DOPPELSCHNARCH UND DAS TOPGEHEIMNIS
Unser großer Flieger schwebt mühelos hoch oben am grenzenlosen blauen Himmel, und unter uns ist außer einem unendlichen Wolkenmeer nichts anderes sichtbar . nicht mal ein kleines UFO oder so etwas Ähnliches. Wir fliegen schon seit fünf Stunden, aber ich habe das Gefühl, dass wir uns gar nicht bewegen, denn alles um uns sieht dauernd gleich aus. Nur die Monitore, die an der Decke befestigt sind, zeigen hin und wieder an, wo wir uns gerade befinden . mit neunhundert Kilometern pro Stunde düsen wir auf zwölftausend Meter über den riesigen Atlantischen Ozean. Wir sind unterwegs in ein fernes Land und haben noch den gleich langen Weg vor uns, also wie gehabt noch ungefähr weitere fünf Stunden Flug. Und wir sitzen, sitzen und sitzen weiterhin geduldig, bis irgendwann einmal der Hintern platt wird.
In der Kabine ist es still, abgesehen von den üblichen Geräuschen, die im Flugzeug allgemein hörbar sind. Alle schlafen. Nur die Piloten, die Flugbegleiterinnen und natürlich auch ich sind wach. Ich fühle mich momentan fit und frisch wie ein Turnschuh, und vor lauter Freude könnte ich Purzelbäume schlagen. Doch diese restliche Flugzeit brauche ich gerade, um mein Versprechen zu erfüllen, welches ich meiner besten Freundin Lilly gegeben habe.
Vor zwei Tagen war Weihnachten. Lilly hatte mir ihr Geschenk überreicht, mit dem Wunsch, dass ich all unsere bunt gemischten Geschichten aufs Papier bringen soll . so wie es war, ganz ohne Schmeichelei und Schöntuerei. Das ist allerdings leichter gesagt als getan! Die letzten Wochen verliefen ziemlich chaotisch. Am besten jedoch, so scheint es mir, erzähle ich mal ganz von Anfang an.
Das Telefon meldet sich - schrill tönend, grell und quälend. Ich versuche bewusst diesen schrillen Klang zu überhören, ziehe mir die Decke über den Kopf und warte . und warte immer noch .
"Hör endlich aaauuufff, du Bimmel-Bammel-Blödel! Meine Ohren explodieren gleich und mein Gehirn übrigens auch mit! Nö, ich stehe nicht auf!", brülle ich das Gerät an, als würde es mich verstehen. "Mamaaaa! Telefooon!" Ich fühle mich noch sehr müde, drehe mich auf den Bauch und stecke den Kopf unter mein federleichtes Kissen. Nach kurzer Zeit herrscht wieder himmlische Stille. "Na bitte, warum nicht gleich so?" Wieder friedlich gesinnt, schließe ich die Augen, entspanne meinen noch müden Körper (wovon ich so entkräftet bin, weiß ich allerdings auch nicht) und rufe die Erinnerung an meinem Traum mit seinen schönen, magischen Bildern retour .
Manchmal kann ich mich selbst nicht verstehen!?! Jana, meine ältere Schwester, kann mich ebenso wenig begreifen. Sie sagt, ich sei hochkompliziert!? Aber Lilly weiß ganz genau, wie es mir geht, weil sie sich auch mit solchen lästigen Empfindungen herumschlagen muss. Ich gebe hier nur ein Beispiel von vielen: Mein komischer Schlaf-Wach-Rhythmus ist eine Sache für sich. Dieser verursacht nur Ärger! Vielleicht geht es euch auch so wie mir . Am Abend meine Schlafenszeit einzuhalten, ist für mich und besonders für meine Eltern mit ewigen Diskussionen verbunden. Denn ich bin selten abends müde. Meine blühende Fantasie sprudelt über von unmöglichsten Ideen, mit denen ich ständig versuche, Mama und Papa auszutricksen, nur damit ich nicht schlafen gehen muss. Leider scheitern all meine Bemühungen gleich, nachdem ich sie vorgeführt habe. Meine Eltern sagen, dass die Kinder in meinem Alter mindestens zehn Stunden Schlaf brauchen und auch, dass die Kinder im Schlaf wachsen. Ich bin jetzt zehn Jahre alt. Bedeutet das etwa, wenn ich elf werde, brauche ich auch elf Stunden Schlaf und so weiter? Ungefähr wie Jana-Sofia, meine große Schwester. Sie ist inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt und kann rund um die Uhr schlafen, groß ist sie trotzdem nicht geworden.
Es könnte auch so gewesen sein, dass Mama und Papa früher, als sie selbst Kinder waren, genug Zeit fürs Schlafen fanden, allein deshalb, weil sie vielleicht Langeweile hatten!?! Nur hatten sie das? Ich frage sie bei Gelegenheit. Jedenfalls gibt es heutzutage so viele schöne und coole Sachen, dass man gar keine Lust bekommt, nur Däumchen zu drehen und endlos Schäfchen zu zählen. Und wie kann ich, bitte schön, mehr Zeit zum Spielen gewinnen? Im Grunde ganz einfach! Indem ich weniger schlafe! Deswegen lasse ich nicht locker und bohre immer wieder hartnäckig nach. Wenn ich dann mit meinen Ausreden nicht durchkomme, muss ich widerwillig ins Bett gehen. Das einzig Schöne am Zubettgehen besteht darin, dass meine Decke so kuschelweich ist und mein Lieblingsstofftier Eule Ella jeden Abend treu auf mich wartet. Liege ich dann gezwungenermaßen im Bett, fallen mir plötzlich die Augen von allein zu, trotz meines heftigen Widerstands. Und genau das verstehe ich eben nicht . und das ärgert mich gewaltig! Ich frage mich ernsthaft, ob die anderen Kinder in meinem Alter auch das Gleiche durchmachen müssen.
