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Selbstbiographie
Es sind nicht leichte Erschütterungen und Erregungen, unter denen ich diese Lebensbeschreibung beginne, die mich treiben, sie anzufangen. Es ist ein unnatürliches körperliches Feuer, eine Hitze, der ich mit der Selbstbetrachtung, der Rückschau begegnen will. Mir hilft nicht Brom, ich kann nicht schlafen, mein Appetit ist wie erloschen. Ich muß nachdenken, das Drängen in meiner Brust besänftigen, die rastlose Unruhe, die mich über die Straßen und Plätze treibt und wieder auf mein Zimmer zurück, hinlegen, hinschweigen. Ich gehe und sehe kaum einen Menschen, ich verlaufe mich, da ich nicht nach dem Straßenschild blicke; gequält bin ich sehr, verfolgt. Und ich hoffe, verfolgt von mir selbst.
Ich nähere mich jetzt den Vierzig. Viele graue Haare habe ich an den Schläfen, vieles, was mich früher sehr gelockt hat, ist mir jetzt nichts. Ich gehe über die Straßen, sehe stolze Wagen fahren - und ich bin neidisch; ich möchte auch meine Ruhe haben, die Sorge los sein, die sich mir immer nähert. Schöne Mädchen, stolze Fräulein mit lächelnden Herren: es ist mir nichts, das geht mich nichts an, das ist laues ödes Wasser; ich bin zu sehr gebrannt und geglüht worden; wie soll mein Organismus nicht so vernünftig sein und noch irgendein Gefühl dafür hergeben, noch irgendeine Kraft daran vergeuden. Ich verstecke mich nicht vor diesen Weibern; etwas wie Mitleid gegen sie habe ich und ein ganz fernes, kaum gezeichnetes schmerzliches Erinnern, eine blasse Traurigkeit, die ich belächeln kann. Ja, das ist ein Fortschritt: sie schreien mir nicht mehr zu: du bist allein, einsam, durchaus und völlig verlassen, - so daß mir die Kehle zugeschnürt war, ich auf mein Zimmer kroch, mich verkroch, die Fenster zuschloß, um nicht Tritte zu hören, nicht [L]achen, nicht Lautenklimpern, nicht die heimkehrenden Spaziergänger. Mir wurden solche entsetzlichen Abende und Halbnächte in Freiburg gut in die Erinnerung geätzt, wo ich tagelang, tagelang keine Silbe sprach, öfter vor mich [hin] summte und sang, bloß um wieder meine Stimme zu hören, die mir tröstlich wie die eines Fremden klang; ich sprach auf der Straße Kinder an, meine Stimme war mein einziger Freund. Ich suchte nicht diese Einsamkeit, ich habe sie so nie gesucht; ich lief frei herum, blieb in Einzelhaft! Was nützten mir die Berge, das blitzend schöne Wetter, die Berge und Wälder und Seen? Ich habe jahrelang und noch jetzt einen Haß auf sie gehabt, einen Widerwillen; sie bereiteten mir Pein; es ist, als ob ich allein in ein großes Vergnügungslokal trete und niemand spielt, alle Tische leer: wer soll sich da freuen. Bitterkeit: das ist der richtige Ausdruck; so empfinde ich oft genug jetzt noch Wälder. Wenn ich nicht schwermütig verliebt in sie bin, reif, weich, zärtlich, sohnsmäßig ergeben mich auf eine Wurzel setze, zu den Blättern aufblicke und mich in einem Grabe dünke, - in einem schönen weltfremden Raum. Die Tierchen um mich herum, die Käfer: alles stumm, sargmäßig, und doch mich rufend, daß ich mich lang hinstrecke, ausstrecke.
Ich lüge in diesen Zeilen nicht, ich will mir ja helfen. Noch freilich bin ich nicht ruhig, noch gar nicht.
