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2021, Toskana: Kastanien, wilde Brombeeren, Akazien, Klee, Bienen. »Das ist eine neue Familie«, sagt Giovanni Faini. Der Imker steht mit seinem Kollegen Umberto Paperini vor einem bunten Holzkasten, Heim eines der 180 Bienenvölker der Fattoria la Vialla. Dank Pflanzenvielfalt und Verbot von Pestiziden sind die Flächen des Demeterbetriebs ein Bienenparadies. Aber die Klimakrise sei auch hier angekommen, sagt Paperini. Im Januar habe es fast frühlingshafte Temperaturen gegeben, der März sei wunderbar für die Bienen gewesen. Aber dann kehrte im April und Mai der Winter zurück, viele Blüten erfroren und das Nahrungsangebot der Bienen schrumpfte entsprechend. Nur wenn die Bienen ausreichend Honig produzierten, ernte man ihn, sagt der Imker und verweist auf die elementare Rolle der Bienen für das Ökosystem. »Bestäubung ist existenziell für alle Pflanzen.« Bienen vollbringen eine immense Arbeit, bekämen sie den deutschen Mindestlohn, müsste ein Glas Honig 300.000 Euro kosten.54
In der Fattoria arbeiten die Menschen mit und nicht gegen die Natur. Der Betrieb fördert die Artenvielfalt und baut mit seiner biodynamischen Art des Wirtschaftens unter anderem wertvollen Humus auf. Der Boden kann so mehr schädliches CO2 binden, als er freisetzt. Daneben sorgt der Betrieb mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen dafür, dass noch mehr CO2 gebunden oder vermieden wird. Dazu zählen ein umsichtiger Umgang mit Ressourcen, Photovoltaik- und Pflanzenkläranlagen und die Fixierung von Kohlendioxid in Wäldern, Kulturen und Böden durch den biologischen Landbau. Am meisten CO2 fällt beim Transport der Produkte zu den Endkunden an. Beim Transport über die Schiene sind die Fattoria-Betreiber mit ihren Bemühungen steckengeblieben. In manchen Städten kooperieren sie mit Auslieferungsunternehmen, die Waren per Fahrrad oder mit elektrischen Fahrzeugen bringen.
Vielen Landwirten sind die tieferen Zusammenhänge der Natur fremd. Alceo Orsini war einer von ihnen, als er noch eine industriell organisierte Hühnerfarm mit hunderttausend Federviechern in Italien leitete, in der Chemikalien zu seinem täglichen Handwerkszeug gehörten. In gewisser Weise sei seine Arbeit simpel gewesen, erzählt er. Bei Problemen habe er einfache in den Katalogen der Chemiekonzerne nachgeschaut, welches Produkt er dafür nehmen könne. Anfang der 2000er Jahre begann Teil zwei seines Berufslebens, er lernte um und arbeitet nun in der Kreislaufwirtschaft der Fattoria la Vialla.
2023 hat der Betrieb es wieder geschafft, mehr CO2 zu binden, als freizusetzen. Aber es gab auch Jahre, in denen er einen Teil der Emissionen durch Klimaschutzprojekte kompensierte. Ökonomisch betrachtet baut er, anders als viele andere, den Kapitalstock der Natur auf statt ab.55 Es gibt berechtigte Einwände gegen eine ökonomische Betrachtung des Lebendigen, aber sie hilft, den elementaren Unterschied zwischen verschiedenen Arten des Wirtschaftens zu verdeutlichen. Sie spielt in der dominierenden Wirtschaftswissenschaft indes ebenso wenig eine Rolle wie in der dominierenden wirtschaftlichen Praxis.
Ökonomisches Denken lasse die Natur als Produktionsfaktor außen vor, sagte der Umweltökonom Sir Partha Dasgupta dem Radiosender BBC, als er 2021 seinen Bericht über die Ökonomie der Artenvielfalt an die britische Regierung übergab.56 Das Sachkapital - also beispielsweise Häuser, Fabriken und Autobahnen - habe sich weltweit von Anfang der 1990er Jahre bis Mitte der 2000er verdoppelt, das Humankapital sei in der gleichen Periode vor allem durch Fortschritte bei der Bildung um 13 Prozent gestiegen. Dagegen habe es ein fettes Minus von 40 Prozent beim Naturkapital gegeben, also bei Flora und Fauna. Die Menschheit sei daran gescheitert, »eine nachhaltige Beziehung zur Natur aufzubauen«, konstatierte der Wissenschaftler. Die Artenvielfalt gehe in unseren Tagen so schnell zurück wie noch nie in der Geschichte der Menschheit, was nicht nur die Produktivität, Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit der Natur gefährde, sondern auch extreme Risiken für die Wirtschaft berge. Es geht rasant schnell: Die weltweite biologischen Vielfalt sank laut Living Planet Index um 65 Prozent zwischen 1970 und 2010, »in geologischen Maßstäben ein verschwindend kurzer Zeitraum«.57 Es braucht dringend eine die Natur aufbauende Ökonomie: eine regenerative Ökonomie.
