Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Kein Mensch hörte mehr Jazz. Kein Mensch benutzte mehr CDs. Falk Sebastiani ging jeden zweiten Samstag im Monat nach dem Frühstück von seiner Wohnung in der Lindwurmstraße zum Kaufhaus Beck am Marienplatz und fuhr mit der schmalen Rolltreppe in die Musikabteilung im fünften Stock. Hier trafen die Übriggebliebenen aufeinander und steckten die Ohren unter die Kopfhörer, um in die Neuerscheinungen hineinzuhören, während der Rest der Stadt in den Etagen darunter Designermode oder teure Parfüms oder handgeschöpftes Briefpapier kaufte. Der Chefverkäufer legte ihm regelmäßig einige Titel beiseite, von denen er glaubte, sie könnten ihm gefallen.
Falk stand vor einem der abgegriffenen CD-Player und skippte durch das neue Album von Gwilym Simcock, einem großartigen Pianisten aus Wales. Neben ihm in der Klassikabteilung arbeitete sich eine attraktive Mittdreißigerin im engen Kostüm durch die Mozartsonaten. Er betrachtete sie und stellte sich vor, sie anzusprechen. Er würde es nicht tun.
Der Mann aus Wales intonierte »Cry Me a River«, als Falk die gedämpften Schläge hörte. Die Frau und die anderen Kunden drehten sich mit ungläubigen Blicken in Richtung Rolltreppe um. Falk wusste sofort, dass es Schüsse waren. Er riss den Kopfhörer herunter. Eine Explosion in einem der unteren Stockwerke erschütterte das Gebäude. Eine Staubwolke quoll wie ein sich aufblähender Ballon durch das schmale Treppenhaus zu ihnen herauf. Er hörte Schreie und Schüsse aus automatischen Waffen. Es roch scharf und verbrannt, nach was, wusste er nicht. Um ihn herum blickten sich die Menschen mit fragendem Entsetzen an und blieben stumm. Die Rolltreppe beförderte einen Toten herauf. Der Körper strandete mit dem Gesicht nach unten am Ende der Treppe und zuckte im Takt der unter ihm durchlaufenden Stufensegmente.
Falk presste seine Hand auf die rechte Hüfte und spürte das Griffstück der Walther durch den Stoff der Jacke. Er streifte den kleinen olivgrünen Rucksack mit den Einkäufen ab und nickte der Frau im Kostüm zu. Ein ruhiges, vertrauenerweckendes Nicken. Die Frau schaute ihn fassungslos an.
»Gehen Sie nach hinten«, sagte er und deutete weg von der Rolltreppe. Die Frau ging.
Falks Magen verkrampfte zu einer dichten bleiernen Masse. Er spürte sein Gehirn unter der Schädeldecke pulsieren. Mit jedem Blutstoß des Herzens fuhr eine kleine hydraulische Welle durch seinen Kopf. Kurz schloss er die Augen und öffnete sie wieder. Es war alles noch da. Der Geschmack des mehligen Staubs, der Brandgeruch, die Schüsse und die Schreie von unten, das Klack-klack, wenn die Rolltreppenstufen die Schuhe des Toten erfassten und seine Fußspitzen nach oben mitnahmen, bis sie zurückschnellten. Klack-klack.
Dann fiel einfach alles von ihm ab, was zum Überleben nicht gebraucht wurde. Alles Unwichtige existierte nicht mehr. Es gab kein Gestern und kein Morgen. Sein Puls raste, und trotzdem war er vollkommen ruhig, als gehörte sein Herz nicht zu ihm. Seine Bewegungen wurden geschmeidig und schnell und mühelos. Geduckt lief er durch den Gang zwischen den CD-Regalen hindurch auf die hochfahrende Rolltreppe zu und ging hinter einem Stapel mit Sonderangebots-Samplern in Deckung.
»Giants of Jazz«.
