Schweitzer Fachinformationen
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Oskar Butting, Klaus Dörre, Nora Fülöp
Im deutschsprachigen Raum über Jahrzehnte hinweg kaum thematisiert, sind Klassen zurück im öffentlichen Diskurs. Hauptgrund sind nicht etwa Rebellionen von Ausgebeuteten und Unterdrückten, eher trifft das Gegenteil zu. Empirische Daten sprechen dafür, dass klassenspezifische Ungleichheiten im Weltmaßstab wenn auch nicht linear, so doch über lange Zeiträume hinweg zugenommen haben (zum Beispiel Piketty 2014; 2020; Milanovic 2023: 358). Eine Übersetzung der Ungleichheitsproblematik in das politische System, von der linke Parteien und Gewerkschaften profitieren könnten, gelingt jedoch nur selten. Wir haben dieses Missverhältnis als den Aggregatzustand einer demobilisierten Klassengesellschaft beschrieben (Dörre 2018: 40 ff.; 2023: 24 ff.). Damit ist keineswegs gemeint, dass es, so der sicher treffende Befund, den beherrschten Klassen an revolutionärem Elan mangelt. Geschichtlich betrachtet waren Revolutionen stets Ausnahmeereignisse. Eine mehr oder minder konfliktreiche Anpassung der Ausgebeuteten und Beherrschten an widrige Verhältnisse ist daher gesellschaftlicher Normalzustand. Dementsprechend sind die Ursachen für die Integrationsbereitschaft eines Proletariats, das sich entgegen der - allerdings mehrfach korrigierten - marxschen Erwartung nicht als revolutionäres Subjekt betätigt, seit jeher Gegenstand Kritischer Theorie (Akin/vom Bruch 2020: 123 ff.).
Demobilisierung in den reichen, vergleichsweise sicheren Gesellschaften des Globalen Nordens meint jedoch etwas noch Fundamentaleres als das Ausbleiben sozialer Revolutionen. Die Macht der direkt oder indirekt von Löhnen abhängigen Klassen schwindet - und zwar in all ihren bisher bekannten Formen, seien sie nun auf strukturelle, organisatorische, institutionelle oder gesellschaftliche Machtressourcen gegründet (zum Jenaer Machtressourcenansatz zuletzt Dörre 2021: 85 ff.; 2017: 105 ff.). Nicht nur die Revolution lässt immer länger auf sich warten, auch die organisierte Gegenwehr innerhalb bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse ist eine Ausnahme, nicht die Regel. Mit der kollektiven Gegenwehr entfällt zugleich ein wichtiges Korrektiv, das maßgeblich zur permanenten Veränderung und Selbststabilisierung kapitalistischer Produktionsweisen beigetragen hat, denn vieles, was in wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen lange als selbstverständlich galt - vom allgemeinen Wahlrecht bis zu kollektiven Sicherungssystemen - hatte sich ursprünglich als Ergebnis mehr oder minder heftiger sozialer Auseinandersetzungen durchgesetzt. Sicher gibt es auch in der Gegenwart noch immer Kräfte, die der Demobilisierung entgegenwirken (Azzellini 2021), wie die Zunahme von Arbeitskämpfen in der jüngeren Vergangenheit beweist. Doch insgesamt lässt sich feststellen, dass basale gewerkschaftliche Gegenwehr in den frühindustrialisierten Ländern zu einer Sache von organisierten Minderheiten unter den Lohnabhängigen geworden ist.20
Dass die Übersetzung sozialer Klasseninteressen in kollektives Handeln und vor allem in politische Mobilisierungsfähigkeit so selten gelingt, hängt nicht in erster Linie, aber sicherlich auch mit analytischen Ungenauigkeiten und wissenschaftlicher Erklärungsschwäche zusammen. Wie sich Klassen im 21. Jahrhundert konstituieren, ob soziale Ungleichheiten klassenbildend wirken, in welcher Weise sich Klassen aufeinander beziehen, wie Klassenauseinandersetzungen mit anderen gesellschaftlichen Konfliktlinien verbunden sind und was dies für die gesellschaftliche Konfliktdynamik bedeutet, ist trotz einer rasch wachsenden Literaturfülle gegenwärtig weitgehend ungeklärt.
