Schweitzer Fachinformationen
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Die vierundsiebzig Jahre alte Alma Konachek wohnt in Vredehoek, einem oberhalb des Zentrums von Kapstadt gelegenen Vorort mit warmem Regen, Dachgeschossen mit großen Fenstern und leisen, raubtierhaften Autos. Hinter ihrem Garten erhebt sich der Tafelberg, riesig, grün und gewellt, und von ihrem Küchenbalkon aus sieht sie tausend Lichter der Stadt kerzengleich hinter Nebelschwaden flimmern und flackern.
Eines Nachts im November, gegen drei Uhr morgens, wacht Alma auf und hört, wie sich das Sicherheitsgitter vor ihrer Haustür klappernd öffnet und jemand das Haus betritt. Ihre Arme zucken, sie stößt das Glas Wasser auf dem Nachttisch um. Eine Bodendiele im Wohnzimmer quiekt. Sie hört etwas, das Atmen sein könnte. Wasser tropft auf den Boden.
Alma gelingt ein Flüstern: «Hallo?»
Ein Schatten schwebt durch den Flur. Sie hört einen Schuh auf der Treppe, dann nichts mehr. Nachtluft weht ins Zimmer, der Geruch von Wachsblumen und Holzkohle. Alma drückt sich eine Faust aufs Herz.
Hinter den Fenstern zum Balkon treiben mondbeschienene Wolkenfetzen über die Stadt. Vergossenes Wasser kriecht auf die Schlafzimmertür zu.
«Wer ist da? Ist da jemand?»
Die Standuhr im Wohnzimmer hämmert die Sekunden durch. In Almas Ohren pocht das Blut. Der Raum scheint sich ganz langsam zu drehen.
«Harold?» Alma weiß, dass Harold tot ist, aber sie kann nicht anders. «Harold?»
Wieder ein Schritt, aus dem ersten Stock, wieder eine protestierende Diele. Es vergeht vielleicht eine Minute. Möglich, dass sie hört, wie jemand die Treppe herunterkommt. Sie braucht eine weitere volle Minute, um genug Mut zu sammeln und ins Wohnzimmer zu schlurfen.
Die Haustür steht weit offen. Die Ampel am Ende der Straße blinkt gelb, gelb, gelb. Das Laub ist stumm, die Häuser sind dunkel. Sie wuchtet das Sicherheitsgitter vor die Türöffnung, schlägt die Tür zu, schiebt den Riegel vor und sieht durchs Gitterfenster. Innerhalb von zwanzig Sekunden steht sie am Tisch im Flur und nimmt einen Stift.
Ein Mann, schreibt sie. Großer Mann im Garten.
Alma steht barfuß und ohne Perücke mit einer Taschenlampe im oberen Schlafzimmer. Die Uhr unten im Wohnzimmer tickt und tickt und lässt die Nacht verrinnen. Vor einem Moment noch, da ist sich Alma sicher, hat sie etwas Wichtiges getan. Etwas, bei dem es um Leben und Tod ging. Aber sie kann sich nicht erinnern, was es war.
Das eine Fenster steht einen Spaltbreit offen. Das Gästebett ist ordentlich gemacht, die Decke glatt gezogen. Auf dem Nachttisch steht ein mikrowellengroßer Apparat mit einer Plakette, auf der Eigentum der Stadt Kapstadt, Gedächtnis-Zentrum steht. Drei Spiralkabel verbinden ihn mit etwas, das ungefähr wie ein Fahrradhelm aussieht.
Die Wand vor Alma hängt voller Zettel, Diagramme, Karten, abgerissener, vollgekritzelter Blätter. Und zwischen all dem Papier glänzen Hunderte Plastikkassetten, jede etwa groß wie ein Streichholzbriefchen, mit einer eingravierten vierstelligen Nummer und einem einzelnen Loch, mit dem sie auf einer Stecknadel hängen.
Der Lichtkegel von Almas Taschenlampe trifft auf das Farbfoto eines Mannes, der aus dem Meer kommt. Sie berührt seinen Rand. Die Hose des Mannes ist bis zu den Knien aufgekrempelt, sein Gesicht zu einem Grinsen verzogen. Kaltes Wasser. Sie weiß, dass die Schrift auf dem Foto die ihre ist, es ist sein Name, Harold. Sie kennt diesen Mann. Sie kann die Augen schließen und sich an das Rosa seines Zahnfleischs erinnern, an die Falten seines Halses, die Hände mit den großen Knöcheln. Er war ihr Mann.
Um das Foto wachsen Zettel und Plastikkassetten in engen, sich überlappenden Schichten, mit Heftzwecken, Kaugummis und Nägeln befestigt. Sie sieht Aufgabenlisten, Schmierzettel und Zeichnungen von Wesen, die prähistorische Tiere oder Ungeheuer sein könnten. Sie liest: Pheko kannst du trauen. Und: Nimm Pollys Coca-Cola mit. Auf einem Flugblatt steht: Porter Immobilien. Es gibt auch merkwürdigere Ausdrücke: Dinocephalia, spätes Perm, gewaltiger Wirbel-Friedhof. Einige Blätter sind leer, auf anderen ist lauter Durchgestrichenes und Wegradiertes. Auf einer halben, aus einer Broschüre gerissenen Seite ist ein Satz mehrfach zittrig unterstrichen: Erinnerungen sind nicht in den Zellen gespeichert, sondern im extrazellulären Raum.
Einige der Kassetten sind von ihrer Hand beschriftet, unterhalb der Nummern. Museum. Begräbnis. Party bei Hattie.
