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Kapitel eins
Kookaburra Creek Café, 2018
Alice Pond öffnete die Tür zum Kookaburra Creek Café, aber die Messingglocke über dem Eingang blieb still.
Die meisten Leute, die das Café betraten, hätten das sicher nicht bemerkt, aber Alice' Leben folgte seit vierzehn Jahren jeden Morgen der gleichen Routine. Fast jeden Morgen. Und das bedeutete, dass es ihr natürlich sofort auffiel.
Eigentlich sollte das laute Brummen des Ofen-Timers, das in Kontrast zu dem harmonischen Klingen der Glocke stand, beim Öffnen der Tür an ihre Ohren dringen, aber es herrschte Stille.
Der Duft von über Nacht frisch gebackenem Brot sollte sie begrüßen, doch in der Luft hing nicht das übliche köstliche Aroma.
Irgendetwas stimmte nicht.
Alice warf einen Blick nach oben und entdeckte, dass die Klammer, mit der sie die Glocke am Türrahmen befestigt hatte, leicht verbogen war. Rasch sah sie sich im Café um. Alles schien an seinem Platz zu sein. Die grünen Gingham-Vorhänge waren zugezogen, die Serviettenstapel lagen auf der Theke, wo sie sie am Abend zuvor hingelegt hatte, die Stühle standen noch auf den Tischen. Dann fiel ihr Blick auf die Kasse. Sie stand wie immer offen. Aber irgendetwas war anders.
Vorsichtig drückte sie die weißen Schwingtüren auf, die den Gastraum von der Küche trennten. Der Backofen war aus, und die Tür zur Speisekammer stand eine Hand breit offen. Sie runzelte die Stirn, griff nach dem Nudelholz und schlich auf Zehenspitzen an der Arbeitsfläche vorbei. Gegen eine Diebesbande oder auch nur gegen einen einzelnen Einbrecher würde es ihr wahrscheinlich nicht viel helfen, das war ihr bewusst. Aber vorgetäuschtes Selbstbewusstsein war besser als nichts.
Sie ging auf die Speisekammertür zu und zuckte zusammen, als irgendetwas scheppernd auf dem Boden landete, vielleicht ein Topfdeckel. Hoffentlich hatten sich diese Mistkerle nicht ihre Mehldose gegriffen, aber wer würde schon dort nach ihren Ersparnissen suchen. Nun, wer auch immer es sein mochte, er hatte sich für seinen Einbruch das falsche Café ausgesucht.
Sie schob die Lamellentür auf. Ein zerknittertes graues Etwas schnellte zu ihr herum.
»Ha-ya!«, schrie Alice, nahm eine kriegerische Ninja-Stellung ein und hob das Nudelholz, bereit zum Angriff.
»Was .?« Das graue Wesen sprang zurück, ruderte mit den Armen und griff nach dem nächstbesten Gegenstand, einem Glas Rote Bete.
Die Hand, die das Glas hielt, war klein, und unter dem grauen Kapuzenpullover zeichneten sich sanfte Kurven ab. Alice' Dieb war ein Mädchen. Ein junges Mädchen mit Krümeln von halbgebackenem Brot auf den Falten ihres zerschlissenen Pullis. Zumindest wusste sie jetzt, was aus ihren Backwaren geworden war.
»Die Tür war offen. Ich bin nicht eingebrochen«, verteidigte sich das Mädchen sofort und ging ein paar Schritte vor und zurück, auf der Suche nach einem Weg vorbei an der Frau, die sie erwischt hatte.
»Was tust du hier?« Alice versuchte, ruhig zu atmen. Es war nur ein Kind. »Wenn du alles zurücklegst, was du dir genommen hast, rufe ich nicht die Polizei.«
»Wagen Sie es ja nicht, die Cops zu rufen.« Das Mädchen schob sich das fettige schwarze Haar hinter die Ohren, hob den Blick und sah Alice trotzig an.
Das Nudelholz entglitt Alice' zitternder Hand und krachte auf den Boden; der laute Aufprall hallte durch das leere Café, und sie atmete hörbar ein.
Diese stechenden blauen Augen.
Das Mädchen schob sich an ihr vorbei und lief zur Tür.
»Tut mir leid.« Alice folgte ihr. »Warte, ich habe nur .«
Aber das Mädchen rannte hinaus, überquerte die große Lichtung vor dem Café und verschwand zwischen den Bäumen, noch bevor Alice die Stufen hinunterlaufen konnte.
Sie setzte sich auf die Treppe der Veranda, die das Gebäude umgab, und versuchte, ihre rasenden Gedanken zu beruhigen. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Augen im Gesicht eines fremden Menschen gesehen hatte. Auch nicht das zweite oder dritte Mal. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ihr diese Augen bei jedem Mann, der ihr begegnet war, aufgefallen waren. Beim Briefträger, der ihre Rechnungen gebracht hatte; bei den verschmitzt grinsenden Jungs im Pub, die wahrscheinlich noch gar keinen Alkohol trinken durften; bei jedem zweiten Gast, der nach seiner Ankunft in Kookaburra Creek ins Café kam. Nein, es war nicht das erste Mal, dass sie Dean McRaes Augen im Gesicht eines anderen Menschen gesehen hatte. Aber bis eben waren sie ihr erst ein einziges Mal bei einem Mädchen begegnet, und das war vor langer Zeit gewesen, in einem Leben, das nicht mehr ihres war.
Es dauerte einige Minuten, bevor Alice sich so weit beruhigt hatte, dass sie mit zitternden Beinen und ein wenig benommen wieder hineingehen konnte. Bruchstückhafte Erinnerungen tauchten in ihren Gedanken auf, aber sie verdrängte sie rasch. Schließlich musste sie das Café öffnen und konnte ihre Zeit nicht mit Grübeleien über die Vergangenheit vergeuden.
