1 - Gerechte Gesundheit [Seite 4]
1.1 - Inhaltsverzeichnis [Seite 8]
1.2 - Danksagung [Seite 11]
1.3 - Geleitwort [Seite 13]
1.3.1 - Sozial- und Gesundheitssysteme auf Vielfalt eichen [Seite 13]
2 - Einführung [Seite 16]
3 - Teil I - Konzeptuelle Grundlagen [Seite 20]
3.1 - 1. Einleitung [Seite 22]
3.2 - 2. Pluralistische Gesellschaft [Seite 23]
3.2.1 - 2.1?Kritik der Unterdrückung und Pluralismus [Seite 23]
3.2.2 - 2.2?Staat und Gesellschaft [Seite 29]
3.2.3 - 2.3?Individualisierung und Individuierung [Seite 36]
3.2.4 - 2.4?Anarchische Kommunitarisierung [Seite 37]
3.2.5 - 2.5?Zwischenüberlegungen [Seite 40]
3.3 - 3. Lebensweltliche Dimensionen pluraler und komplexer Identitäten [Seite 41]
3.3.1 - 3.1?Feminismus und Intersektionalitätsdebatte [Seite 42]
3.3.2 - 3.2?Behindertenbewegung und der Kampf um (körperliche) Anerkennung [Seite 44]
3.3.3 - 3.3?Solidaritätsbewegung und Antirassismus [Seite 47]
3.3.4 - 3.4?Mehrfachdiskriminierungen komplexer, pluraler Identitäten [Seite 51]
3.3.5 - 3.5?Zwischenüberlegungen [Seite 52]
3.4 - 4. Gesundheitssysteme im Vergleich [Seite 53]
3.4.1 - 4.1?Kategoriale unduniversalistische Systeme [Seite 54]
3.4.2 - 4.2?Politische Dynamiken sozialstaatlicher Veränderung [Seite 56]
3.4.3 - 4.3?Selektivität und Etatismus [Seite 57]
3.4.4 - 4.4?Sensibilität der Modelle für Verschiedenheit [Seite 60]
3.4.5 - 4.5?Zwischenüberlegungen [Seite 62]
3.5 - 5. Zusammenfassung [Seite 63]
4 - Teil II - Empirische Betrachtungen [Seite 64]
4.1 - 1. Einleitung [Seite 66]
4.2 - 2. Umgang mit Verschiedenheitaus der Sicht der Nutznießenden [Seite 66]
4.2.1 - 2.1?Verbesserung der Lebenschancen [Seite 67]
4.2.2 - 2.2?Diskriminierungserfahrungen [Seite 69]
4.2.3 - 2.3?Individuelle Strategien im Umgang mit Gesundheitsorganisationen [Seite 70]
4.2.3.1 - 2.3.1?Resignation [Seite 70]
4.2.3.2 - 2.3.2?Wut [Seite 70]
4.2.3.3 - 2.3.3?Kampf [Seite 71]
4.2.4 - 2.4?Der Wunsch nach Respekt und Anerkennung [Seite 72]
4.2.4.1 - 2.4.1?Zuhören [Seite 72]
4.2.4.2 - 2.4.2?Fördern [Seite 73]
4.2.4.3 - 2.4.3?Informieren [Seite 73]
4.2.5 - 2.5?Zwischenüberlegungen [Seite 73]
4.3 - 3. Umgang mit Verschiedenheit aus Sicht der Gesundheitsorganisationen [Seite 74]
4.3.1 - 3.1?Reflexivität in Gesundheitsorganisationen [Seite 75]
4.3.1.1 - 3.1.1?Fehlende Verankerung von Leitlinien [Seite 76]
4.3.1.2 - 3.1.2?Organisationale Lernprozesse als Herausforderung [Seite 78]
4.3.1.3 - 3.1.3?Weiterbildungen für alle [Seite 81]
4.3.1.4 - 3.1.4?Kompetentes Personal [Seite 81]
4.3.2 - 3.2 Barrieren [Seite 83]
4.3.2.1 - 3.2.1?Strukturelle Barrieren [Seite 83]
4.3.2.2 - 3.2.2?Soziale Barrieren [Seite 85]