Der Tote auf der Rolltreppe war zwei Meter entfernt. Er war Mitte fünfzig, gepflegt, gut aussehend und teuer gekleidet. Er hatte keine sichtbaren Verletzungen. Ein milchiger Speichelfaden hing aus seinem Mundwinkel. Seine Augen waren geschlossen. Falk betrachtete den Mann und fühlte nichts. Der Mann war nicht mehr wichtig. Jetzt waren nur die Lebenden wichtig.
Seit dem 22. Juli 2016 trug Kriminaloberkommissar Falk Sebastiani auch dann eine Pistole bei sich, wenn er nicht im Dienst war. Die schlanke siebenschüssige Walther PPS im Kaliber .40 S&W hatte er privat angeschafft. Sie steckte in einem unauffälligen Hosenbundholster. Er zog die Waffe und beobachtete über die Leiche des Mannes hinweg den Rolltreppenaufgang. Er wartete. Er hatte schon lange einen Pakt mit sich geschlossen: Er würde nicht zögern. Er hatte alles genau überlegt.
Aus seinem Versteck sah er, wie zwei junge Männer und eine Frau die Rolltreppe betraten. Die arabisch aussehenden Männer trugen hellgraue Kurzmäntel, die Frau ein geblümtes Kleid und eine gefälschte Louis-Vuitton-Handtasche. Falk erkannte die Verkleidung sofort. Die Mäntel der Männer waren identisch, ladenneu, etwas zu groß, die Stoffe billig. Das Kleid der Frau war für die kühlen Spätsommertemperaturen viel zu dünn. Trotzdem hatte es die Gruppe ohne aufzufallen in das Kaufhaus geschafft. Die Männer hielten ihre Kalaschnikows mit abgeklappten Schulterstützen im Hüftanschlag, wobei einer nach hinten sicherte, der andere nach vorne. Die Frau in der Mitte hatte europäische Gesichtszüge. Mit der rechten Hand umklammerte sie eine Handgranate. Falk konnte nicht erkennen, ob der Sicherungsstift bereits herausgezogen war. Die drei redeten Englisch und Arabisch durcheinander und schienen uneins, wie sie weiter vorgehen sollten. Das Englisch der Frau hatte einen deutschen Akzent.
Gleich sind sie bei ihm. Jetzt. Eine Sekunde bevor die drei das Ende der Rolltreppe mit dem Toten erreichen, richtet Falk sich auf, macht einen seitlichen Schritt nach rechts aus seiner Deckung heraus, hebt die Walther, legt an, alles in einer flüssigen Bewegung. Der vordere der Männer fängt seinen Blick auf. In diesem Augenblick weiß Falk, dass gar nichts so sein wird, wie er es sich zuvor überlegt hat. Niemand hat ihn gezwungen, hier zu stehen. Es ist sein freier Wille. Falk schießt dem vorderen Mann aus gut fünf Metern Entfernung in den Mund. Noch bevor er tot zusammengebrochen ist, gibt Falk alternierend jeweils zwei Schüsse auf die Handgranatenwerferin und den zweiten Mann ab. Die Körper der drei sacken stumm übereinander und fallen die Rolltreppe hinunter. Die Hand der Frau öffnet sich. Mit einem hohlen Poltern fällt die Granate einige Stufen tiefer. Sie explodiert und reißt ein Loch in die Rolltreppe, die mit einem metallischen Kreischen stehen bleibt. Trümmer schleudern gegen die holzvertäfelte Decke und stürzen auf den Boden zurück.
In Falks Ohren fiept es. Auf dem Stockwerk hupt ein Alarm los. Mit wenigen Schritten springt er hinunter zu den Attentätern. Die Ventile der Sprinkleranlage haben sich punktgenau über ihren Körpern geöffnet. Ein grotesker Platzregen aus Löschwasser verdünnt ihr Blut zu verlorenem Wein. Der zweite Mann lebt noch. Die Explosion hat ihm den linken Arm abgerissen. Irre vor Schock und taub vom Knalltrauma starrt er Falk an. Es ist kein Hass in seinem Blick. Seine rechte Hand tastet nach einer der Kalaschnikows. Falk kneift die Augen zusammen und schießt ihm ins Herz. Kein Arzt könnte dem jungen Mann mehr helfen, doch Falk weiß in diesem Moment nicht, ob er ihn einfach töten oder in einem Akt selbstgerechter Gnade von seinem Leid erlösen will.
