Schweitzer Fachinformationen
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Die Gerber-Falle
Gerbers Reich lag gefühlte vierhundert Stockwerke über Normal Null, und schon allein die Bitte, in sein Büro zu kommen, wäre Grund genug gewesen, den Betriebsrat einzuschalten. Mit Rauschen in den Ohren stützte Elmo sich am Treppengeländer ab und begutachtete die zurückgelegten Stufen. Schweißtropfen fielen von seiner Stirn in den Schacht. 520 Stufen in sage und schreibe weniger als sechs Minuten! In ihm wuchs eine Mischung aus Stolz und Ohnmacht.
»Guten Morgen, Herr Jürgen. Interessantes Outfit, das Sie da tragen«, grüßte Gerbers Sekretärin Frau Poschke, die wie aus dem Zauberkasten hinter ihm erschienen war. Auch sie pfiff wie ein undichter Fensterrahmen. »Sie haben doch nicht etwa vor, zu springen?«
Elmo zuckte erschrocken zusammen und stieß sich schwungvoll vom kühlen Metall des Geländers ab, das bedrohlich zu schwingen begann. Natürlich wollte er nicht springen, was für eine blöde Frage. Dafür arbeitete er noch nicht lange genug in dieser Firma.
»Nee nee, wenn Sie wollen, können Sie gerne«, antwortete Elmo.
Bevor er bis zwei zählen konnte, erntete er eine Exklusivansicht auf ein lippenstiftverschmiertes Gebiss. Frau Poschke lachte. Lauthals prustete sie endlose Begeisterung über so viel Lustigkeit durch ihre Nasenlöcher, und als wäre das noch nicht genug, fing sie an, mit den Handflächen wild gegeneinander zu klatschen.
»Sehr gut, Herr Jürgen!«, überschlug sich ihr Gackern. »Ausgezeichnet. Doch im Ernst, was hat es mit Ihrem Kostüm auf sich?«
Wortlos musterte er Gerbers Kaffeetaxi von den Hackenschuhen bis zur haarsprayfixierten Dauerwelle, in die sie ein fragwürdiges Kunstwerk aus Bändern und Spangen eingearbeitet hatte. Wenn sich hier mal jemand besser nicht zum Thema Outfit äußern sollte, dann war es ja wohl Frau Poschke, fand er. Frau Poschke, die Frau in Grau-kariert. Doch er freute sich, dass sie beinahe seinen Namen wusste.
»Habe gleich ein Gespräch beim Chef«, stammelte er.
»Und Sie wollen ihm vorschlagen, dass er dieses Jahr einen Wagen beim Kölner Karneval stiftet?«
»Wäre eine großartige Idee.«
»Sie haben Humor, Herr Jürgen. Habe schon gehört, wie Sie in der Kantine alle zum Lachen gebracht haben. Köstlich!«
Ohne weiter auf das Thema einzugehen, fiel ihr ein, dass sie ja nicht zum Quatschen hergekommen war. Sie machte eine Kopfbewegung, die er als >viel Erfolg<, >solche Mitarbeiter braucht das Unternehmen< oder aber auch einfach nur als >Trottel< interpretieren konnte. Durfte er sich aussuchen. Dann setzte sie sich in Bewegung. Gedankenleer blickte Elmo ihr hinterher. Erst als sie nicht mehr zu sehen war, realisierte er die Parfumwolke, die sie zurückgelassen hatte. Sie färbte die Luft süß wie sonst nur der feine Eispulverstaub, der in der Luft lag. Elmo weitete die Nasenlöcher und schnupperte. Irgendwann verschwand Frau Poschke hinter einer der Türen. Es war dieselbe Tür, neben der ein glänzendes Kunststoffschild in Augenhöhe angeschraubt war, wie er feststellte, als auch er kurz darauf das Ende des Flures erreicht hatte: >Geschäftsleitung - Wilfried Gerber<.
In Schnörkelschrift.
Elmos Knie zitterten.
Ob noch immer vom Aufstieg oder bereits vor wachsender Aufregung konnte er nicht ausmachen. Im Grunde war es auch egal, denn hinter der Tür wartete ein Stuhl auf ihn, auf dem er in Kürze Platz nehmen würde. Da brauchten wackelige Knie jetzt seine kleinste Sorge zu sein. Elmo las das Schild vier weitere Male, bevor er sich einen Ruck gab. Er versteckte die Taucherbrille in einem Wust von Blättern einer Yuccapalme, die dem sterilen Flur einen Hauch von Leben verleihen sollte, und stopfte sein Pyjamaoberteil hektisch in seinen Hosenbund. Entschlossen flutete er seinen Brustkorb mit Sauerstoff, bis ihm die Tränen in die Augen schossen.
Ach Gottchen, nicht auch noch verheulte Augen. Was würde das für einen Eindruck machen. Er strich mit Daumen und Zeigefinger über die Augenlider, wischte seinen Ärmel durchs gerötete Gesicht und gab seinen Füßen den Marschbefehl. Unmenschliche Seitenstiche drückten auf sein Zwerchfell. Elmo umgriff das kühle Metall der Klinke, bis die Knöchel weiß durch seine Haut schimmerten und zählte leise von drei herunter. Drei, zwei . Genau einen halben Tick vor eins gab die Tür unerwartet nach, um ihn ruckartig in den Raum zu ziehen, wo er einer erschrockenen Frau Poschke gegenüberstand. »Hallo Frau Poschke«, grüßte Elmo verblüfft.
