Mit Thränen nahm Friederike von ihm Abschied, als er ihr vom Pferde herab nochmals die Hand reichte. Sie hatte ihn wahrhaft geliebt. Sie soll später mehrere Heirathsanträge mit der Aeußerung zurückgewiesen haben: "wer einmal Goethe'n geliebt, könne keinen Andern lieben." Ein sonderbarer Zufall begegnete ihm nach jenem schmerzlichen Abschiede auf seinem Ritt nach Drusenheim. Seine eigene Gestalt glaubte er zu erblicken, die ihm zu Pferde entgegenkam, in einem hechtgrauen, mit Gold verbrämten Kleide, wie er es wirklich nach acht Jahren trug, als er noch einmal in Sesenheim einen Besuch machte. Friederike sah ihn seitdem nicht wieder. Sie soll jedoch, nach seinen brieflichen Aeußerungen, schon damals sich mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, auf seinen Besitz zu verzichten.
Goethe's Empfang im elterlichen Hause übertraf seine Erwartungen. Erfreut, seinen Sohn durch die erlangte Doctorwürde seinem künftigen Beruf um einen Schritt näher gerückt zu sehen, ließ Goethe's Vater den Beifall, den er der Dissertation gezollt, auch auf mehrere Gedichte, Aufsätze und Skizzen übergehen, die Goethe während seines Aufenthalts in Straßburg entworfen hatte. Von seinen Leipziger Bekannten fand Goethe in Frankfurt, außer seinem Landsmann und nachherigen Schwager Schlosser, auch dessen Bruder, einen tüchtigen Juristen, der nebenher der Poesie huldigte, und die Hochzeit von Goethe's Schwester Cornelia durch ein zu Frankfurt 1773 in Folio gedrucktes Gedicht verherrlichte.
Wichtig und einflußreich ward für Goethe die Bekanntschaft mit Merk, der damals als Kriegszahlmeister in Darmstadt lebte, und mit mannigfachen Kenntnissen und einer vielseitigen Bildung, unerschütterliche Redlichkeit und einen offenen, geraden Charakter verband. Lebhaft interessirte er sich in mehrfacher Hinsicht für Goethe und dessen Talente, und väterlich warnte er ihn, seine Thätigkeit nicht nach den verschiedenartigsten Richtungen zu zersplittern. Er ermunterte ihn, seine Fähigkeiten und Kräfte zu concentriren, und tadelte ihn, wenn er eine begonnene literarische Arbeit wieder aufgab, und immer nur Skizzen und Fragmente lieferte. Unter solchen Aufmunterungen entwarf Goethe die ersten Umrisse zum "Faust" und "Götz von Berlichingen."
Durch die Beschäftigung mit dem zuletzt genannten dramatischen Werk war Goethe in das fünfzehnte und sechszehnte Jahrhundert zurückgeführt worden. Luthers Leben und Thaten, die in jenem Zeitraum so herrlich hervorglänzten, näherten ihn wieder der heiligen Schrift und der Betrachtung religiöser Gefühle und Meinungen. Er übte seinen Scharfsinn an dem Alten und Neuen Testament in exegetisch kritischen Untersuchungen. Zu einem besondern Studium machte er das Dogma von der Erbsünde. Ausführlich erörterte er diese Lehre in einem dem Druck übergebenen Briefe, den er unter der Maske eines Landgeistlichen an seinen Amtsbruder richtete. Ebenfalls angeblich von einem Landpfarrer in Schwaben verfaßt, war der von Goethe herausgegebene "Versuch einer gründlichen Beantwortung einiger bisher unerörterten biblischen Fragen." Ueber den Inhalt der zuletzt genannten Schrift legte Goethe selbst in spätern Jahren das offene Bekenntniß ab: "Ich gerieth damals auf die wunderlichsten Einfälle. Ich glaubte gefunden zu haben, daß nicht unsere zehn Gebote auf den Tafeln Moses gestanden, daß die Israeliten keine