Schweitzer Fachinformationen
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Négar Djavadi, 1969 in Iran geboren, stammt aus einer Familie von Oppositionellen und floh im Alter von elf Jahren zu Pferd über Kurdistan mit ihrer Mutter und ihrer Schwestern vor den Folgen der iranischen Revolution in den Westen. Sie ist Drehbuchautorin, Regisseurin und Schriftstellerin und lebt und arbeitet in Paris. "Desorientale" ist ihr erster Roman, wurde in Frankreich zum Bestseller und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sie erhielt dafür u. a. den Prix du Style 2016.
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Der Ostflügel des Cochin-Krankenhauses, in dem sich die Kinderwunsch-Abteilung befindet, ist schon seit Monaten eine Baustelle. Wenn ich es recht verstanden habe, soll das Gebäude abgerissen und die Abteilung in das Hauptgebäude am Boulevard du Port Royal verlegt werden. Der Wartesaal im zweiten Stock wurde auf das Wesentliche reduziert. Keine Plakate an den Wänden, keine Prospekte im Ständer, dafür etwa zwanzig graue Stühle in drei traurigen Reihen, weichgezeichnet von dem trüben Winterlicht, das durch die Außengerüste ins Zimmer dringt. Als ich heute Morgen den Raum betrat, stand abseits an der Wand ein einzelner Stuhl. Und auf dem sitze ich jetzt schon seit einer Dreiviertelstunde und warte.
Unser erster Termin mit Frau Dr. Françoise Gautier fand vor elf Monaten statt. Am Tag zuvor, einem lauen und angenehmen Frühlingstag, hatte ich mir die Fußnägel rot lackiert, in der etwas naiven Hoffnung, das würde besser zu dem Bild passen, das Pierre und ich vermitteln wollten. Ich hatte mich für hochhackige Sandalen entschieden, und obwohl am Himmel, schon während ich sie anzog, eine ganze Wolkenarmee aufzog, rückte ich nicht von meinem Vorhaben ab. Frau Dr. Gautier las sich die Patientenakte durch, die sie von Professor Stein bekommen hatte, und fragte uns ganz nebenbei: «Sie werden also heiraten?» Ihre Stimme klang neutral, aber die Frage kam mir brutal vor. Ich hätte nie gedacht, dass sich nach Herrn Professor Stein jetzt auch noch Frau Dr. Gautier für unsere eheliche Situation interessieren würde. Waren wir denn nicht hier, damit das Ganze endlich losgehen konnte? Wäre es nicht besser, uns künftig nur noch medizinische Fragen zu stellen: nach Kinderkrankheiten, Erbkrankheiten, früheren Operationen? Würden sie uns mit dem Thema Heirat denn nie in Ruhe lassen?
«Aber sicher, in ein paar Monaten», hatte ich geantwortet, und es hatte so falsch geklungen, dass ich jedes Mal beim Gedanken daran am liebsten weit weglaufen und sterben würde.
Das Pärchen mir gegenüber war schon da, als ich kam, und ein anderes etwas weiter hinten auch. Mittlerweile sind noch drei weitere Pärchen dazugekommen; jedes hat zwischen sich und den Nachbarn tunlichst ein paar Stühle frei gelassen. Keiner spricht. Ein resignatives Schweigen und diverse vom Gang kommende Geräusche beherrschen die Atmosphäre. Lauter verkrampfte Gesichter, darin eine Mischung aus Angst und Verletzlichkeit, wie bei Kindern, die sich im Supermarkt verlaufen haben.
Mache ich auch so ein Gesicht?
Ich glaube kaum, denn ich fühle nichts, außer vielleicht einen ersten Anflug von Ungeduld.
Bei den Frauen mir gegenüber, deren Körper mittlerweile, wie der meine, ein Kriegsschauplatz geworden ist, haben sich bestimmt schon allerlei Gefühle angestaut, über die sie später reden werden. In langen Gesprächen mit vielen Erklärungen, unter Empörung, zurückgehaltenen Tränen und befreiendem Gelächter. Lauter «stell dir nur vor .», «wenn du wüsstest .», «nein, also ehrlich .», bis alles raus ist, sich in Luft aufgelöst hat und man es wieder vergisst. Mina ist mir gegenüber manchmal so, wenn sie von einer ihrer Studienreisen zurückkommt (und Leïli gegenüber natürlich auch). Sie ruft mich an und fängt sofort in allen Details zu erzählen an, verliert sich in Nebenhandlungen, führt sie dann wieder nicht zu Ende, lacht an völlig unverständlichen Stellen, gerät ins Schwärmen, erzählt zweimal die gleiche Anekdote, aber jedes Mal anders. Sie hält es für normal, dass ich ihr zuhöre, stundenlang den Hörer am Ohr kleben habe, schließlich bin ich ihre Schwester. Leïli hört ihr auch zu, aber ihr steckt nicht der Ärger im Hals wie ein Kloß, der mit jedem Satz größer wird. Denn Leïli versteht sie. Den beiden fällt es leicht, «sich auszukotzen», wie Sara, unsere Mutter, immer sagte.
