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Liebe Julia,
ich bin nicht mehr jung, aber es gab eine Zeit, ja, es gab eine Zeit, als ich an die Liebe glaubte. Ich erinnere mich an die Namen meiner Geliebten und sehe ihre Gesichter vor mir, jedes einzelne, ganz klar. Und dann sind sie weg. Warum kommt die Liebe zu einigen so leicht und weigert sich bei anderen, zu bleiben? Warum muss das so sein? Warum verwirrt uns das so schmerzhaft?
Ich las den Brief bis zum Ende. Er sah aus wie all die anderen auf dem Stapel, da war nichts wirklich Besonderes an ihm. Sie alle waren handgeschrieben - was so sehr von Herzen kommt, kann man nicht tippen. Man hatte sie gefaltet, voller Hoffnung in Umschläge gesteckt und zu Julia geschickt, wohnhaft in Verona.
Giovanna erschien in der Tür. »Ciao«, sagte sie. »Hast du Lust auf einen Kaffee?«
»Nein, ich . Danke, mir geht's gut.«
Giovanna trug sogar nachmittags Perlen. Sie kam näher, blickte auf den Brief, der vor mir lag, und las meine Gedanken. »Manche sind sehr berührend, oder?«
»Ich weiß nicht, wie ich den hier beantworten soll.«
»Ah«, sagte sie, zog einen Holzstuhl heran und setzte sich neben mich. Sie beugte sich über den Brief und rückte die Lesebrille zurecht. »Viele der Briefe sind voller Traurigkeit. Und manchmal sind sie auch sehr poetisch.«
»Aber was soll ich nur antworten?«
Sie sah mich an. »Manchmal reicht es den Leuten einfach nur, geschrieben zu haben.«
»Diese Frau schreibt so schön. Ich bin nicht sicher, ob ich - «
»Die Antwort«, fuhr sie den Brief tätschelnd fort, »findet sich oft in ihren Worten.«
»Aber - «
»Du musst wie ein Wahrsager sein, nach Zeichen suchen. Die Verfasser der Briefe werden dir sagen, was sie hören wollen.«
»Ich weiß nicht.«
Giovanna sah mich an, als sei ich schwer von Begriff. »Sie will wissen, dass ihr Leben gut ist, dass sie wertvoll ist, wichtig. Das will sie wissen. Und das musst du schreiben.«
»Und dann unterschreibe ich mit >Julia<?«
»Wenn du willst. Oder du unterschreibst mit >Julias Sekretär<.«
»Okay.«
Giovanna stand auf und strich ihr Kleid glatt. »Wir nehmen diese Verantwortung sehr ernst.« Sie drehte sich und ging zur Tür, wo sie innehielt, ihre schlanke Hand am Türrahmen.
»Ja, natürlich«, sagte ich.
»Also keinen Kaffee?« Sie warf mir einen letzten Blick zu.
»Nein, danke. Ich mache mich einfach an die Arbeit.«
»Va bene.« Sie sah mich einen Moment an, dann verschwand sie in den Flur.
Es gibt keine Julia, natürlich nicht, auch wenn das Fremdenverkehrsamt von Verona nichts dagegen hätte, wenn wir daran glaubten. Verona ist eine alte Stadt. Sie ist umgeben von den Feldern Valpolicellas, dem Tal der Kellereien einiger der ältesten Weingüter der Welt. Julius Caesar hat hier seine Sommer verbracht, Dante kam während seines Exils vorbei, um hier seine »Göttliche Komödie« zu beenden, aber nichts macht diese Stadt so einzigartig wie die Legende von Romeo und Julia.
Als ich das erste Mal die Altstadt erkundete, ging ich durch ein Tor, das sich in der hohen mittelalterlichen Stadtmauer befand. Auf einer Bronzetafel standen die Worte: »Die Welt ist nirgends außer diesen Mauern; nur Fegefeuer, Qual, die Hölle selbst.«
Das war Romeos Satz. Auch er hat nie existiert, zumindest nicht im engeren Sinne.
Tafeln wie diese finden sich überall in Verona, sie markieren die wichtigsten Ereignisse aus Shakespeares Stück - einer Geschichte, die nicht hier geschrieben wurde, die vor Jahrhunderten in einer anderen Sprache und einem anderen Land berühmt geworden ist.
Ich kam Ende Juli in Verona an, vor zwei Jahren, mit einem Sack voller Fragen. Ich kam hierher, um etwas zu lernen. Etwas über die Liebe, und vielleicht auch über Shakespeare. Als Erstes sah ich die Menschenmassen, die sich laut redend durch die Straßen schoben, Kameras im Anschlag. Ich wusste sofort, wohin sie gingen. Der Pulk schob sich vorbei an schimmernden Schaufenstern, an Kaschmirpullovern und 500-Euro-Schuhen - ich wurde mitgespült. Zu unserer Linken weitete sich die Straße zu einem Platz, aber die Menge bog nach rechts ab, und dann, plötzlich, befanden wir uns vor einem Durchgang und einem Schild, auf dem stand: Casa di Giulietta - Julias Haus. Da waren wir also. Wir wurden still und ehrfürchtig. Ich gestehe, ich war zynisch. Viele der jüngeren Frauen hier waren wie verzaubert und zogen ihre Männer hinter sich her, die verzweifelt Interesse heuchelten. »Es ist nicht real!«, wollte ich ihnen zurufen. »Es ist nur eine Geschichte!«
Wir schoben uns durch den Torbogen und kamen in einen Innenhof. Und da war er: der berühmte Balkon. Er ragte drei Meter über uns aus der Wand. Reben rankten die alten Mauern empor. Es war alles ein bisschen zu perfekt. Der Balkon selbst ist ein alter römischer Steinsarg, der 1937 in die Wand eingelassen wurde, um Touristen anzulocken, die so leichtgläubig waren wie wir. Man kann auch in das Haus hineingehen - es ist eine Art Museum -, und viele junge Paare treten raus auf den Balkon und lassen sich fotografieren. Wenn sie sich küssen, jubelt unten die Menge. Kameras klicken. Textmitteilungen werden verschickt.