vierzig Jahre, sondern nur kurze Zeit durch die Wüste gewandert wären u.s.w. Auch das Neue Testament war vor meinen Untersuchungen nicht sicher. Ich verschonte es nicht mit meiner Sonderungslust, und glaubte auch in dieser Region allerlei Entdeckungen zu machen. Die Gabe der Sprachen am Pfingstfest in Glanz und Klarheit ertheilt, deutete ich mir auf eine etwas abstruse Weise, nicht geeignet, sich viele Theilnahme zu verschaffen." Die erwähnten kleinen Schriften, ein Verlagsartikel des Buchhändlers Eichenberg in Frankfurt am Main, erschienen 1773 ohne Angabe des Druckorts und Verlegers, und wurden in die neuesten Ausgaben von Goethe's Werken aufgenommen. Aus diesem Ideenkreise ward er wieder entfernt durch das wachsende Interesse an seinem Ritterschauspiel "Götz von Berlichingen." Manche historische Studien waren ihm dabei unerläßlich. Dem Werke von Datt: de pace publica verdankte er manche Aufklärung der dunkeln Zeitperiode, in der sein Stück spielte. Seine Stimmung, während er mit seinem dramatischen Werke beschäftigt war, schilderte er den 28. November 1771 in einem Briefe an seinen Freund, den Actuar Salzmann in Straßburg. "Sie kennen mich so gut," schrieb er, "und dennoch wett' ich, Sie errathen nicht, warum ich nicht schreibe. Es ist eine Leidenschaft, eine ganz unerwartete Leidenschaft; Sie wissen, daß mich dergleichen in ein Cirkelchen werfen kann, daß ich Sonne, Mond und die lieben Sterne darüber vergesse. Ich kann nicht ohne das seyn, Sie wissen es lange, und koste es was es wolle, ich stürze mich drein. Dießmal sind keine Folgen zu befürchten. Mein ganzer Genius liegt auf einem Unternehmen, worüber Homer und Shakspeare und Alles vergessen werden. Ich dramatisire die Geschichte eines der edelsten Deutschen, rette das Andenken eines braven Mannes, und die viele Arbeit, die mich's kostet, macht mir einen wahren Zeitvertreib, den ich so nöthig habe. Es ist traurig, an einem Orte zu leben, wo unsere ganze Wirksamkeit in sich selbst summen muß. Ich ziehe mit mir selbst auf dem Felde und auf dem Papier herum. Es wäre aber eine traurige Gesellschaft, wenn ich nicht alle Stärke die ich in mir fühle, auf ein Object würfe, und das zu packen und zu tragen suchte, so viel mir möglich, und was nicht geht, das schleppe ich. Ich hoffe Sie nicht wenig zu vergnügen, wenn ich Ihnen einen edlen Vorfahren, die wir leider nur von ihren Grabsteinen kennen, im Leben darstelle. Wie oft wünsche ich Sie hierher, um Ihnen ein Stückchen Arbeit zu lesen und Urtheil und Beifall von Ihnen zu hören. Hier ist Alles um mich herum todt. Frankfurt bieibt [bleibt] das Nest, Nidus, wenn Sie wollen, wohl um Vögel auszubrüten, sonst auch figürlich Spelunca. Gott helfe aus diesem Elend, Amen." In einem spätern Briefe an Salzmann vom 3. Februar 1772 dankte Goethe dem Freunde für den Beifall, den er den ihm mitgetheilten Proben des Götz von Berlichingen zollte, und fügte hinzu. "Das Diarium meiner Umstände ist, wie Sie wissen, für den geschwindesten Schreiber unmöglich. Inzwischen haben Sie aus dem Drama gesehen, daß die Intentionen meiner Seele dauernder werden, und ich hoffe, sie soll sich nach und nach bestimmen. Aussichten erweitern sich täglich, und Hindernisse räumen sich weg. Ein Tag mag bei dem andern in die Schule gehen; denn einmal für allemal, die Minorennität läßt sich doch nicht überspringen."
