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Angesichts der gegenwärtigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen zeichnet sich ab, dass die Wachstumsdynamik moderner Gesellschaften nicht mehr stabilisierend wirkt, sondern selbst zum Krisentreiber geworden ist. In diesem Band diskutieren die Philosophin Nancy Fraser und die Soziologen Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, was dies für die Gegenwart und die Zukunft der Demokratie bedeutet und welche Konzeptionen und Wege hin zu einer demokratischen Transformation vorstellbar sind. Aus ihrer demokratietheoretischen Perspektive intervenieren Viviana Asara, Banu Bargu, Ingolfur Blühdorn, Robin Celikates, Lisa Herzog, Brian Milstein, Michelle Williams und Christos Zografos.
Klaus Dörre
Was läuft falsch mit der Demokratie? Nichts oder nicht sehr viel, lautet die knappste der möglichen Antworten. Das mag überraschen, denn die Krise der Demokratie ist in aller Munde. »Is Democracy Dying?«, fragt das renommierte US-Magazin Foreign Affairs.[1] »Demokratie unter Druck: Polarisierung und Repression nehmen weltweit zu«, echot die Bertelsmann-Stiftung mit Blick auf 129 Entwicklungs- und Schwellenländer. Zwar lebten die meisten Menschen (4,2 Milliarden) noch immer in demokratisch verfassten Staaten, doch die Zahl derer, die sich mit autokratischen Systemen konfrontiert sähen, nehme zu (3,3 Milliarden). Noch bedenklicher sei, »dass in immer mehr Demokratien Bürgerrechte beschnitten und rechtsstaatliche Standards ausgehöhlt« würden. Seit Beginn der Erhebungen (2006) hätten 40 Staaten, darunter solche mit langer demokratischer Tradition, den Rechtsstaat beschädigt, in 50 Ländern seien politische Freiheiten eingeschränkt worden.[2]
In solchen Daten scheint ein Trend zum Autoritären auf, der die rechtspopulistische Revolte in den alten kapitalistischen Zentren noch gar nicht berücksichtigt. Aber ist das bereits Beweis genug, um von einer Krise der Demokratie zu sprechen? Ich bezweifele das. Moderne Massendemokratien mit pluralen, ausdifferenzierten Zivilgesellschaften, egalitären politischen Rechten und aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierungen, die Völkerrecht und Menschenrechte grundsätzlich respektieren, sind trotz unbestreitbarer Schwächen noch immer die beste aller bisher bekannten 22Herrschaftsformen. Deshalb ist die verbreitete Rede von einer Krise der Demokratie in einem normativen Sinne bedenklich. Suggeriert sie doch zumindest unterschwellig, demokratische Institutionen und Verfahren seien den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Dergleichen zu behaupten ist aber auch analytisch problematisch. Es gibt keine Krise der Demokratie. Vielmehr wird die demokratische Herrschaftsform auf dem Altar eines expansionistischen Kapitalismus geopfert, der zwecks Bestandssicherung zunehmend auf autoritäre Praktiken angewiesen ist.
Eine dadurch in Gang gesetzte Transformation des Staates bedeutet keine rasche Ablösung des demokratischen Kapitalismus durch autoritäre Staatsformen. Vielmehr erleben wir den Übergang zu unterschiedlichen Varianten entdemokratisierter Demokratien oder demokratischer Nichtdemokratien. So kann die griechische Bevölkerung in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit gegen die europäische Austeritätspolitik votieren und eine Regierung wählen, die dann doch gegen ihre erklärte Absicht das Austeritätsdiktat der europäischen Institutionen erfüllen muss. Das ist die Konstellation einer entdemokratisierten, weil im Grunde nicht mehr entscheidungsbefugten Demokratie. Oder ein Wahlvolk stimmt - wie in Ungarn, Polen, Russland oder der Türkei - mehrheitlich für eine Regierung, die sogleich beginnt, elementare demokratische Rechte auszuhebeln. Solche Fälle offenbaren eine Entwicklung hin zu demokratisch legitimierten Nichtdemokratien. Noch anders gelagert sind Fälle der Selbstentmündigung von Demokratien. Als Reaktion auf islamistischen Terror und mit mehrheitlicher Unterstützung des Wahlvolks verhängte die französische Regierung den Ausnahmezustand und machte so die Einschränkung demokratischer Rechte zugunsten der inneren Sicherheit zur Vorbedingung für den Erhalt von Demokratie. Schließlich kommt es zur schleichenden Zerstörung demokratischer Öffentlichkeiten durch die Geschäftspraktiken smarter Technologiekonzerne - eine Entwicklung, für die der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zu einer schillernden Symbolfigur geworden ist.
