Kapitel 2
Die Fahrt vom Kölner zum Frankfurter Hauptbahnhof dauerte mit dem ICE in der Regel nicht viel länger als eine Stunde. Diesmal fühlte es sich bereits nach zwanzig Minuten an wie eine Ewigkeit. Zu allem Überfluss hatte der Zug wenige Meter nach der Ausfahrt wegen eines Signalfehlers angehalten und wartete seitdem auf die Erlaubnis zur Weiterfahrt.
Marc Davids saß an einem Fensterplatz im Großraum und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Die letzten Minuten hatte er versucht, die Lautstärke seiner InEar-Kopfhörer dem stetig wachsenden Lärmpegel anzupassen, bis sie schließlich einen Punkt erreichte, an dem selbst ihm Pearl Jam zu laut wurden.
Er hasste Bahnfahren. Nein, das war falsch. Er mochte das beschauliche Dahingleiten durch die von Wolken und Regenschauern dämmrige Herbstlandschaft. Leider ließ dieses Dahingleiten bisher auf sich warten. Was er hasste, waren die Begleitumstände des Bahnfahrens. Nicht dass er die Dienste der Deutschen Bahn besonders oft in Anspruch nahm, aber wenn, konnte er sich sicher sein, dass seine Mitreisenden es zu einem unvergesslichen Erlebnis machen würden.
Lautstärke war dabei das geringste Problem. Sie auszublenden gelang ihm heute dennoch mehr schlecht als recht. Eine attraktive Brünette auf der anderen Seite des Gangs nahm einen Anruf entgegen. Ihre Stimme war durchdringend und pendelte zwischen aufgesetztem Marketingsprech und übertriebener Professionalität einerseits und völlig unpassendem hohem Gelächter andererseits. Nach einigen Minuten des Zuhörens war Marc überzeugt, dass die Agentur der Frau den Pitch nicht nur aufgrund fehlender PowerPoint-Slides nicht gewonnen hatte.
Der Zug ruckte und fuhr an. Endlich. Marc blickte auf die Uhr seines Smartphones. Sie hatten bereits eine halbe Stunde verloren. Er schaltete in den Porträtmodus der Handykamera und betrachtete sich auf dem Display. Die Augenringe waren tiefer geworden. Nicht so schlimm wie im Frühjahr, aber erkennbar. Er war dazu übergegangen, sie mit etwas Concealer zu kaschieren, was an diesem Morgen nur bedingt funktionierte. Zoé hatte ihn auf die Idee gebracht, und als er sich einen besorgt und zum ersten Mal aufgetragen hatte, lag nach der Mittagspause ein neuer Stift auf seinem Schreibtisch. Diesmal mit dem passenden Hautton. Zoé hatte sich jeden Kommentar verkniffen.
Marc war fünfundvierzig, hatte volles dunkles Haar, das nur an den kurz rasierten Seiten einen grauen Schimmer bekam, und war, wenn man seinen Ex-Freundinnen Glauben schenken konnte, ziemlich attraktiv. Sein Fünftagebart war gepflegt, auch seine körperliche Fitness war für sein Alter außergewöhnlich gut. Von alldem sah er auf dem Display allerdings wenig. Die Krater unter den Augen erzählten von zu wenig Schlaf und zu vielen Sorgen. Er fuhr sich übers Gesicht und bemerkte, dass die Brünette ihr Telefonat beendet hatte. Sie hatte ihn dabei ertappt, wie er sich im Display musterte, und zwinkerte ihm zu.
Gerade als er die Kamera geschlossen hatte, vibrierte das Handy und zeigte eine eingehende Textnachricht an.
Noch mal vielen Dank für deinen Vortrag. Die Studierenden waren begeistert, aber das hast du ja gemerkt. Du hast einen Rekord aufgestellt. Vier haben mich gefragt, ob du vergeben bist. Drei Frauen, ein Mann. ;-) Bis bald, Andi.
Andreas Straub war der Abteilungsleiter der HSPV, der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung, am Standort Köln. Sie hatten sich während ihres eigenen Studiums in Wiesbaden kennengelernt und waren zu Freunden geworden. Danach begannen sie ihre Laufbahn im gehobenen Polizeidienst. Andreas zog es nach einigen Jahren und erworbenen Qualifikationen an die Hochschule nach Köln. Marc hingegen war mittlerweile Kriminalhauptkommissar und Leiter der AS9, der Abteilung für Sonderermittlungen in Frankfurt, einer Abteilung, die selbstständig ermittelte, aber auch vom LKA für besonders brutale Fälle herangezogen wurde. Die Einladung seines Freundes, einen Vortrag über Marcs hochspezialisierte Einheit und deren Tätigkeitsfelder zu halten, hatte er unmöglich ausschlagen können. Er textete zurück.
Hast du geantwortet, dass meine einzige Liebe der Polizeiarbeit gilt?
Marc grinste und legte das Handy vor sich auf den Klapptisch. Fast im selben Moment vibrierte es erneut. Andreas musste so schnell schreiben wie Nicole Unger, eine seiner Ermittlerinnen in der AS9 und ausgewiesene IT-Spezialistin.
Ich habe gesagt, dass du dich noch von deiner letzten Beziehung erholst, die dir beim Auszug die Kaffeemaschine genommen hat. Seitdem wandelst du in der Zwischenwelt von Koffeinentzug und Genialität. Bis bald.