Was revolutionär klingt, müsste eigentlich dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen entsprechen und ist keineswegs utopisch. Denn die längste Zeit ihres Bestehens lebte die Menschheit durchaus innerhalb der planetaren Grenzen. Erst Anfang der 1970er Jahre sprengte sie diese und überbeansprucht seitdem die natürlichen Ressourcen wie Boden, Wasser, Fauna, Flora, Atmosphäre. Die Menschheit verbraucht stetig sogar immer mehr Natur, wegen des anhaltend hohen Bedarfs der frühindustrialisierten Länder und der starken Beanspruchung durch stark wachsende Ökonomien jüngerer Industrieländer wie China, Indien, Indonesien oder Nigeria. Entsprechend rückt der sogenannte World-Overshoot-Tag, der den Tag im Jahr markiert, an dem rechnerisch die Übernutzung der natürlichen Lebensgrundlagen wieder beginnt, im Kalender immer weiter nach vorne. Global fiel er 2025 auf den 24. Juli,58 in Deutschland bereits auf den 3. Mai.59
Die Menschheit müsste einen gigantischen Kraftakt vollbringen, um den Prozess umzukehren und ihre Lebensgrundlagen zu sichern. Es gibt jetzt schon viele, die es versuchen. Sie widmen sich der Regeneration der Natur, pflanzen beispielsweise Bäume in der Sahelzone. Hier soll auf einer Länge von knapp 8.000 Kilometern quer durch den afrikanischen Kontinent eine grüne Mauer entstehen, um die fortschreitende Verwüstung aufzuhalten. Die Pflanzen sollen einmal eine Fläche von 100 Millionen Hektar bedecken und 250 Millionen Tonnen Kohlenstoff binden.60 Die Umsetzung läuft langsamer als gedacht. Es geht eben schneller, Natur zu zerstören, als sie wieder aufzubauen.61 Auch andernorts renaturieren Gesellschaften in großem Stil die Natur. So entsteht im Donaudelta die größte Auenlandschaft Europas. Vier Anrainerstaaten des Flusses - Rumänien, Bulgarien, Moldau und die Ukraine - wollen auf 1.000 Flusskilometern 160.000 Hektar Auen schützen und 225.000 Hektar zerstörte Überschwemmungsflächen renaturieren.62
Auch manche Städte geben der Natur mehr Raum. Frankreichs Hauptstadt Paris gehört hier zu den Vorreitern: Die Kommune verbessert mit verschiedenen Maßnahmen das Stadtklima. Sie pflanzte 170.000 Bäume, verwandelte tausende Parkplätze in öffentlichen Raum und baute hunderte Kilometer Radwege. Erste Erfolge sind sichtbar: Die Luftverschmutzung hat deutlich abgenommen.63 Berlin verfolgt das Konzept einer Schwammstadt und will erreichen, dass der natürliche Kreislauf aus Niederschlag, Versickerung und Verdunstung auch im urbanen Umfeld wieder wirksam werden kann.64 Das sei kein Selbstzweck, »sondern ein entscheidender Beitrag zur Anpassung der Metropole an den Klimawandel«. Wie es gehen kann, zeigt sich in dem Viertel rund um die Rummelsburger Bucht. Früher floss der Niederschlag wie fast überall von Straßen und Plätzen »ungenutzt in den Mischkanal und bei Starkregen häufig zusammen mit ungeklärtem Abwasser in die Spree«. Mitte der 1990er Jahre entstand hier ein Wohngebiet, »von dem kein Regenwasser mehr in die Kanalisation gelangt«. Stattdessen versickert oder verdunstet es vor Ort, speist damit die schattenspendenden Grünflächen und kühlt zusätzlich durch Verdunstung die Umgebung.65
Anderorts geht die Zerstörung der Natur weiter. So schrumpft die Lunge der Welt: Bereits über ein Drittel der Amazonas-Regenwälder hat eine kritische Kippschwelle zur Selbstzerstörung erreicht, knapp zwei Drittel der dortigen Wälder sind nicht mehr intakt, entsprechend instabil und damit nicht mehr widerstandsfähig.66 Die Menschheit hat bereits 30 Prozent aller Korallenriffe zerstört und weitere 40 Prozent stehen auf der Kippe. Bei einer globalen Erwärmung von 1,5°C werden nach Ansicht von Fachleuten 70 bis 90 Prozent aller Korallenriffe verschwinden.67 Der Bau der neuen indonesischen Hauptstadt auf der Insel Borneo verschlingt ebenfalls Unmengen an Natur; Orang-Utans, Malaienbären und Wollfledermäuse werden verdrängt.
Auf dem Meeresboden der Weltmeere drohen große Zerstörungen, wenn der Tiefseebergbau zum Abbau von Rohstoffen so umgesetzt wird, wie es viele vorhaben, etwa um Manganknollen zu ernten. Beim Abbau von Kobaltkrusten werden die Hänge der Seeberge zerstört, die als Oasen der hohen See gelten, weil dort die tiefen Meeresströme mit den Nährstoffen an die Oberfläche treten und dabei viele Lebewesen ernähren. Die Förderung könne Sedimente aufwirbeln, pausenlos Lärm verursachen und möglicherweise Schwermetalle aus den Erzen freisetzen, warnen Meeresfachleute. All das dürfte der Fischerei in den Küstenregionen und damit der lokalen Bevölkerung weiter Schaden zufügen.68 Ein Zusammenbruch der Fischbestände hätte für die Ernährung fatale Folgen: Bislang isst jeder Mensch pro Jahr im Schnitt 21 Kilogramm Fisch und Meeresfrüchte.69 Der Mensch macht sich daran, Welten in der Tiefsee zu einem Zeitpunkt zu zerstören, bevor er diese überhaupt kennengelernt hat.
Die Verwandlung von Natur in Konsumgüter geschieht meist in linearen Prozessen. Menschen bauen dafür Rohstoffe ab, ob Nickel in Indonesien, seltene Erden in China oder Braunkohle in der Lausitz. Übrig bleiben klaffende Löcher und vergiftete...
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