Schweitzer Fachinformationen
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Deshalb sage ich Lebewohl
Barcelona, 8. Juni 1977
Liebe Señorita Leo,
ich heiße Elisa, und ich schreibe zum ersten Mal einen Brief.
Hätte ich ihn doch bloß niemals schreiben müssen!
Ich schicke diesen Brief an Sie, aber eigentlich ist er an meine Eltern gerichtet. Ich habe einfach nicht den Mut, ihnen diesen Brief zu geben. Ich hoffe, sie werden mir eines Tages verzeihen.
Ich bin so müde, und dabei bin ich erst siebzehn. Aber ich habe jeden Tag für zwei gelebt, und das Schlimmste ist, dass ich weiß, dass es für den Rest meines Lebens so weitergehen würde.
Haben Sie eine Ahnung, was das heißt?
Ich hatte einen Zwillingsbruder, doch er ist mit fünf Jahren gestorben. Er hatte schon ein schwaches Herz, als er auf die Welt kam.
Seitdem bin ich die, die ihn überlebt hat. Weiter nichts.
Ich kann tun, was ich will, er ist immer präsent. So viele Jahre auch vergehen mögen, es gibt Tote, die mehr Raum einnehmen als die Lebenden. Sie übertönen alles. Immer wenn meine Eltern mich ansehen, denken sie unweigerlich an meinen Bruder, und er fehlt ihnen wieder schmerzlich. Marco ist ein an meine Fersen gehefteter Schatten, und ich bin das Salz, das immerzu in die offene Wunde meiner Eltern rieselt, sodass sie niemals heilen kann.
Jede Chance, die ich verpasse, verpasse ich für mich, aber zugleich auch für ihn. Wenn ich eine Begabung nicht nutze, vergeude ich sie auch für ihn. Jeder Traum, den ich nicht erfülle, jeder Irrtum, der mir unterläuft, alles, alles, alles .
Und das Schlimmste ist, dass auch ich Marco vermisse. Manchmal glaube ich, den Verstand zu verlieren. Auf eine irrwitzige Art und Weise habe ich das Gefühl, ihn verraten zu haben. Ich fühle mich schuldig, weil ich das Glück hatte, am Leben zu bleiben - diesem Leben, das uns beiden gleichzeitig zuteilwurde und dessen Last ich nicht mehr ertrage.
Ich möchte mich endlich ausruhen, Señorita Leo, und ich hoffe, dass Sie mich verstehen.
Das alles ist sehr schwer für mich. Ich bin so einsam und weiß nicht mehr, was ich tun soll.
Ich möchte mich ausruhen, Papa und Mama. Endlich ausruhen von allem.
Weint nicht um mich.
Und so sage ich euch Lebewohl und bitte euch um Verzeihung.
Elisa
Germán schloss die Augen.
Er lag auf seinem Bett und versuchte, sich das Mädchen vorzustellen, während es diesen traurigen Brief schrieb. Ob sie ihre Ankündigung bereits wahr gemacht hatte? Vielleicht hatte Elisa, deren Worte er soeben im Radio gehört hatte, schon aufgehört zu existieren, wie ein ferner Stern, den wir noch sehen, obwohl er bereits erloschen ist.
Die Stimme der Moderatorin, die den Brief vorlas, hatte ihn in ein kleines Zimmer mit hellblauen Wänden versetzt. Aus irgendeinem Grund glaubte er, so müsse es dort aussehen.
Ein siebzehnjähriges Mädchen mit dem Blick einer Fünfzigjährigen beugte sich dort über ein kariertes Blatt und hielt den Stift umklammert wie ein Schiffbrüchiger die letzte Planke seines Bootes.
Germán starrte in die Dunkelheit seines Pensionszimmers und meinte sogar die tränenverschmierten Buchstaben auf dem Papier zu sehen.
Als es klopfte, zuckte er zusammen.
»Sofort aufmachen«, verlangte eine kreischende Stimme vor der Tür. »Wie oft soll ich es Ihnen denn noch sagen? Es ist nicht das erste Mal, dass Sie mit der Kippe in der Hand einschlafen. Eines Tages werden Sie noch bei lebendigem Leib verbrennen. Und wir alle mit!«
Germán hielt den Atem an und rührte sich nicht. In einer Dokumentation hatte er Tiere am Amazonas gesehen, die ihren natürlichen Feinden entgehen, indem sie stundenlang in derselben Position verharren. Wenn das so ein Viech hinbekam, warum sollte ihm das nicht auch gelingen?
»Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Señor Gómez. Ich weiß, dass Sie da drin sind«, ließ sich die Frau wieder vernehmen. »Sie wollen mich nicht reinlassen? Na schön! Dann öffnen Sie wenigsten Ihre Nachttischschublade, da finden Sie die Hausregeln!«
Der einsame Handlungsreisende regte sich noch immer nicht.
Er brauchte der Aufforderung nicht nachzukommen, um zu wissen, was er in der Schublade finden würde: eine Taschenbibel und ein laminiertes Blatt mit den Zehn Regeln der Pension La Perla.
Die fünfte lautete: »Es ist strengstens verboten, auf dem Zimmer zu rauchen.«
Germán öffnete die Augen und sah den Rauch seiner letzten Zigarette noch immer im Raum hängen. Er lächelte. Doña Concepción zu provozieren und ihr despotisches Regiment über diese Privatpension in der Barceloneta zu unterlaufen, bereitete ihm ein gewisses Vergnügen.
Draußen hörte er die Wirtin stoßweise atmen.