Falk Sebastiani weiß nichts.
Sein Kopf ist leer. Er bläst die Luft aus den Backen wie jemand, der es kurz vor Ladenschluss noch zum Bäcker schafft, um einen Laib Brot zu kaufen. Im Lauf der Walther steckt noch eine Patrone. Mit der Waffe im Anschlag sucht er zwischen den Verletzten und Toten die Stockwerke nach weiteren Verdächtigen ab. Doch die Attentäter von München leben nicht mehr.
Amaq, die Nachrichtenagentur des sogenannten Islamischen Staates, dem schon vor zwei Jahren sein Territorium abhandengekommen war, verbreitete die Meldung, Ibrahim Abbalas, Muhamad Tarik Samir und Iris Kubkureit seien Soldaten des IS gewesen. Der schmächtige Teenager Abbalas war vor zehn Monaten als Bootsflüchtling aus Libyen über Italien nach Deutschland gekommen. Tarik Samir war in Augsburg geboren. Seine Eltern waren marokkanische Einwanderer. Seine Ausbildung als Grafiker in München hatte er eine Woche vor dem Anschlag abgebrochen. Die Medizinstudentin Iris Kubkureit war vor anderthalb Jahren zu einem Friedensmarsch von Dresden nach Aleppo aufgebrochen. Sie hatte es zu Fuß in die dreitausendzweihundert Kilometer entfernte Stadt geschafft und sich dort der Hilfsorganisation »Liebe ohne Grenzen« angeschlossen. Die Bilder von der jungen Idealistin mit den brünetten Locken waren durch die Medien gegangen. Kubkureits Tagebuch, ein mädchenhaftes Poesiealbum mit goldenem Schloss, erzählte von ihrer Arbeit im Al-Raja'a-Hospital. Es erzählte vom Kampf um Menschlichkeit in einem Krieg, der keine Regeln befolgte und den Einwohnern der Stadt bei lebendigem Leib den Rest ihrer Würde aus der Seele schnitt. Es erzählte von den Tränen, die den Blick der Frau so sehr trübten, dass sie den OP-Saal verlassen musste, in dem der Chirurg einem sechsjährigen Jungen gerade das rechte Bein amputierte. In immer verzweifelteren, dann brutalen Worten beschrieb sie, wie sie den Glauben an die Liebe verlor und ihren Hass entdeckte. Ihr pinkfarbenes Büchlein war eine Chronik der Schubumkehr aller Gefühle. Hinein, hinab in die endgültige Traurigkeit.
Dann verschwand Iris Kubkureit. Ihr Buch schwieg. Niemand außer ihr selbst wusste, wo sie sich bis zu ihrer Freilassung zwei Monate später aufgehalten hatte. Sie sei entführt worden, und die Bundesregierung habe ein Lösegeld gezahlt, mutmaßten die Medien. Das blieb wie üblich unbestätigt, doch Kubkureit wirkte nach ihrer Rückkehr wie der ausgemergelte Beweis für ein unbestimmtes Martyrium in den Händen anonymer Kriegsgewinnler, die mit dem Kidnapping von NGO-Mitarbeitern ihren Schnitt machten. Zurück in Deutschland brach sie ihr Studium ab und ging nach München. Dort empfingen die Bürger der Stadt die Flüchtlinge am Bahnhof mit Plüschtieren und offenen Armen.
Iris Kubkureit verachtete die Menschen mit ihren bunten Willkommens-Transparenten. Sie berauschten sich an ihrer billig erfüllten Sehnsucht, dem Unsinn der Welt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.