Ihr Herz schlug immer noch zu schnell, als sie, in der Küche angekommen, überlegte, womit sie beginnen sollte. Es war zu spät, um noch frisches Brot zu backen. Betty würde sicher enttäuscht sein. Und Claudine ebenfalls. Sie liebten ihr frischgebackenes Brot. Aber sie würden ihr vergeben, so wie damals, als ein Stromausfall in der ganzen Stadt in den frühen Morgenstunden den Ofen lahmgelegt hatte. Sie würde sich irgendeine Entschuldigung einfallen lassen. Joey würde ihr sicher einige Laibe Brot aus der Bäckerei vorbeibringen, wenn sie ihm eine SMS schickte. In ungefähr zwanzig Minuten würde er ohnehin vorbeikommen, um seinen Morgenkaffee zu trinken.
Kaffee! Sie hatte den Kaffee noch nicht aufgesetzt. Bevor dieses Ritual nicht vollzogen war, konnte sie sich nichts anderem zuwenden. Sie füllte Wasser in die Kaffeemaschine und schaltete sie an, und während das Wasser warm wurde, mahlte Alice die Bohnen. Genug für zwei Tassen. Die kolumbianische Mischung, die dann langsam in ihren gelben Lieblingsbecher tropfte, war jetzt genau das richtige Stärkungsmittel.
Sie nahm die Stühle von den runden weißen Tischen. Jeder hatte eine andere Farbe: blau, pink, rot, orange, lila, grün. Wie jeden Morgen arrangierte Alice sie neu, mit Ausnahme von Joeys Stuhl. Er mochte den türkisblauen, und er saß gern an dem Fenster, das nach Osten zeigte. Schließlich war er ihr wichtigster Stammgast, und auch wenn seine Motive nicht ganz uneigennützig waren, hielt sie ihm immer seinen Lieblingsplatz frei, genauso, wie es ihm gefiel.
Während ihr Kaffee abkühlte, schrieb sie schnell die SMS an Joey, wischte die Tische ab und stellte die Salz- und Pfefferstreuer hin, die überall auf der Welt gesammelt worden waren: Matroschka-Puppen, englische Telefonzellen, der Eiffelturm in zweifacher Ausfertigung. Jedes Mal, wenn jemand von einer Überseereise zurückkam, brachte er ein Set für Alice mit. Joey hatte diese Tradition mit zwei Streudosen in Form des Schiefen Turms von Pisa begründet, und Betty hatte sie mit zwei Kamelen aus Dubai fortgesetzt. Und eines Tages würde Alice ein Set auf den Tisch in der Mitte des Cafés stellen, das sie selbst aus der weiten Welt nach Hause mitgebracht hatte.
Sie hoffte, der jungen Diebin ging es gut und sie hatte sie nicht allzu sehr erschreckt. Alice wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn man an einem Ort entdeckt wurde, an dem man sich eigentlich nicht hätte aufhalten sollen. Nie würde sie den Tag vergessen, an dem sie, verängstigt, allein und verstört, zufällig auf das heruntergekommene Café in dem kleinen Städtchen Kookaburra Creek, eingebettet in den Hügeln irgendwo im Nirgendwo, gestoßen war.
Wie immer beruhigten sie die Routinearbeiten, und sie schlürfte langsam ihren Kaffee, während sie vor dem etwas in die Jahre gekommenen Foto der guten alten Sylvia auf eine Eingebung wartete.
Sylvia hatte immer eine Antwort parat. Mit liebenswürdiger Miene und freundlichen Augen blickte sie aus dem Bilderrahmen über dem Herd auf sie herab. Auf ihrem grauen Haar saß eine weiße Baumwollhaube. Zumindest waren das die Farben, die Alice sich beim Betrachten des sepiafarbenen Fotos vorstellte. Natürlich war ihr Name nicht Sylvia, aber er hätte es durchaus sein können. Alice hatte sie vor all den Jahren so getauft, als sie zum ersten Mal diese Küche betreten hatte. Mit vor Angst geweiteten Augen hatte sie das Bild betrachtet und sich gefragt, wie um alles in der Welt sie in diesem Städtchen gelandet war.
An diesem Tag hatte sie das erste Mal eine Rezeptempfehlung von Sylvia bekommen. Alice hatte das Bild an der Wand berührt, und es war ihr entgegengefallen und das Glas zerbrochen. Aus dem Rahmen war ein Zettel mit dem Rezept für Schokoladencreme-Cupcakes auf die Arbeitsfläche gefallen. Und Alice war Sylvias Rat gefolgt. Es waren die ersten Kuchen jeglicher Art, die sie jemals gebacken hatte, und plötzlich war es ganz leise auf der Welt gewesen. Alles um sie herum schien plötzlich den Atem anzuhalten. Zum ersten Mal in ihrem Leben war es Alice gelungen, den unaufhörlichen Gedankenfluss abzustellen. Zum ersten Mal hatte sie es geschafft, die Narben und Verletzungen ihres Lebens zu vergessen und sich in eine Stille zu begeben. Und so war es bis jetzt geblieben.
Alice sah Sylvia in die Augen, wartete und bat sie stumm, ihr zu sagen, was sie heute backen sollte. Die Antwort kam prompt: Erdbeeren und weiße Schokolade.
Ihr Puls beschleunigte sich. Sie ließ ihren Kaffeebecher sinken und starrte Sylvia ungläubig an. »Was?«
Sylvia erwiderte ihren Blick, ohne ihr jedoch mehr zu...
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