An den Stufen am Eingang erzählt ein Aushang die Geschichte des Hauses. Ich quetschte mich durch die Menge, um lesen zu können: »Dieses Haus«, stand da, »befand sich seit dem 13. Jahrhundert im Besitz einer Familie.« Über dem Türbogen hing ihr Emblem, die Insignien der Familie Cappello: ein runder Hut, wie eine Melone - die Cappellos waren Hutmacher gewesen.
Aber etwas anderes überraschte mich: Der Name Capulet war offenbar von Cappello abgeleitet worden, nur wie hatte Shakespeare das wissen können? Ich sah mich um. War er hier gewesen? Es gibt Jahre in seinem Leben, über die wir nichts wissen - Jahre, in denen er vielleicht auf Reisen war, aber es wird nicht angenommen, dass er sich je in Verona aufgehalten hat. Die Antwort ist einfach, so wie es meistens ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Shakespeares Romeo und Julia die Adaption eines epischen Gedichts, und das wiederum war von einer italienischen Geschichte inspiriert, die sich in etwa auf das Jahr 1530 zurückdatieren lässt.
Seit mindestens 200 Jahren war dieser alte Innenhof nun eine Pilgerstätte. Charles Dickens war hier gewesen und hatte darüber geschrieben - es hat ihm hier nicht besonders gefallen. Zu seiner Zeit war das Haus zu einem tristen, kleinen Gasthof verkommen, mit einem fiesen Hund an der Tür und Gänsen, die durch den Innenhof watschelten. Heute ist er voller aufgeregter Touristen, auch das hätte Dickens wohl nicht gefallen. In einer Ecke steht eine Bronzestatue von Julia, ihr Blick ist sittsam gesenkt, mit langen Fingern greift sie verlegen in die Falten ihres transparent erscheinenden Gewands.
Aus Gründen, die ich nicht richtig verstehe, soll man vorsichtig die Hand auf ihre rechte Brust legen und sich dabei etwas von den Göttern der Liebe wünschen. Einer nach dem anderen treten die Pilger hervor, um Julias Brust zu streicheln. Die Bronze ist an dieser Stelle blank poliert zu einem goldenen Schimmer, Julias Gesicht hingegen ist von der Patina holzkohlenschwarz.
Ich beobachtete die Menge eine Weile, bis ich eine ältere Frau bemerkte, die in Gedanken versunken durch den Innenhof schlenderte. Sie bewegte sich von einem Punkt zum nächsten, an jedem verweilend, die Plaketten lesend, die Statue betrachtend, und dann, kurz bevor sie ging, zögerte sie, drehte sich ein letztes Mal um zum Balkon, nickte und verschwand im steinernen Torbogen. Dort, wo die Frau eben noch gestanden hatte, sah ich einen roten hölzernen Briefkasten, den ich bis dahin noch nicht bemerkt hatte. Er hing an der Mauer neben dem Hauseingang, war von Hand gefertigt, aufwändig geschreinert und blutrot bemalt. Dort ging ich hin. Posta di Giulietta stand auf dem Kasten - Briefe an Julia.
Als im Jahr 1937 die ersten Briefe an Julia in Verona ankamen, wusste niemand, was man mit ihnen machen sollte. Sie stapelten sich vor den Grabsteinen des Klosters San Francesco, wo man lange Julias Gruft vermutete. Zunächst beantwortete der Hausmeister des Klosters die Briefe, in den Fünfzigerjahren übernahm ein Dichter die Aufgabe, und 1989 begann ein Bäcker namens Giulio Tamassia, sich um den steten Strom der Briefe zu kümmern. Irgendwann gab Giulio seinen Backwarenberuf auf und eröffnete das erste offizielle Büro für die an Julia geschickten Schreiben. Zu dieser Zeit kamen Hunderte Briefe in Verona an, und Giulio machte es sich zum Anliegen, sie alle zu beantworten - 25 Jahre lang.
Giovanna, Giulio Tamassias Tochter, übernahm die Berufung ihres Vaters und leitet heute den Club di Giulietta, der die eingehenden Briefe nach Sprachen sortiert, das Briefpapier bereitstellt und die Schreiben sogar katalogisiert. Giovanna klagt darüber, dass ihnen die Stadt nicht mal genug zahle, um Porto und die Miete des Büros zu begleichen. Der Strom der Briefe wird immer größer, er verstopft die Briefkästen und überflutet die Schreibtische.
Ich hatte Giovanna vor Monaten eine E-Mail geschrieben und sie gefragt, ob ich nach Verona komme könne, um dabei zu helfen, die Briefe an Julia zu beantworten. Meine Gründe waren komplex. Ich wollte mir über meine eigene Situation klar werden, aber das erzählte ich Giovanna...
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