Er stellte sich vor, wie sie an seiner Tür schnüffelte wie ein Spürhund.
»Irgendwann geschieht ein Unglück«, murrte sie, während sie sich humpelnd über den Flur entfernte. »Und dann kommt das große Heulen und Zähneklappern .«
Erst als ihre Schritte leiser wurden, wagte Germán es, sich im Bett zu regen und der griesgrämigen Stimme den Rücken zuzuwenden. Er stand auf.
Nachdem er seinen Anzug weggehängt hatte, war der Schrank offen geblieben, und so begegnete er jetzt auf der Innenseite der Tür seinem Spiegelbild: einem Mann Ende dreißig, recht groß, mit breiten Schultern und dem Ansatz dessen, was bald ein Bauch sein würde.
Ein Mann ohne Frau, ohne Kinder, aber mit sieben Koffern voller Unterwäsche zu seinen Füßen.
»Ich besitze ein Königreich aus Dessous, Spitze, Seide, Reiz- und Unterwäsche für Damen«, pflegte er zu sagen, wenn er in Pensionen und Gasthäusern nach einer Unterkunft fragte.
Als er noch jünger war, hatte er jede Woche in einer anderen Stadt nach Kunden gesucht. Und am Abend in der Kneipe waren die Trinkgefährten ständig neue gewesen.
In jenen ersten Jahren als Vertreter für Unterwäsche hatte er ausschließlich Chérie die Treue gehalten, obwohl er wusste, dass diese Beziehung auf einer Lüge beruhte. Die Marke, die er exklusiv für die Mittelmeerküste vertrat, gab vor, made in France zu sein. Zumindest behauptete er das in den Wäschegeschäften und Kurzwarenläden, die er mit seinem Seat 1400 abklapperte.
»Diese zauberhaften Büstenhalter kommen aus Paris, man erkennt es gleich an der exklusiven Spitze und dem erlesenen Satin, so etwas findet man nur in Paris!«, wiederholte er ein ums andere Mal, um seine Kundschaft zu überzeugen.
Und manchmal glaubte er es beinahe selbst, so oft hatte er es gesagt, wenngleich ihn die Fahrten zu der Fabrik in Mataró, die er am Anfang jeden Monats unternahm, um neue Ware zu holen, eines Besseren belehrten. Er hatte Spaß daran gehabt, bis es mit dem Spaß vorbei war.
Fünfzehn Jahre später hatte er seine festen Anlaufstellen, und den Einkäuferinnen war es egal, woher die Sachen kamen.
Sie machten etwas her, waren günstig im Preis und gefielen den Kundinnen, drei Gründe, großzügige Bestellungen aufzugeben. Seine ersten Thekenbekanntschaften, Handelsvertreter wie er, hatten einer nach dem anderen geheiratet oder waren durch andere, jüngere Kollegen ersetzt worden, doch die Gesprächsthemen blieben immer dieselben.
Germán zog es schon seit langem vor, die Abende bei einem Glas Dyc-Whiskey in seinem Zimmer zu verbringen, allein mit der Stimme und mit den Geschichten, die ihm die einzige Freude schenkten, die er besaß: das Radio.
Sorgsam stellte er die Frequenz ein und lauschte bis zum Einschlafen den Begebenheiten aus dem Leben anderer Zuhörer, von denen diese in ihren Briefen an den Kummerkasten des Rundfunks erzählten. Die Stunde der Señorita Leo - er hatte das Programm durch Zufall entdeckt und war zunächst aus Neugierde und Langeweile hängengeblieben. Doch darum ging es mittlerweile längst nicht mehr.
Sie war es, wer immer sie sein mochte, mit der er sein allabendliches Stelldichein hatte.
Die Moderatorin der Sendung. Oder besser gesagt, ihre Stimme, sanft, doch mit einem trockenen Unterton, der verhinderte, dass sie süßlich klang.
»Deine Stimme klingt nach Lebenserfahrung«, seufzte Germán, während er sich die letzte Zigarette des Tages anzündete.
Tausend und eine Nacht lang hatte er versucht, sich vorzustellen, wie seine Freundin aus dem Radio wohl sein mochte, und jedes Mal war das Resultat ein anderes.
Du bist keine dreißig mehr, so viel steht fest, dachte er.
Ohne dass er es hätte begründen können, sah er sie mit dunkelblondem langem Haar, nicht sehr groß und mit Körbchengröße 85 B.
In seiner Fantasie lebte die Stimme der Señorita Leo im Zentrum von Barcelona. Sie war früh verwitwet und hatte zwei Kinder, die noch zur Schule gingen, vielleicht zu den Salesianern in die Salle Condal wie ihr Vater. Und obwohl sie eine Frau war, musste sie arbeiten, um die Familie zu ernähren.
»So stelle ich mir dich heute vor«, sagte er zu dem Rundfunkgerät und blies ein paar Rauchkringel an die Decke.
In diesem Moment wiederholte die Stimme Elisas Namen, und das Schicksal des Mädchen vertrieb die Moderatorin aus Germáns Gedanken.
»Tu es nicht, Kleines, tu es nicht . Warte noch ein bisschen. Weißt du nicht, dass in vierundzwanzig Stunden alles wieder ganz anders aussehen kann? Halte durch, Elisa, nur ein paar Tage. Du hast nichts zu verlieren, Kleines. Warte! Dein ganzes Leben liegt doch noch vor dir .«
Es waren die letzten Worte, die der Handelsvertreter in die Anonymität der Nacht hineinmurmelte, bevor er einschlief, ohne zu wissen, ob das Mädchen ihn überhaupt noch hören...
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