Ohne den Anspruch, diese eklatanten Wissenslücken in einem großen Wurf schließen zu können,21 wollen wir nachfolgend am Beispiel der bundesdeutschen Klassengesellschaft untersuchen, wie sich Klassendifferenzen und ökologischer Gesellschaftskonflikt im Bewusstsein sozialer Großgruppen zueinander verhalten. Auf der Basis eigenen empirischen Materials und eines von uns entwickelten Klassenmodells befassen wir uns schwerpunktmäßig mit dem Gesellschafts- und Klima-, oder umfassender: dem Naturbewusstsein von Erwerbsklassen. Unter den Bedingungen jenes epochalen Umbruchs, den wir als Zangenkrise bezeichnet haben,22 gehen Klassenauseinandersetzungen und ökologischer Gesellschaftskonflikt eine spannungsvolle Synthese ein. Es wirken zwei Konfliktdynamiken, die keineswegs konvergieren, aber auch nicht völlig unabhängig voneinander wirken. Wie sich die soziale und die ökologische Frage zueinander verhalten, ist Gegenstand von Kämpfen um Deutungsmacht und Durchsetzungsfähigkeit gesellschaftlicher Akteure. Doch über alle Unwägbarkeiten hinweg lassen sich Klassenauseinandersetzungen in frühindustrialisierten Gesellschaften nur noch verstehen, wenn sie, so unsere These, im Kontext des ökologischen Gesellschaftskonflikts, oder weiter gefasst: vor dem Hintergrund pluraler Ungleichheitsachsen betrachtet werden, wie sie für moderne kapitalistische Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts charakteristisch sind.
Wir begründen diese Sichtweise in mehreren Schritten. Nach einem Blick auf die aktuelle Debatte um soziale Klassen und den ökologischen Gesellschaftskonflikt werden theoretischer Rahmen und empirische Grundlagen unserer Untersuchung vorgestellt (2), um sodann die beiden Hauptachsen von Transformationskonflikten in den Blick zu nehmen (3). Anschließend geht es um klassenspezifische Ausprägungen von Gesellschaftsbildern und Klimabewusstsein (4) sowie um die Relevanz klassenüberspannender Konfliktlinien (5). Am Beispiel eines Stahlproduzenten betrachten wir in einem Exkurs mikrosoziale Dynamiken und Veränderungen im Zeitverlauf (6). Überlegungen zu den Charakteristika moderner Transformationskonflikte schließen den Beitrag ab (7).
Beginnen wir mit der sozialwissenschaftlichen Debatte um Klasse und Natur und dem theoretischen Rahmen unserer Forschungen zu Transformationskonflikten in der Arbeitswelt.
Lange setzte die ökologische Aufklärung auf eine demokratische »Allbetroffenheit« (Beck 1986: 27) durch Großgefahren wie die des Klimawandels, vernachlässigte jedoch die darin angelegten Gerechtigkeitsproblematiken. Das hat sich mittlerweile geändert. Die Erkenntnis, wonach ökologische Großgefahren zwar alle betreffen, aber eben nicht in gleicher Weise, wird mehr und mehr zum Standardwissen einer interdisziplinären Transformationsforschung (Club of Rome/Wuppertal Institut 2024). Schaut man genauer hin, stößt man indes auf eine Forschungslandschaft, die sich - vorsichtig formuliert - durch Uneindeutigkeit auszeichnet. Im Bemühen, die verbreitete Klassenvergessenheit (»class cluelessness«; Williams 2017: 4) zu korrigieren, zeichnen sich in den sozialwissenschaftlichen Debatten zwei einander diametral entgegengesetzte Positionierungen ab. An dem einen Pol finden sich Deutungen, die davon ausgehen, dass der ökologische Gesellschaftskonflikt das Terrain der Klassenauseinandersetzungen lediglich erweitert (Foster u.a. 2011). Der Kampf gegen die Erderhitzung gilt als »class war« (Huber 2022: 3), der mit einem »focus on production« (ebd.) um die Kontrolle elementarer Lebensbedingungen geführt wird. Dies sei der Kampf eines ökologischen Proletariats, das im »proletarocene« (ebd.: 287) Humanität schlechthin verkörpere. Die Gegenthese am anderen Pol lautet, eine ökologische Klasse könne sich nur »gegen die Produktion«...
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