstverständlichkeit als mütterliche Frau:
«Freunde (...) suchen und schätzen meinen Rat. Das ist durchaus eine Seite an mir, mit der ich meine Mütterlichkeit lebe. Ja, ich würde mich selbst als mütterliche Frau bezeichnen. Diese Qualität gibt es ja ganz unabhängig davon, ob man biologisch Mutter ist. Ich mag, wenn es meinem Umfeld gut geht.»
Angesprochen auf den generalisierten Egoismusverdacht bei Kinderfreiheit kontert Mia:
«Ist nicht gerade Kinderhaben zum Teil sehr egoistisch? Die Haltung, Kinder seien Besitztum ihrer Eltern. All die Erwartungen, die in sie gesteckt werden.»
Mia spricht instrumentelle Gründe an, die bei einem Kinderwunsch bewusst oder unbewusst mitschwingen können. Darin übernehmen Nachkommen eine Funktion: für die Eltern, für die Gesellschaft, für ein Land.
Dr. phil. Diana Baumgarten, Soziologin und ihrerseits wissenschaftliche Assistentin und Lehrbeauftragte am «Gender Studies»-Zentrum der Universität Basel, beschäftigt sich seit langem mit Familiensoziologie. Sie blickt zurück:
«In den westlich geprägten Gesellschaften hatte Kinderbekommen historisch lange vor allem folgende Funktionen: 1) Arbeitskräfte zu generieren, 2) das Alter der Eltern abzusichern, 3) die Weiterführung des Hofes zu gewährleisten und 4) durch Heirat etwaige Vorteile für die ganze Familie (im Sinne eines sozialen Aufstiegs) zu bekommen. Eine gute Ehe war in erster Linie durch das gute Führen der Haushaltung, die Teilung von Arbeit und alltäglicher Mühen und eine zahlreiche Nachkommenschaft gekennzeichnet.»
Heute schwingen bei einem Kinderwunsch natürlich subtilere Intentionen mit. Regula Simon rät den Frauen und Paaren in ihrer Praxis, diese immer auch zu hinterfragen:
«Hinter jedem Wunsch nach Veränderung steckt ein unerfülltes Bedürfnis. Und für jedes Bedürfnis gibt es verschiedene Wege der Erfüllung.»
Denn, so Simon, Gründe für ein Kind können sehr vielseitig sein:
«Eine romantische Vorstellung von Familie; Liebe erleben wollen, von der manche sagen, sie übertreffe alles andere; für jemanden (das Kind) der wichtigste Mensch sein; (...) für ein Wesen sorgen können; ein Kind ins Leben begleiten und aufwachsen sehen; Beobachtung von Freundinnen, die Mütter werden und in dieser Aufgabe aufgehen; dazugehören; keine Außenseiterin sein wollen; seine Werte weitergeben können; eine Aufgabe haben; einen Sinn haben; etwas Gemeinsames aus sich und seinem Partner entstehen lassen (Verkörperung der Liebe); etwas haben, das ganz einem selbst gehört; die Beziehung kitten; Ersatz für den Partner; Bild einer erfolgreichen Existenz; die emotionale Versorgung im Alter.»
Kinder stiften also Aufgabe, Sinn und Gemeinschaft. Kinderlosigkeit hingegen konfrontiert Menschen mit ihrer eigenen Endlichkeit - weil die biologische Linie nicht weitergeht, ist man früh das letzte Glied in der Kette. Das will ausgehalten sein. Umgekehrt wird man in dieser Lesart durch eigene Kinder unsterblich und die Fortpflanzung sichert Zugehörigkeit, Status und die Einbindung in eine Gruppe, was einem Grundbedürfnis von uns Menschen entspricht.
Heute bleibt jede dritte Frau in der Schweiz bewusst oder ungewollt kinderlos und die durchschnittliche Anzahl Kinder, die 1964 noch bei 2,7 Kindern pro Schweizer Familie lag, pendelt sich bei 1,52 ein. Diese Entwicklung generiert Schlagwörter wie «demographische Katastrophe». Dagegen sprechen Statistiken, die belegen, dass die Zahl der Geburten bzw. kinderlosen Frauen immer schon Schwankungen unterlag. Diana Baumgarten führt dazu aus:
«Der Lebensentwurf ohne Kinder war historisch gesehen vermutlich für mehr als ein Drittel der Frauen einer Generation Normalität. Da Kinder zu bekommen bzw. ernähren zu können nur im Rahmen einer Ehe möglich war, jedoch längst nicht alle heiraten durften (z.?B. nicht Knechte und Mägde), führten die Heiratsschranken sowie die soziale Ächtung unehelicher Geburten zu einem beträchtlichen Anteil kinderfreier Frauen. Mit der Herausbildung des Protestantismus hält auch ein Pronatalismus3 Einzug. Insbesondere Lutheraner zeichnen ein abfälliges Bild der . Es gibt Thesen die besagen, dass die deutschsprachige Mutterideologie ein Produkt des Protestantismus ist.»
Als Beispiel staatlich geförderter Mutterschaft sei an das Ehrenkreuz deutscher Frauen, kurz «Mutterkreuz», erinnert, welches kinderreichen Müttern als Pendant zum Kreuz für Soldaten noch 1938 von der NSDAP als Zeichen ihres Einsatzes «von Leib und Leben» gestiftet wurde. Ein Kontrast dazu bildet beispielsweise die heutige in China staatlich propagierte Ein-Kind-Familie.
Mutterschaft wird also von höchster Stelle gefördert oder reglementiert. Frauen mit Kind genießen in dieser Sichtweise durch ihren Mutterstatus natürlicherweise Ansehen und Zugehörigkeit. Sie reihen sich ein in die lange Linie ihrer Ahninnen. Denn sie entsprechen der Norm und dem von vielen Staaten geschützten und gesellschaftlich vorgegebenen Lebensplan «Love, Marriage, Baby Carriage»4 (zu Deutsch: Liebe, Heirat, Kinderwagen). Kinderlose Frauen hingegen gehörten zu allen Zeiten einer Minderheit an. Nischen von Zugehörigkeit, Austausch und Gemeinschaft müssen von ihnen aktiv gesucht werden.
Der Stellenwert des Lebensentwurfs mit Kind hat sich im Laufe der Zeit nicht verändert, wie die Zahlen des Schweizer Bundesamtes für Statistik zeigen - rund 70?% der Schweizer Frauen im Alter von 25 bis 80 Jahren sind Mütter und 60?% der (bis dato) kinderlosen Frauen und Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren wünschen sich Kinder. Dahingegen gewandelt hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten das Durchschnittsalter werdender Eltern: Während die Zahl junger...
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