Marc musste lachen. Der Running Gag verfolgte ihn seit diesem Tag.
Ein etwa fünfjähriger Junge mit blonden Haaren und Spiderman-Shirt rannte an Marc vorbei in den hinteren Abschnitt des Abteils. Schreiend und mit raumgreifenden Schritten eilte ein Mann um die dreißig hinter ihm her.
»Joris ... Joris ... Joris!«
Die meisten Reisenden sahen genervt auf oder versuchten den Zwischenfall so gut es ging zu ignorieren. Nur wenige Augenblicke später kehrte der junge Vater zurück. Sanft schob er Joris vor sich her und erklärte ihm die Gründe, warum er doch bitte den Platz neben seiner Mutter wieder einnehmen sollte. Widerwillig ließ der Junge es geschehen.
Der Geruch stieg Marc mit solcher Wucht in die Nase, dass er sie reflexartig mit der Hand verdeckte. Eine Frau mittleren Alters in der Reihe vor ihm hatte eine Plastikdose mit selbst gemachtem Nudelsalat geöffnet. Das Aroma der Mayonnaise war streng und bereits leicht säuerlich. Ohne zu zögern, begann sie, ihr mitgebrachtes Essen in sich hineinzuschaufeln.
Marc wurde übel. Gleichzeitig flutete das Gefühl seinen Köper. Bitte nicht jetzt. Er drückte den Kopf gegen die Lehne und merkte, wie sich seine Hände ohne sein Zutun ballten. Sämtliche Muskeln wurden hart. Seine Beine spannten sich so stark an, dass die Oberschenkel nach wenigen Sekunden brannten. Sofort steigerte sich das Gefühl zu einer ausgewachsenen Panikattacke. Es war so schnell gegangen, dass er keine Chance gehabt hatte. Er atmete zu schnell, schloss und öffnete abwechselnd die Augen. Er konnte sie nicht mehr aufhalten.
Joris flitzte an ihm vorbei. Das Gefühl, rennen zu müssen, kannte Marc nur zu gut. Er musste irgendetwas tun. Er konnte nicht sitzen bleiben, es fraß ihn von innen auf. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er wusste, dass das Gefühl zu sterben nur wenige Atemzüge entfernt war. Seine Hände waren eiskalt, Schweiß stieg aus sämtlichen Poren. Er stieß sich aus dem Sitz und eilte das Abteil hinunter.
Joris stand mitten im Gang und versperrte ihm den Weg. Ohne zu zögern, stützte sich Marc auf den Kopflehnen links und rechts des verdutzten Kindes ab und sprang in einer fließenden Bewegung über es. Jemand rief ihm etwas hinterher, doch er verstand es nicht. Nichts drang mehr zu ihm durch. Die automatische Schiebetür öffnete sich, und er befand sich in dem Bereich zwischen zwei Waggons. Marc war allein. Er ließ sich gegen die Wand sinken und versuchte, nicht zu hyperventilieren. Ihm wurde schwarz vor Augen. Nur mit Mühe unterdrückte er den Drang, sich einfach auf den Boden zu legen. Er zitterte. Hektisch sah er sich um.
Das Frei-Besetzt-Schild an der Tür zur Bordtoilette zeigte, dass sie nicht belegt war. Er nahm all seine Kraft zusammen, stolperte zur Tür, öffnete sie und schob sich in die winzige Kabine. Dann verriegelte er sie, setzte sich auf den zugeklappten Toilettendeckel und presste die Arme mit aller Kraft an die gegenüberliegende Wand. Er hämmerte so fest dagegen, dass seine Muskeln zuckten. Gleichzeitig fürchtete er, sein Herz könnte der Belastung nicht standhalten. Doch er konnte nicht anders. Seine Gefühle und Empfindungen waren so ambivalent, dass es vollkommen egal war, was er in diesem Moment tat. Alles löste panische Angst in ihm aus.
Marc stand auf, um sich direkt wieder zu setzen. Er schlug so fest mit der Faust auf den Boden, dass seine Handknöchel schmerzten. Dieses Gefühl konnte er nur aus seinem Körper verbannen, wenn er genug Energie abgebaut hatte. Leider wusste er nie, wie lange das dauern würde. Fünf Minuten, zehn, dreißig? Je länger er die Angst mit sich trug, desto härter und ausdauernder wurden ihre Kämpfe. Er lernte, die Angst lernte. Und sie saß am längeren Hebel. Immer.
Mit zittrigen, kalten Fingern griff er in die Innentasche seines Mantels und zog den Blister hervor. Er legte ihn vor sich auf den Rand des Waschbeckens und presste sich gleichzeitig gegen die Kabinenwand. Hauptsache, Energie abbauen, koste es, was es wolle.
Es waren nur noch zwei Tabletten in der silbrigen Verpackung. Seit Wochen rationierte er, zögerte die Einnahme heraus oder teilte die Tabletten, damit er möglichst lange über die Runden kam. Das alles hatte dazu geführt, dass die Angst ihn ständig umkreiste. Mal ließ sie ihm etwas mehr Luft zum Atmen, mal war sie so nah, dass ein winziger Trigger ausreichte, um die Welt über ihm einstürzen zu lassen. Heute war Mayonnaise dieser Trigger gewesen. Beschissene Mayonnaise. Er hatte nicht mal was gegen das Dreckszeug. Diesmal hatte die Angst sie als den Tropfen auserkoren, der den Damm brechen ließ.
Er rutschte die Wand hoch...