Gibt es einen Vater, zu dem man aufblicken kann? So schön einhüllend müßte das sein. Es ist schlimm für jemand wie mich, daß er viele Stunden über, Tage, ja Monate gehetzt ist und niemand ihn aufnimmt. Ein Gott - es ist ein schöner Gedanke; er ist stolz und menschenkennerisch, der Gedanke, - er sagt: nicht an einen Menschen kann ich mich wenden, mir hilft nur Gott; das Mißtrauen gegen die Menschen hat uns diesen Gott eingegeben. Sonderbar ist, daß mich oft der Trieb befällt, eine Selbstbiographie zu schreiben. Ich wehre mich dagegen: ich sei noch jung genug, ich habe mehr zu tun als rückzublicken; aber meine frühere tiefinnerliche Überzeugung: »ich habe noch Zeit« ist sehr verblaßt. Manchmal kommt es mir vor, als ob ich diese russische Weite in dem Gefühl meines Lebens nicht mehr habe; die Kraft ist mir irgendwie geknickt, alle meine alten, sehr stolzen, kalten Gefühle kann ich nur noch denken: die Sicherheit ist weg; ich habe das Gefühl: so weit ist das Leben nicht, so viel Zeit habe ich nicht; nicht mehr. Manchmal sitzt es mir sogar im Nacken: ich soll noch etwas literarisch arbeiten, es hetzt mich, ich solle nicht faul sein. Und dabei war früher mein köstlichstes Gefühl: »Ich kann faul sein, ich kann flanieren.« Dies und daneben die tiefinnere Sicherheit, rocher de bronce: »Mir kann nichts passieren. Das Schlimmste ist sterben, eine größere Variation bietet das Leben nicht, und was tut mir das Sterben? Es ist mein Schicksal, ich bleibe, verbleibe darin, mein Bett ist größer geworden, ich kann mich besser strecken.« Darum fühl ich mich auch in manchen Stunden dem Wald so nahe, den Tieren so freundlich, wahrhaft brüderlich, auch der Luft, dem Donner, dem Eisen, Stein: so bewußtlos stumm und sicher inwendig bin ich wie sie; ich donnere und es ist vorbei, es war eine unzeitliche Regung trotzdem; so unberührbar stolz ist all dieses Tote, Bewußtlose, und doch Seiende. Der Tod hat für mich keinen Stachel, wir kennen uns, innerlich sitzt er in mir, er ist meines Wesens Kern: So war es früher, so fühlte ich. Und etwas auch jetzt. Aber die Angst des Daseins überwältigt mich oft, sie erstickt mich, ich vergesse mich, bin eine arme, umgetriebene Kreatur, dem der Tod nur der Erlöser, Retter heißt, dem er sich als Flüchtling naht - nicht mehr um als Zechgenosse mit ihm die Beine unter einen Tisch zu strecken. So verwandelt, zermürbt, aufgerührt bin ich jetzt. Und fast von Jahr zu Jahr mehr. Wie schmählich werde ich noch hinsterben. Wie meiner unwürdig wird da vieles sein.
Es hilft mir nicht, daß ich schreibe und schreibe. Es beruhigt mich nicht. Es wird wieder Geschriebenes. Es soll nicht geredet werden von mir, sondern von Doktor Döblin.
