Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Als ich drei Jahre alt war, wollte ich die Möse meiner Mutter sehen. Schockiert Sie das? Meine Mutter jedenfalls war schockiert, als sie aufwachte und ihr jüngstes Kind ihr den Kopf zwischen die Beine gesteckt hatte und sie betrachtete. Da hat sie mir zum ersten Mal eine runtergehauen. Heute glaube ich, dass ich mich nicht so sehr für ihre Möse interessierte, sondern wieder in sie hineinkriechen wollte. Vielleicht habe ich damals schon geahnt, was mich hier draußen erwartet. Das ist meine erste deutliche Erinnerung an meine Mutter.« Sie lässt die Gardine sinken und dreht sich um, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. Die Psychiaterin sieht ihr in die Augen, ohne zu blinzeln. Katzen. Machen es so. Der Gedanke blitzt auf und verschwindet. Sie wendet sich wieder dem Fenster zu.
»Mama hat mich Phoenix genannt nach der Stadt in Arizona. Das ist in unserer Familie so üblich, die Kinder nach Orten zu taufen, und so merkwürdig ist das eigentlich nicht, wenn Sie bedenken, wie viele Orte nach Menschen benannt worden sind. Unsere Namen stammen von Orten, an denen wir nie gewesen sind und wo wir eigentlich auch nicht hinwollen. Alles hat mit meiner Urgroßmutter TaTa Hassee angefangen - nach der Stadt in Florida. Ihr Vater mochte den Klang. Tallahassee. Meiner Großmutter gab sie dann den Namen Cicero, vermutlich aus demselben Grund. Das einzige, wohin sie jemals geriet, war außer sich. Das muss gewesen sein, kurz nachdem sie meiner Mutter den Namen Villanova gegeben hatte, Sie wissen schon, wegen Pennsylvania. Sie ist nie westlich des Mississippi gewesen, es sei denn, Sie lassen St. Louis gelten. Was ich nicht tue. Meine Schwester Savannah verbringt den Winter immer in Arizona - in Scottsdale, das ist gar nicht so weit weg von Phoenix. Ich dagegen habe für die Wüste nichts übrig, aber ich habe mal einen langen, verregneten Februar in den Armen einer rothaarigen Frau aus Georgia verbracht - aus Atlanta, wenn ich mich richtig erinnere. Wir waren auf dem College. Wir waren nicht ineinander verliebt.«
Unten auf der Straße rumpelt ein Bus auf die Haltestelle zu. Sie könnte zur Tür hinausgehen, die Treppe hinunter, die Straße überqueren und dann verschwinden. Der Bus windet sich durch vornehme und heruntergekommene Viertel. Sie steigt im Tenderloin aus und stolpert über einen kaputten Bordstein. Sie hält sich an einem schiefen, verrosteten Schild fest: Absolutes Halteverbot. Sie steigt eine Treppe mit abgewetztem Läufer und herausstehenden Nägeln hinauf, die wie Samenkörner aussehen. Ein kleiner Mann mit trüben Augen und verschlossenem Blick vermietet ihr wochenweise ein Zimmer. Sie redet mit niemandem, und niemand redet mit ihr. Oben in der Market Street kauft sie in einem Hi-Fi-Laden voller Billigangebote ein blaues Transistorradio. Wenn die Batterien leer sind, holt sie sich neue im Schnapsladen an der Ecke, wo der Ladenbesitzer auf einem Barhocker hinter Gittern sitzt und Flaschenbier und einzelne Zigaretten herausgibt. »'n Dime«, sagt er. »'n Dime pro Stück.« Er ist ein farbloser Mann, sehr dick; niemand wagt, ihn nach seinem Namen zu fragen. Wie alle anderen nähert auch sie sich vorsichtig seinem Thron, hält ihm mit bebender Hand lappige Dollarscheine hin und lauert auf das Wechselgeld. Zwei Dimes und drei Pennies. Sie nimmt einen Job in einem Diner zwei Häuser neben dem Hotel an, trägt eine rosa Polyesterschürze und klemmt sich einen Bleistift hinter das rechte Ohr. Auf ihrem Namensschild steht: Hallo, ich heiße Betsy oder Dolly oder Marge; es stammt von ihrer Vorgängerin. Sie hat es unter der Kasse auf der Theke entdeckt. Sie lässt alle in dem Glauben, es sei Schicksal, dass sie denselben Namen hat. Ihre Welt schrumpft auf eine kurze Häuserzeile zu beiden Seiten der Straße, wo man sich die Haare schneiden, die Zukunft weissagen, sich eine Mahlzeit vorsetzen oder die wildesten Phantasien schüren lassen kann - Preis Verhandlungssache. Die Vergangenheit holt sie dort nicht ein. Irgendwann wird sie ihren richtigen Namen vergessen. Sie wird das Weinen verlernen. Wieder einmal. Dort, wo sie hingeht, wird sie für solche Dinge keine Verwendung haben.