Alma blinzelt. Sie hat keinerlei Erinnerung daran, etwas auf kleine Kassetten geschrieben, Seiten aus Büchern gerissen oder Dinge an die Wand geheftet zu haben.
Sie sitzt im Nachthemd auf dem Boden, die Beine ausgestreckt. Ein Windstoß streichelt durchs Fenster herein, und die Zettel erwachen zum Leben, tanzen und zerren an ihren Stecknadeln. Lose Seiten wirbeln über den Teppich. Die Kassetten klappern leise.
Etwa auf der Mitte der Wand findet der Strahl ihrer Taschenlampe ein weiteres Mal das Foto des Mannes, der aus dem Meer kommt, das Gesicht zu einem Grinsen verzogen. Das ist Harold, denkt sie. Er war mein Mann. Er ist gestorben. Vor Jahren. Natürlich.
Vor dem Fenster, hinter den Palmenkronen, hinter den Lichtern der Stadt, badet der Ozean im Licht des Mondes, versinkt im Schatten. Mondlicht, dann Schatten. Ein Hubschrauber fliegt vorbei. Die Palmwedel bauschen sich.
Alma sieht nach unten. Da ist ein Zettel in ihrer Hand. Ein Mann, steht darauf. Großer Mann im Garten.
Pheko fährt den Mercedes. Wohnblöcke spiegeln die Morgensonne, Limousinen surren vor roten Ampeln. Sechsmal späht Alma zu den vorbeiwischenden Schildern hinaus und fragt ihn, wohin es geht.
«Wir fahren zum Doktor, Mrs Alma.»
Zum Doktor? Alma reibt sich unsicher die Augen. Sie versucht sich die Lunge zu füllen und zupft an ihrer Perücke. Die Reifen quietschen, als der Mercedes die Zufahrt zum Parkhaus hinauffährt.
Dr. Amnestys Treppenhaus ist aus rostfreiem Stahl und von Farnen gesäumt. Da ist die schussfeste Tür, die Adresse steht in Schablonenschrift in der Ecke. Das alles ist Alma vertraut wie ein Haus aus der Kindheit. Als wäre sie seit dem letzten Mal doppelt so groß geworden.
Der Türöffner lässt sie ins Wartezimmer. Pheko trommelt mit den Fingerspitzen auf sein Knie. Vier Stühle weiter sitzen zwei gut gekleidete Frauen neben einem Aquarium, die eine ist ein paar Jahrzehnte jünger als die andere. Beide tragen dicke Perlen in den durchstochenen Ohrläppchen. Alma denkt: Pheko ist der einzige Schwarze im ganzen Gebäude. Im Augenblick kann sie sich nicht daran erinnern, was sie hier machen. Aber dieser lederbezogene Stuhl, die blauen Kiesel im Salzwasseraquarium . Es ist die Gedächtnisklinik. Natürlich. Dr. Amnesty. In Green Point.
Nach einer Weile wird Alma zu einem mit zerknittertem Papier bedeckten gepolsterten Stuhl gebracht. Das ist jetzt alles vertraut: die Pappschachtel mit den Gummihandschuhen, der Plastikteller für ihre Ohrringe, zwei Elektroden kommen unter ihre Bluse. Sie nehmen ihr die Perücke ab und reiben ihr ein kaltes Gel auf den Schädel. Der Fernsehschirm zeigt Sanddünen, Löwenzahn, Bambus.
Amnesty. Ein lächerlicher Name. Was bedeutet er? Eine Begnadigung? Einen Aufschub? Nein, es ist mehr als nur ein Aufschub, oder? Eine Begnadigung für begangene Missetaten. Für jemanden, der eine Missetat begangen hat. Sie nimmt sich vor, Pheko zu bitten, das Wort nachzuschlagen, wenn sie nach Hause kommen. Oder vielleicht erinnert sie sich auch selbst daran, es zu tun.
Die Schwester sagt etwas.
«Und funktioniert Ihr Stimulator zu Hause gut? Spüren Sie irgendwelche Verbesserungen?»
«Verbesserungen?» Sie denkt schon. Es scheint sich zu verbessern. «Die Dinge sind klarer», sagt Alma. Sie glaubt, dass sie solche Dinge sagen soll. Neue Pfade werden gelegt. Sie erinnert sich, wie sie sich erinnern soll. Das wollen sie von ihr hören.
Die Schwester murmelt etwas. Füße wispern über den Boden, eine unsichtbare Maschinerie summt. Alma spürt dumpf, wie die Gummikappen aus den Ports in ihrem Schädel gedreht werden und sich vier Schrauben gleichzeitig in die Öffnungen senken. Sie hält einen Zettel in der Hand: Pheko wartet draußen. Pheko wird Mrs Alma nach der Sitzung nach Hause fahren. Natürlich.
Eine Tür mit einem schmalen Fenster darin öffnet sich. Ein blasser Mann in einem grünen OP-Kittel läuft vorbei und riecht nach Kaugummi.
Alma denkt: Es gibt hier noch mehr gepolsterte Stühle, mehr Räume wie diesen, mit Apparaten, die den Deckel von verwirrten Gehirnen heben, nach Erinnerungen suchen und diese Erinnerungen in kleine Kassetten gravieren. Die gegen das Vergessen anzukämpfen versuchen.
Ihr Kopf ist arretiert. Aluminiumjalousetten klacken gegen das Fenster. In den Pausen zwischen den Atemzügen kann sie den Verkehr vorbeiseufzen hören.
Ihr wird der Helm aufgesetzt.
«Erinnerungen werden nicht in Form molekularer Veränderungen...
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