So stark auch das Interesse an seinem dramatischen Werke seyn mochte, ließ sich doch der andere Eindruck auf Goethe's Gefühl dadurch nicht beschwichtigen. Tief ergriffen hatte ihn ein Brief aus Sesenheim. Er fühlte Friederikens Schmerz, ohne ihn lindern zu können. Losreißen mußte er sich von der düstern Stimmung, die sich seiner bemächtigte und seine ganze Thätigkeit zu lähmen drohte. Er bedurfte der Zerstreuung. Erst in der freien Natur fühlte er sich wieder wohler. Seine Freunde nannten ihn den Wanderer, weil er oft mehrere Tage in der Umgegend von Frankfurt umherstrich, und bisweilen selbst den Weg nach Darmstadt und Homburg einschlug. Auf diesen einsamen Wanderungen entstanden mehrere seiner lyrischen Poesieen, unter denen sich nur das Gedicht: "Wanderers Sturmlied", das er, während er einem furchtbaren Wetter entgegenging, vor sich hin recitirte, in seinen Werken erhalten hat. Bisweilen beschränkte er seine Streifzüge blos auf Frankfurt und die Vorstädte dieses Orts. Er kam dadurch mit den verschiedenen Ständen und Volksklassen in Berührung. In einem Briefe vom ersten Juni 1773 erzählte Goethe, wie er rüstig Wasser herbeigeschleppt, um ein Nachts in der Judengasse ausgebrochenes Feuer löschen zu helfen. "Die wundersamsten, innigsten, mannigfachsten Empfindungen", schrieb er, "haben mir meine Mühe auf der Stelle belohnt. Ich habe bei dieser Gelegenheit das gemeine Volk wieder kennen gelernt und bin überzeugt worden, daß es doch die besten Menschen sind."
Durch seine scheinbar zerstreute Lebensweise ward Goethe's Thätigkeit nicht unterbrochen. Wenigstens entging ihm keine der neuern literarischen Erscheinungen in dem Gebiete der Literatur. Von dem Eindruck, den Herders "älteste Urkunde des Menschengeschlechts" auf ihn gemacht, konnte er sich selbst kaum Rechenschaft geben. In einem Briefe an einen Freund des elterlichen Hauses, an den damals in Algier lebenden dänischen Consul Schönborn, vom 8. Juni 1773, nannte er Herder's Werk "ein so mystisch weitstrahlsinniges Ganze, eine in der Fülle verschlungener Aeste lebende Welt, daß weder eine Zeichnung nach verjüngtem Maßstabe einigen Ausdruck der Riesengestalt nachäffen, noch eine treue Silhouette einiger Theile melodisch und mit sympatethischem Klang in der Seele anschlagen könnte. Herder", fügte er hinzu, "ist in die Tiefen seiner Empfindung hinabgestiegen, hat darin alle die hohe heilige Kraft der simpeln Natur aufgewühlt, und führt sie nun in dämmerndem, wetterleuchtendem, hie und da morgenfreundlich lächelnden orphischem Gesange vom Aufgange herauf über die neue Welt, nachdem er vorher die Lasterbrut der neuern Geister, Deisten, Atheisten, Philologen, Textverbesserer, Orientalisten u. s. w. mit Feuer und Schwert und Fluthsturm ausgetilgt."
Mit dieser glühenden Begeisterung für Herder contrastirte ein in diesem Briefe enthaltener heftiger Ausfall gegen Wieland, der durch eine nicht sonderlich günstige Beurtheilung des Götz von Berlichingen im deutschen Merkur Goethe's Autoreitelkeit gekränkt hatte und dadurch in seiner frühern Achtung sehr gesunken war. Klopstock ward Goethe's Lieblingsdichter. Die...