Der Bus unten auf der Straße erbebt und fährt wieder an.
»Phoenix?« Beim Klang ihres Namens konzentriert sie sich wieder auf die Psychiaterin, die von Sonnenlicht umrahmt ist; goldgesäumte Brauntöne. Das sind Teddy Graysons Farben: eine elegante, muskatfarbene Frau mit massiven Goldreifen, die ihren Arm hochmarschieren und niemals klimpern. Versicherte Verrücktheit macht sich bezahlt. »Sie haben mir von den Namen in Ihrer Familie erzählt. Was halten Sie von Ihrem eigenen Namen?«
»Mama hätte etwas Besseres als Arizona einfallen können. Das einzig wirklich Interessante an diesem Ort sind wahrscheinlich die Immortalisten. Zwei Männer und eine Frau. Ich habe Bilder von ihnen gesehen; sie müssen jetzt so um die Fünfzig sein. Sie haben vor, ewig zu leben; dieselben Körper, dieselben Gehirne, die immer weiter rattern, aus Angst, vermute ich, oder weil das ihre persönliche Vorstellung von Hölle ist oder vielleicht sogar von Erlösung. Ich beneide sie nicht. Ich stelle mir nur immer wieder dieselbe Frage: Wenn das wirklich alles ist, wozu strampeln wir uns dann überhaupt ab?«
Vor dem Fenster rekelt sich die Stadt kühl und lässig, eine überteuerte Hure, die immer noch von ihrem Aussehen lebt, wenngleich nicht mehr lange; sie hofft, dass die Fremden keinen Makel entdecken und die Stammkunden sich noch gut genug daran erinnern, wie sie einmal war, um ihr zu verzeihen, was sie geworden ist. Die Stadt. The City. Die hiesigen Zeitungen schreiben sie immer so, mit großem Anfangsbuchstaben, als ob San Francisco die einzige Stadt der Welt wäre. Die Leute hier glauben das auch. Stimmt aber nicht.