4.3.2.3 - 3.2.3?Vertrauensbarrieren [Seite 87]
4.3.3 - 3.3?Interaktionsdynamiken [Seite 88]
4.3.3.1 - 3.3.1?Kommunikationshindernisse [Seite 88]
4.3.3.2 - 3.3.2?Stereotype [Seite 90]
4.3.3.3 - 3.3.3?Therapiebefolgung [Seite 93]
4.3.4 - 3.4?Organisationsorientierte Partizipation [Seite 94]
4.3.5 - 3.5?Minimale Interessenvertretung [Seite 95]
4.3.6 - 3.6?Zwischenüberlegungen [Seite 96]
4.4 - 4. Zusammenfassung [Seite 97]
5 - Teil III - Normen und organisationale Standards [Seite 100]
5.1 - 1. Einleitung [Seite 102]
5.2 - 2. Normative Betrachtungen [Seite 102]
5.2.1 - 2.1?Gesundheitspolitik: ein geschichtlicher Abriss [Seite 102]
5.2.2 - 2.2?Soziale Determinanten von Gesundheit [Seite 107]
5.2.3 - 2.3?Theorien sozialer Gerechtigkeit [Seite 111]
5.2.4 - 2.4?Gesundheitliche Chancengleichheit [Seite 115]
5.2.5 - 2.5?Der Diskurs über soziale Gruppen [Seite 121]
5.2.6 - 2.6?Zwischenüberlegungen [Seite 123]
5.3 - 3. Standards [Seite 124]
5.3.1 - 3.1?Ursprung [Seite 130]
5.3.2 - 3.2?Sexuelle Orientierung [Seite 134]
5.3.3 - 3.3?Behinderung [Seite 136]
5.3.4 - 3.4?Allgemeine Standards für eine qualitativ hochstehende Gesundheitsversorgung [Seite 140]
5.3.5 - 3.5?Zwischenüberlegungen [Seite 147]
5.4 - 4. Zusammenfassung [Seite 148]
6 - Teil IV - Orientierungen für eine gerechteGesundheitsversorgung [Seite 150]
6.1 - 1. Einleitung [Seite 152]
6.2 - 2. Die fünf Orientierungen [Seite 153]
6.2.1 - 2.1?Reflexives Management [Seite 153]
6.2.1.1 - 2.1.1?Managementinstrumente [Seite 155]
6.2.1.2 - 2.1.2?Veränderungsprozess [Seite 156]
6.2.1.3 - 2.1.3?Personalmanagement [Seite 159]
6.2.2 - 2.2?Abbau von Barrieren [Seite 162]
6.2.2.1 - 2.2.1?Strukturelle Barrieren [Seite 162]
6.2.2.2 - 2.2.2?Soziale Barrieren [Seite 165]
6.2.3 - 2.3?Personenzentrierte Interaktion [Seite 168]
6.2.3.1 - 2.3.1?Kommunikation [Seite 168]
6.2.3.2 - 2.3.2?Plurale und komplexe Identitäten [Seite 169]
6.2.3.3 - 2.3.3?Perspektive des Krankseins [Seite 172]
6.2.3.4 - 2.3.4?Narration [Seite 173]
6.2.4 - 2.4?Partizipation [Seite 175]
6.2.4.1 - 2.4.1?Partizipation der Nutznießenden [Seite 176]
6.2.4.2 - 2.4.2?Partizipation des Einzugsgebiets [Seite 178]
6.2.5 - 2.5?Interessenvertretung [Seite 183]
6.2.5.1 - 2.5.1?Interne Interessenvertretung [Seite 183]
6.2.5.2 - 2.5.2?Interessenvertretung nach außen [Seite 185]
6.3 - 3. Zwischenüberlegungen [Seite 187]
6.4 - 4. Zusammenfassung [Seite 187]
7 - Teil V - Synthese und Schlussfolgerungen [Seite 190]
7.1 - Abkürzungsverzeichnis [Seite 196]
7.2 - Literaturverzeichnis [Seite 198]
7.3 - AutorInnenverzeichnis [Seite 206]
7.4 - Sachwortverzeichnis [Seite 207]
Einführung (s. 15-16)