Es folgte schrilles Kreischen, dann ein fliegendes Tablett. Kaffeetassen knallten ihm vor die Füße. Polterabend! Über ihre verkrampfte Schulter hinweg sah Elmo, wie auch Herrn Gerber eine Tasse durch die Finger rauschte. Im Zeitraffer verfolgte Elmo, wie eine braune Flüssigkeit über den Schreibtisch plätscherte und einen Stapel Dokumente sprenkelte. Im selben Moment beobachtete er eine Folge theaterreifer Mundbewegungen seines Chefs. Analog fiel ihm ein umgekippter Bilderrahmen auf, in dessen Richtung der Kaffee seine Bahn zog.
»Och, wie süß! Alles Ihre?« Elmo griff über die Stuhllehne und rettete eine gerahmte Horde Kinderchen, die mit Zahnpastawerbespot-Grinsen vor einer Kamera hockten und schlechten Kleidergeschmack zum Besten gaben. Allesamt Mädchen. Alle hundeköterblond. Alle mit dem Kreppbügeleisen verunstaltet.
»Hin-stell-lllllen!«, brüllte Gerber mit flatternden Backen.
Hektisch rubbelte Elmo mit den Fingerspitzen über das Glas des Bilderrahmens und tat, wie ihm befohlen: In bester Absicht setzte er Gerbers Brut zurück auf den Tisch, wobei er genau in den Kaffeesee traf. Herr Gerber tauchte in eine unerwartete Sprachlosigkeit ab. Frau Poschke, die mit knackenden Kniegelenken Tassen, Henkel und Zuckerwürfel vom Boden pickte, vernahm das Schauspiel aus zweiter Reihe, stellte jedoch umgehend ihre Bewegung ein, als ihr Chef verstummte. Eine gänzlich neue Facette: Gerber und sprachlos. Elmo glaubte, sogar ein paar Rauchwölkchen aus Gerbers Ohren aufsteigen zu sehen. Fieberhaft griff er zum gerahmten Ungeschick und schüttelte den vollgesogenen Rahmen masturbatorisch durch die Luft. Verdutzte Blicke. Erst als kein einziger Tropfen mehr durch die Luft flog, bugsierte er das Foto zurück auf den Tisch. Diesmal feinsäuberlich neben die Pfütze.
Mit einem »Sieh einer an. Wie frisch aus dem Urlaub« durchbrach Elmo die unerträgliche Sprachlosigkeit und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die eingesperrten Mädchen, die jetzt kaffeebraun durchs verschmierte Glas winkten.
Frau Poschke beschleunigte ihre Bewegungen, um die letzten Teile ihres Porzellanmosaiks zusammenzusammeln. Nachdem ihr das gelungen war, wischte sie mit einer Serviette über den Tisch und erkundigte sich unterwürfig bei Herrn Gerber, ob er sie noch brauchen würde. Sie stand da wie ein Mädchen zur Einschulung. Gerber schien noch immer nach den passenden Worten zu suchen. Dann pfiff er ihr ein knappes »Nein« zu.
Das Nein war noch nicht ganz verhallt, da hörte man hinter Frau Poschke bereits die Tür ins Schloss schnappen.
»Sie werden Frau Poschke doch deswegen jetzt nicht kündigen, oder?«, unkte Elmo, als nur noch er und sein Chef im Raum standen. Elmos Problem war, dass es ihm oft schwerfiel, lustig von unlustig zu unterscheiden.
Gerber ließ die Frage unbeantwortet. Während er das Zimmer weiterhin mit Schweigen füllte, setzte er kurze Schritte in Richtung Fenster, um dort stehen zu bleiben und eine der hellen Stofflamellen von der Fensterbank zu ziehen. Herr Gerber hatte die Statur eines Felsens. Seelenruhig verankerte er den Blick irgendwo außerhalb des Büros, als er seinen Angestellten räuspernd dazu aufforderte, Platz zu nehmen. Elmo folgte der Aufforderung wie hypnotisiert. Er zog den Stuhl geräuschvoll vom Tisch und setzte sich. Gerber blickte immer noch durch das Glas. Dann drehte er sich zu ihm um, als wäre er ein Cowboy und bereit zum Duell.
»Herr Jürgen, können Sie mir bitte den Aufzug erklären?«, fragte Gerber mit einer Stimme, die keinen Zweifel darüber ließ, wer hier wen eingestellt hatte.
»Ich wusste, dass es irgendwo einen geben muss. Kein Mensch steigt täglich so viele Stufen«, trällerte Elmo heiter. Wie gesagt, sein Problem war, dass es ihm schwerfiel, lustig von unlustig zu unterscheiden. Dabei hätte er schon in der Kantine ahnen müssen, spätestens jedoch nach der Treppenhausbegegnung mit Frau Poschke, dass sich möglicherweise auch Herr Gerber für seine merkwürdige Verkleidung interessieren könnte.
»Sollte ein Witz sein«, bröckelte Elmos Stimme wie Putz von der Wand, als er spürte, dass Gerber einen anderen Humor bevorzugte. Also lenkte er ein. »Sie kennen doch die Frau Henschel.« Sich jetzt auf die Schnelle eine Geschichte auszudenken, käme in puncto Absurdität der Wahrheit nahe, also entschied er sich gleich fürs Zweite. Mit hektischem Ruckeln justierte Elmo seine Sitzposition und begann irgendetwas von Adam und Eva zu erzählen. Daraufhin von Palästina. Dann von einer Fernsehserie, die er mal gesehen hatte. Worum es da genau ging, erinnere er nicht mehr im Einzelnen, nur, dass sein Großvater, der die Serie auch regelmäßig guckte, einmal zu ihm sagte, dass einem nichts auf der Welt geschenkt würde. Ob es im Zusammenhang mit der Serie stand, wusste er nicht mehr genau. Er fand jedoch, dass da was Wahres dran sei. Mit seligem Lächeln rezitierte Elmo noch zwei, drei Weisheiten aus dem Wissensfundus seines...
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