Phoenix Bay ist schon über ein halbes Jahrzehnt hier - nach kalifornischen Maßstäben eine lange Zeit - und all dem gegenüber blind geworden. Häuser klammern sich wie bunte Muscheln an die Hügel; Menschen in Lumpen lungern auf den Bürgersteigen. Wenn man lange genug hier lebt, sieht man sie nicht mehr, bis jemand auf sie hinweist, auf die Muscheln oder die Menschen. Phoenix ist wegen einer Frau hierher gezogen, was sonst. Jinx. Steckte nicht hinter jeder der dümmsten und klügsten Entscheidungen ihres Lebens eine Frau? Sie ist ein dutzendmal der Liebe wegen umgezogen, in Städte, Häuser, Leben hinein und wieder hinaus. An all ihre Adressen aus den vergangenen siebzehn Jahren kann sie sich nicht erinnern; all die Namen und Gesichter der Frauen, mit denen sie zusammengelebt hat, kann sie nicht vergessen. Und jetzt zieht sie wieder um. Rennie Johnson, der einzige Freund, der ihr überhaupt noch geblieben ist, hatte gesagt: »Wir brauchen einander.« Vielleicht. Was von ihrem früheren Leben noch übrig ist, befindet sich auf der Ladefläche des Jeeps, den sie auf der Busspur auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt hat: drei Kisten; ein Müllsack mit zwei Zwerg-Cannabispflanzen, beide weiblich und von der Sorte, die sich am besten für die Wohnung eignet und die ohne Befruchtung starken Stoff produziert, sowie eine kleine Hydrokulturwanne. Hydrokultur hat die Dopezüchter in der Stadt gerettet. Die Pflanzen sind am Leben, aber nur gerade eben, wie Phoenix selbst. Fast alles andere hat Mr. Rizzo, der Trödler, bekommen. Sie hat ihm erzählt, dass sie nach Mauritius ginge, weil ihr kein anderer Ort einfiel. Er gab ihr sechzehn Fünfzigdollarscheine. Nicht genug für ein ganzes Leben, erklärte sie ihm. Er hatte nur die Schultern gezuckt. Nicht genug.
Phoenix Bays Leben wimmelt von nicht genug. Nicht gut genug. Nicht klug genug. Nicht hübsch genug. Nicht lesbisch genug, was zum Teufel das auch immer hatte heißen sollen. Die zornigen jungen Frauen, mit denen sie damals zusammen gewesen war, nach ihrem Aufbruch ins lesbische Leben, fort aus dem Haus ihrer Mutter und in die Welt hinaus, hatten ihr das dauernd vorgeworfen. Lesbisch genug, um deine Geliebte in mein Bett zu locken, hatte Phoenix dann immer gedacht, sich aber nie zu sagen getraut. Nun, dafür jedenfalls war sie schon immer gut genug gewesen. Selbst Jinx hatte das an jenem letzten Abend zugegeben und den Kopf hängen lassen: »Der Sex war wunderbar, Phoenix, aber das war nicht genug.« Nach Jeopardy! hatte Jinx die Hausschlüssel auf den Küchentisch geworfen und war nach Sonoma County verschwunden, um sich in die Arme einer Frau zu werfen, deren Namen Phoenix sich einfach nicht merken kann. Pansy? Patsy? Irgendwas in der Art. Nicht dass das wichtig wäre. Jetzt verschwindet auch Phoenix. Manche Dinge ändern sich eben nie.
Von der dunkler werdenden Scheibe starrt eine Frau finster zurück, die riesigen Augen umschattet. Versagerin. Sie kann den Blick nicht abwenden, ist fasziniert von ihrem Schlüsselbein, das mager und kantig hervorsticht, von ihrem Hemd, das an ihr schlottert. Sie stellt sich vor, dass sie die Haut verliert. So fängt es an, so ist das also, wenn man verschwindet. Vorige Woche hatte sie gedacht, dass sie sterben würde; an Krebs vielleicht oder einer exotischen Tropenkrankheit, die von Spinnen mit scharfen, infizierten Beißwerkzeugen übertragen wird. Doch in ihr wuchert kein Krebsgeschwür, und sie war auch nicht in den Tropen; hier gibt es solche Spinnen nicht. Die Ärztin, eine hübsche Frau namens Madonna, wie die Mutter Gottes, nicht wie die Popsängerin, hatte Phoenix mitleidig oder vielleicht mitfühlend betrachtet. »Was haben Sie gegessen?« Sauvignon blanc und Oreo-Schokokekse mit Cremefüllung war nicht die richtige Antwort gewesen. Die Ärztin hatte die Stirn gerunzelt. Der Popsängerin wäre das egal gewesen; die Mutter Gottes war den Weg aller toten Engel gegangen.
»Was ist mit dem Baum...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.