Was bedeutet gerechte Gesundheit und wie manifestiert sie sich in einer gerechten Gesundheitsversorgung? 1 Dieser Frage möchten wir in diesem Buch nachgehen. Eine einfache Antwort darauf ist kaum möglich, obschon wir uns alle mehr Gerechtigkeit wünschen und uns auch daran stören, wenn die Rehabilitation nach der gleichen Knieoperation eines berühmten Fußballers dreimal weniger Zeit in Anspruch nimmt als bei einer weniger bekannten Person. Doch der Fußballfan, der sich die rasche Rückkehr seines Fußballers in sein Team wünscht, ist gegenüber solchen Gerechtigkeitsansprüchen völlig indifferent, denn wieso auch sollte es bei allen so rasch gehen, wie beim besten Stürmer seiner Mannschaft. Gerechtigkeit, so zeigt dieses Beispiel, stellt keine feste Größe dar und bedeutet kaum für alle dasselbe, denn persönliche Ideologien und Philosophien spielen bei der Definition von Gerechtigkeit eine gewichtige Rolle.
Wie gerechte Gesundheit definiert wird, ist also vielschichtig, je nachdem, woher eine Person kommt, aus welchem Land, aus welcher Stadt oder aus welchem Quartier, oder wie sich ihre Lebensgeschichte oder ihr Lebenslauf entfaltet. Die Gewichtung einer gerechten Gesundheitsversorgung im Kontext von all diesen und noch viel mehr Faktoren ist eine der schwierigsten Aufgabe auf dem Weg hin zu einer gerechten Gesundheit. Im Jahre 2000 wurde in der Schweiz der Fall von Alt-Bundesrat Tschudi in den Medien breit diskutiert, der sich 87-jährig in einem kritischen Zustand im Spital befand. Als ihm eine Behandlung vorgeschlagen wurde, die gegen eine Million Schweizer Franken (etwa 800 000 Euro) gekostet hätte, wurde ihm diese durch die Gesundheitsministerin des Kantons mit Argumenten wie hohes Alter, kritische Finanzlage des Kantons, bestehende billigere, wenn auch weniger sichere Alternativen verweigert.
Der daran anschließende Skandal war groß, da es sich hier um eine öffentlich bekanntgegebene Rationierung handelte, die den wohl wichtigsten Verantwortlichen in der Entwicklung des Schweizer Sozialstaates der Nachkriegszeit traf.3 Die Diskussion um die Frage der gerechten Gesundheit in einer Zeit, in der das Geld für die Gesundheitsversorgung knapper wird und eine hoch technologisierte Medizin nicht nur immer mehr möglich macht, sondern oft auch mit hohen Kosten verbunden ist, war lanciert. Dabei waren alle politisch-philosophischen Positionen vertreten, vom unteilbaren Recht auf Gesundheitsdienstleistungen bis hin zu deren Rationierung aus finanziellen Gründen. Der Politikerin, die Tschudi die teure Therapie verweigert hatte, kostete ihr umstrittener Entscheid die politische Laufbahn; sie wurde abgewählt (Hollenstein, 2002).