Dieser ziemlich kleine bewegliche Mann von deutlich jüdischem Gesichtsschnitt mit langem Hinterkopf, die grauen Augen hinter einem sehr scharfen goldenen Kneifer, der Unterkiefer auffällig zurückweichend, beim Lächeln die vorstehenden Oberzähne entblößend, ein schmales langes, meist mageres, farbloses Gesicht, scharflinig, auf einem schmächtigen, unruhigen Körper, - dieser Mensch hat kein bewegtes äußeres Leben geführt, dessen Beschreibung abenteuerliche oder originelle Situationen aufzeigen könnte. Hat nur in zwei Städten, Stettin und Berlin gelebt, eigentlich nur in Berlin, nämlich von seinem zehnten Jahr ab, vorübergehend ein halbes Jahr als Knabe in Hamburg, hat in Freiburg seine beiden letzten Studiensemester abgemacht in seinem sechsundzwanzigsten Jahr, war dann als Medizindoktor etwa ein Jahr an einer Irrenanstalt bei Regensburg, weitere zwei Jahre an der Irrenanstalt Buch bei Berlin, dann immer noch Assistenzarzt trotz seinen nunmehrigen dreißig Jahren in Berlin an einem Krankenhaus. Nach drei Jahren verheiratet, Innerer Arzt in Berlin. Kaum daß er einmal einen Ausflug nach Basel machte auf seiner Rückkehr als junger Doktor von Freiburg, daß er zur Weltausstellung ein zwei Wochen Brüssel Antwerpen Ostende sah; auch ein paar Tage München passierte. Er war Berliner mit blasser Ahnung von anderen Orten und Gegenden.
Stettin, eine trübe verkommende Provinzstadt nach seiner Erinnerung, mit einem grellen Jahrmarkt auf dem Paradeplatz, Spielplätzen auf den Treppenabsätzen eines tief herabsteigenden Rathauses, hatte er als zehnjähriger Junge mit seiner Familie unter schlimmen Umständen verlassen: Sein Vater hatte das vermocht. Der war ein - ja sage ich: besserer Schneidermeister oder Konfektionsfabrikant; er hielt sich jedenfalls eine Anzahl Schneider und Zuschneider, auch Schneiderinnen, Näherinnen; diese hatten in oder bei der Wohnung einen oder mehrere Arbeitsräume: lange Zuschneidetische, auf denen Tuche mit ungeheuren Scheren zerschnitten wurden; dann waren riesige Regale da mit Tuchballen. Gearbeitet wurde im Auftrage einiger fremder Firmen; er entsinnt sich häufig den Namen einer solchen angeblich großen Hamburger Firma mit Respekt, mit tiefem Respekt aussprechen gehört zu haben. In der Wilhelmstraße, dann in der Friedrichstraße Ecke Unter den Linden - aber in Stettin, - wohnte seine Familie; man sah auf die baumbestandene Allee; einmal zog hier, wie er sich entsinnt, der alte Kaiser Wilhelm nach dem Paradeplatz zu; Fürst Bismarck war dabei, der hatte einen runzligen gelben kleinen Kopf unter einem ungeheuren blanken Kürassierhelm; dieser Zug verwunderte ihn mehr, als er ihm imponierte, besonders der viel gepriesene Bismarck enttäuschte ihn. Der alte Kaiser starb; das wurde ihm in der Schule, dem Friedrich-Wilhelm-Realgymnasium gesagt, wo er Sextaner war und schlecht, sehr schlecht Latein und Rechnen kapierte. Nach der Todesnachricht ging er mit dem Taschentuch [in] der Hand nach Hause; er schien sich dann und wann eine Träne zu trocknen; er glaubte, das gehöre sich so, - er war aber gar nicht traurig, sondern nur unklar, wie er sich nach den wehmütigen großartigen Redewendungen des Klassenlehrers benehmen sollte. Nicht viel später wehten zum zweiten Male die Fahnen halbmast beim Tode des Sohnes jenes Kaisers; er sah sich aus dem Eckfenster oft diese Fahnen an; er konnte mit dem Ereignis nichts anfangen und ging viel auf die Straße, um zu sehen, was die anderen, die Erwachsenen machten.
In dem Hause seiner Eltern wohnte zuletzt die alte Mutter seines Vaters; sie hatte ein langes schmales Zimmer. Da fand man sie eines Morgens tot im Bett. Bei der Beerdigung lief er, als nicht offizieller Teilnehmer, nebenher ein Stückchen mit; da fand er vor einem Hause einen Auflauf, ließ den...
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