Aber das Verflixte an der ganzen Sache ist, dass ich dann jeden Morgen auch meine nicht in Fahrt kommenden Startschwierigkeiten habe. Mich vom Bett zu trennen, ist immer mit enormer Müh und Not verbunden. Und wiederum fallen mir die etlichen Ausreden ein, um länger mit meinem Kissen und Eule Ella zu kuscheln. Später, nachdem ich sicher dreimal vergeblich Anlauf genommen habe, schaffe ich es endlich aufzustehen und trödele dann weiterhin ewig herum. Total crazy! Aber jetzt wieder zurück zum besagten Störenfried Telefon.
Nachdem das schrill tönende Gebimmel endlich verstummt ist, genieße ich jetzt die wiedererlangte Ruhe und tauche wieder in meine Fantasiewelt ein: "Es ist Sommer - oder genauer gesagt - Sommerferien. Also keine Hausaufgaben! Keine nervigen Mitschüler! Ich jage fröhlich mit meinem knuddeligen Kätzchen den Schmetterlingen in unserem Garten hinterher. Als wir beide - das Kätzchen und ich - vom vielen Springen und Spielen aus der Puste kommen, legen wir uns auf den frisch gemähten Rasen. Ich streichle das weiche, geschmeidige Katzenfell. Die Luft duftet herrlich nach Blumen und Kuchen. Mein Blick ist nach oben gerichtet. Ich beobachte völlig vertieft eine große weiße Wolke am Himmel. Durch ihre Bewegung nimmt die Wolke die Gestalt eines fliegenden Delfins an. Wie schön ist das denn? Ich liiiebe Delfine! Kurz darauf verwandelt sich die Wolke in eine Spinne. Bäh, die mag ich gar nicht! Trotzdem bin ich fasziniert von diesem Wolkentanz. Das Kätzchen liegt wohlig schnurrend neben meinem Kopf und berührt mit den Pfötchen sanft mein Gesicht. Ich spüre, wie meine Augen immer schwerer werden. Die Farben vermischen sich, die Düfte werden zunehmend schwächer, und die Wolke verblasst .
Und dann plötzlich . es klingelt erneut. Mit voller Lautstärke. Fortissimo! Aaahh! In diesem Moment weiß ich, es gibt nichts Fieseres, als von einem lärmenden Telefon geweckt zu werden. Ich erschrecke heftig und schimpfe laut: "Was soll das jetzt? Schon wieder! So ein Stress mitten in der Nacht!" Ich halte mir die Ohren mit den Händen fest zu und überlege angestrengt, was ich als Nächstes mache: entweder aufstehen oder doch lieber im Bett liegen bleiben. Ich entscheide mich für die bequemere Möglichkeit. liegen zu bleiben.
Pech gehabt! Das unerträgliche Gebimmel hört diesmal nicht mehr auf. Nicht gerade in bester Laune schleudere ich die Bettdecke heftig von mir weg, wobei die gute, alte zerrupfte Eule Ella irritiert mitfliegt . geradewegs über den Nachttisch . und anschließend direkt auf meiner Schultasche landet. Plumps! Weit und breit keine Spur mehr von dem süßen, kuscheligen Kätzchen im Traum . selbst der leckere Kuchenduft ist plötzlich wie fortgeblasen! Mit einer schwungvollen Bewegung drehe ich mich zur Nachttischlampe, schalte das Licht an . und das kann auch nur mir passieren! Dabei rolle ich aus dem warmen Bett und plumpse auf den kalten Boden. Autsch! Das war echt keine weiche Landung! Schnell massiere ich mir meine schmerzenden Stellen am Knie und an der Schulter, schleppe mich durch die noch dunkle Wohnung, denn ich finde in meiner aktuellen Verfassung den Lichtschalter der vollerhellenden Wohnzimmerleuchte nicht! Auf dem lärmerlösenden Weg zum Telefon stolpere ich im Wohnzimmer über einen Gegenstand. "Ups, dies könnte mein Zauberstab gewesen sein, mit dem ich gestern gespielt habe", bemerke ich völlig entnervt. "Noch mal aua! Tausendmal blöd! Und jetzt friere ich auch noch! Ich bin nun also vollends bedient!", hadere ich innerlich weiter.
Logischerweise ist es ungemütlich kalt, denn jetzt ist es Winter, genau gesagt Mitte Dezember. Humpelnd erreiche ich endlich die Basisstation des Telefons. Mit einer hastigen Bewegung greife ich nach dem Hörer.
"Hallo, hier ist der Anrufbeantworter von Familie Kunterbunter, Sie rufen außerhalb unserer Gesprächszeiten an. Versuchen Sie es morgen nochmals", murmle ich verärgert ins Telefon.
"Guten Morgen, Frau Doppelschnarch .", zwitschert eine Stimme frohgelaunt von der anderen Seite: ". denke bloß nicht daran, wieder ins Bett zu gehen. Falls du noch schlafwandelnd durch die Wohnung wackelst . als aufklärende Info, es ist schon halb sieben, somit Zeit zum Aufstehen! Ich muss dir etwas ganz Besonderes sagen, und es ist sehr wichtig!", plappert es im Eiltempo am anderen Ende der Telefonleitung. Die Stimme gehört Lilly. Und Lilly ist meine beste Freundin. Sie ist sechs Monate und fünfzehn Tage jünger als ich, einen Kopf kleiner und ansonsten ziemlich das Gegenteil von mir.
"So früh am Morgen und so viele...