Obschon in der Schweizer Verfassung in Artikel 41 Absatz b steht, dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält, sind nicht nur Rationierungen, sondern auch Fehlbehandlungen, beispielsweise aufgrund einer fehlenden Vertrauensbasis oder mangelnder Informationen, aber auch Diskriminierungen gang und gäbe, denn was notwendig ist, ist abhängig von der zeitgemäßen Interpretation, dem aktuellen Kontext sowie der konkreten Situation. Gesundheitsorganisationen4 müssen tagtäglich entscheiden, was noch vertretbar ist, und was nicht mehr vertretbar ist, und wie sie auch im Kontext von Vielfalt und Verschiedenheit noch eine angemessene Versorgung5 erbringen können. Wir möchten daher das Thema der gerechten Gesundheitsversorgung in diesem Buch von der politisch-philosophischen und oft auch finanziellen Ebene, die durchaus legitim und notwendig ist, auf die Ebene der konkreten Praxis der Gesundheitsorganisationen herunterbrechen. Denn auch wenn Fälle wie Tschudi eher die Ausnahme sind, ist die dadurch ausgelöste Diskussion, welche Gesundheitsdienstleistungen welchen Nutznießenden zustehen und wie sie erbracht (und finanziert) werden sollen, die Regel. Waren egalitäre Haltungen - im Sinne von jeder und jedem das Gleiche - lange Zeit die Norm auch in Gesundheitsorganisationen, setzen sich heute Gesundheitsfachpersonen in der Praxis mit Verschiedenheit auseinander, ausgehend davon, dass jede Person ihr eigenes Universum ist, mit je eigenen Ressourcen ausgestattet, geprägt von individuellen Erfahrungen, die Haltungen und Interaktionen beeinflussen. Doch woran sollen sich Dienstleistende in Gesundheitsorganisationen orientieren, wenn Gleichbehandlung auch Ungleichheit schafft, und daher jede nutznießende Person verschieden zu versorgen ist?
Auch auf diese Frage geben wir in diesem Buch Antworten, die wir Schritt für Schritt herleiten. So sollen im ersten der fünf Teile dieses Buches die konzeptuellen Grundlagen vorgestellt werden, auf denen wir unsere Überlegungen aufbauen. Dabei gehen wir grundsätzlich von einer Gesellschaft aus, die sich zunehmend pluralisiert und individualisiert. Diese bereits Jahrhunderte andauernde Tendenz hat unsere Gesellschaften von Einheit auf Verschiedenheit umgestellt, was zur Folge hat, dass sich Gesellschaften heute mit Ansprüchen auf Anerkennung dieser Verschiedenheit - politisch und ökonomisch, aber auch sozial - auseinanderzusetzen haben.
Diese Auseinandersetzung empirisch zu begleiten, ist das Ziel des zweiten Teils. Dort stellen wir Ergebnisse aus Untersuchungen vor, die sich mit der Frage des Umgangs mit Verschiedenheit aus der Perspektive der Nutznießenden, aber auch von Seiten der Gesundheitsorganisationen auseinandersetzen.
Im dritten Teil werden die formalisierten Antworten auf diese Herausforderungen vorgestellt und kritisch diskutiert. Zuerst sollen die normativen Ansätze einer gerechten Gesundheit dargestellt und deren standardisierte Formen, die insbesondere in Gesundheitsorganisationen relevant werden, diskutiert werden. Im vierten Teil schließlich versuchen wir, die Orientierungen zusammenzutragen, an denen sich eine Gesundheitsorganisation auszurichten hat, wenn sie sich entscheidet, eine gerechtere Gesundheitsversorgung zu fördern. Dieser vierte Teil diskutiert insbesondere die mit den Orientierungen zusammenhängenden Themenfelder und gibt Hinweise auf entsprechende Maßnahmen, die zu einer kohärenten gerechteren Leistungserbringung in Organisationen führen könnten.
Im fünften Teil werden die wesentlichen Erkenntnisse nochmals zusammengefasst. Abbildung 1 verdeutlicht den Aufbau des Buches. Zur besseren Verständlichkeit haben wir in den verschiedenen Kapiteln Schlüsselkonzepte oder Begrifflichkeiten, die immer wieder Verwendung finden, besonders hervorgehoben.