Wie lässt sich diese facettenreiche Tendenz zur Aushebelung demokratischer Rechte und Institutionen mit Hilfe demokratischer Verfahren erklären? Nachfolgend skizziere ich den Grundriss einer Antwort. Die Demokratie ist, so meine These, von einem für Markterweiterung und Kapitalakkumulation relativ kompatiblen 23Anderen zu einem Objekt finanzkapitalistischer Landnahmen geworden. Deshalb stellt sie selbst in den alten Zentren nicht länger die präferierte politische Staatsform dar, in welcher sich ein expansiver Kapitalismus optimal entfalten kann.[3] Daraus folgt, dass die Demokratie auf Dauer nur Bestand hat, wenn ihre Inhalte, Verfahren und Institutionen auf Felder und Sektoren ausgeweitet werden, die für demokratische Willensbildung bisher verschlossen waren. Demokratisierung läuft deshalb letztendlich auf einen Bruch mit dem Kapitalismus hinaus. Ich begründe diese These mit demokratietheoretischen Überlegungen (1), analysiere das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie (2), skizziere den Prozess der Entdemokratisierung (3) und befasse mich schließlich mit der Zukunft einer transformativen Demokratie (4).
Demokratie ist ein Begriff, der theoretisch wie politisch höchst unterschiedlich gefüllt werden kann. Dem Wortstamm nach vereint Demokratie das griechische demos (Volk) mit kratein (herrschen). Demokratie bedeutet demnach Volksherrschaft, Herrschaft der Mehrheit oder der Vielen.[4] Ideengeschichtlich lässt sich der Begriff bis in die Antike zurückverfolgen. Doch moderne Massendemokratien sind etwas völlig anderes als jene frühen Gemeinwesen, die trotz Ausschluss der Sklaven bäuerliche Produzentendemokratien waren.[5] In ihrer modernen Gestalt ermöglicht Demokratie die Teilhabe von großen und sozial heterogenen Bevölkerungen am politischen Prozess. Sie impliziert eine widersprüchliche Vergesellschaftung des Politischen, die allerdings auf der Privatisierung von Wirtschaft und sozialer Reproduktion beruht. Die Vergesellschaftung des Politischen findet in den frühindustrialisierten Ländern 24im Rahmen von demokratischen Institutionen statt, die den Kernbestand demokratischer Verfassungsstaaten ausmachen. Zu ihnen gehören Volkssouveränität; politische Gleichheit von Individuen und Assoziationen unabhängig von Konfession, Rasse und Geschlecht; allgemeines gleiches Wahlrecht und umfassende Partizipation der Citoyens sowie Schutz vor staatlicher Willkür. Über die realen Ausprägungen dieser Herrschaftsform ist damit aber noch wenig gesagt. Zwischen einer Regierung im Namen des Volkes und der Selbstregierung des Volkes existiert eine große Bandbreite an möglichen Regierungsweisen.
Ideengeschichtlich wie institutionell beruhen Demokratien auf einer Verbindung von mindestens zwei Traditionslinien: dem Liberalismus mit seiner Betonung von Freiheit und Pluralismus einerseits sowie einem republikanischen Egalitarismus, der Gleichheit und Volkssouveränität priorisiert, andererseits. Beide Linien versehen die Programmatik der bürgerlichen Revolution, zusammengefasst in der Losung Liberté, Égalité, Fraternité, mit sehr unterschiedlichen Akzenten. Die Geister scheiden sich vor allem an der Égalité. An dieser Stelle ist es nicht möglich, die Genealogie von liberaler und sozialer Demokratie auch nur ansatzweise nachzuzeichnen, weshalb ein kursorischer Blick auf die Nachkriegsentwicklung genügen muss. Trotz restaurativer Tendenzen, die eine tiefgreifende wirtschaftsdemokratische Neuordnung ausschlossen, hatte die Gleichheit in den kontinentaleuropäischen Kapitalismen der Nachkriegsära insofern ihren Platz, als Klasseninteressen der Lohnabhängigen in den wohlfahrtsstaatlichen Regimen, wenngleich asymmetrisch, institutionalisiert wurden.[6] Demokratie war damit mehr als liberaler Pluralismus. Sie beinhaltete soziale Bürger*innenrechte, organisierte Arbeitsbeziehungen, tarifliche Normen und Mitbestimmungsmöglichkeiten. In unterschiedlichen Variationen handelte es sich um Staaten, die Lohnabhängige mit einem Kollektiveigentum zu privater Existenzsicherung ausstatteten und so Sozialkosten ...
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