Manchmal frage ich mich, wie das eigentlich geht, dass man so rein gar nichts empfindet. Es passiert mir zwar nicht mehr so oft wie früher, aber dieser Gefühlszustand ist jederzeit da, greifbar nah. In meiner Jugend hat sich das so angefühlt, als sei der Platz, an dem sich die Emotionen befinden, in mir irgendwie ausgetrocknet, ohne dass ich es bemerkt hätte. In jener Zeit kam es mir so vor, als befände sich die Welt hinter einer Scheibe, unerreichbar fern, so wie auch jetzt; ein stummes Schauspiel, an dem ich nicht teilnehmen kann. Damals fiel mir auch schon auf, dass es zwischen diesem Zustand und den Bildern der amerikanischen GIs, der Vietnam-Heimkehrer, die ich aus Filmen und Fernsehserien kannte, einen Zusammenhang gab. Ich konnte bis ins Innerste nachvollziehen, wie sie sich fühlten, wenn sie zu Hause auf dem Sofa saßen und ins Leere starrten, während um sie herum ein großes Theater veranstaltet wurde. Ihre Abwesenheit, ihre Unfähigkeit, mitzutun bei dem ganzen Tamtam, sich eine Zukunft zu geben. Ganz wie ich, schienen sie erfüllt von Stille, wie Ertrunkene, die an der Oberfläche treiben.
Es dürfte keinem entgangen sein: Ich bin allein.
Es gibt keine Hand, die ich halten könnte. Keiner drückt mich an sich und hält mich fest, vereint im Leid. Da gibt es nur diese lange Papprolle in meinem Schoß, auf der unsere Vor- und Nachnamen stehen, die von mir und Pierre. Eine lange Papprolle mit dem aufgetauten und gewaschenen Sperma von Pierre (so hat es mir Frau Dr. Gautier erklärt).
Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie das gehen soll, dass man Sperma wäscht. Jedes Mal, wenn ich mir das auszumalen versuche, sehe ich sofort ein großes Sieb vor mir, so eins wie es Emma, meine Großmutter mütterlicherseits, immer zum Kuchenbacken benutzt hat. Im Internet hätte ich bestimmt eine Erklärung gefunden, aber ich bin, ehrlich gesagt, nicht neugierig genug, um so eine Suche zu starten.
Als ich diesen Saal betrat, spürte ich sofort, wie sehr es den anderen Paaren auffiel, dass ich alleine hier war. Eine Frau, die alleine herkommt, kann ja nicht geschieden oder getrennt sein, sonst würde die Sache nicht weiter durchgezogen. Dafür, dass sie alleine ist, gibt es nur drei mögliche Erklärungen (in aufsteigender Ordnung, je nach Schweregrad der häuslichen Katastrophe):
1.) Ein Streit am Morgen, kurz vorm Losgehen.
2.) Mangelndes Interesse des Ehemannes, der sich nicht einmal die Mühe macht, einen Tag freizunehmen, ein Meeting oder eine Geschäftsreise zu verschieben.
3.) Extrem seltener Fall: Tod des Ehegatten. Voraussetzung wäre eine durch richterlichen Beschluss erwirkte Sondererlaubnis für eine künstliche Post-mortem-Befruchtung.
Wie auch immer, in egal welchem Krankenhaus der Welt ist eine Frau, die in der Kinderwunsch-Abteilung allein ist, ein bedauernswertes Geschöpf, auch wenn ihr Alleinsein das Unglück derjenigen, die das Leben dorthin verschlagen hat, erträglicher macht. Danke, o Herr, es gibt Leute, die sind noch viel ärger dran als wir! Denn das hier ist die ureigene Domäne von Mann und Frau. Das No man's land, in dem es um die Zukunft des Paares geht, um seine Daseinsberechtigung, seinen Sinn und Zweck. Das Fegefeuer oder der Gott der Fruchtbarkeit, zum Leben erweckt durch Injektionen von Follitropin beta, werden darüber entscheiden, ob das Schicksal sich wendet, ja oder nein. In meinem Fall trifft weder das eine noch das andere zu. Mein Fall ist viel komplexer, viel betrügerischer. Hier geht es um Strategie und Manipulation. Um einen von Gangstern ausgetüftelten Plan. Du machst dir noch keinen Begriff, lieber Leser, was ich mit dem Schreiben dieser Zeilen riskiere. Denn eines musst du wissen: Von den dreizehn Pärchen, die inzwischen hier vor mir sitzen und mich bemitleiden, weil ich alleine da bin, würden einige mich an die Wand drängen, mir ins Gesicht spucken, mich rauswerfen, wenn sie wüssten, was Sache ist. Keiner würde sich die Mühe machen, verstehen zu wollen, mir Fragen zu stellen, anzuerkennen, dass auch ich nur das merkwürdige Resultat äußerer Umstände bin, von Schicksalsschlägen, Erbschaften, Pechsträhnen und Dramen.
Aus diesem Grund schreibe ich.
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