Schweitzer Fachinformationen
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Alles war noch so schön ruhig. In der Luft lag der Duft nach frischem Tannengrün, aus dem Irma einen Kranz gefertigt hatte, der jetzt mit roten Beeren verziert hinter dem Verkaufstresen hing. Beseelt lächelnd hielt sie einen Moment inne und setzte ihr Tablett mit den kleinen sternförmigen Pasteten auf dem Tresen ab. Draußen wirbelten Schneeflocken durch die Luft, ehe sie sanft den Boden berührten und ihn mit einer weißen Schicht bedeckten. An die Theke gelehnt, verlor Irma sich in der Betrachtung dieses märchenhaften Anblicks. Für Anfang Dezember war das ein außergewöhnliches Naturschauspiel, normalerweise gab es zu dieser Jahreszeit eigentlich nur Schietwetter. Manche behaupteten zwar, dass kaum einer Stadt Grau so gut stünde wie Hamburg, aber Irma gefiel sie in Weiß um einiges besser.
Sam Smith sang Have yourself a merry little christmas im Radio. Seine Stimme lullte Irma ein, trug dazu bei, dass ihre Gedanken immer weiter abdrifteten. Wie immer, wenn sie mal einen Moment für sich hatte, setzte sich ihr Kopfkino in Gang. Was meistens in der halben Stunde geschah, bevor sie ihren kleinen Feinkostladen am Morgen öffnete.
Ein großer, dunkelhaariger Mann betritt den Laden. Durchgefroren reibt er die Hände aneinander und strahlt übers ganze Gesicht, als er sie hinter der Ladentheke entdeckt. Es ist das charmanteste und einnehmendste Lächeln, das Irma je gesehen hat. Er hat sich verlaufen, kennt sich nicht aus in der Stadt. Während Irma ihm den Weg beschreibt, nehmen seine schokobraunen Augen sie gefangen, so dass sie ihren Blick nur mit Mühe von ihnen lösen kann. Beim Abschied streicht er ihr wie zufällig über die Hand. Irma spürt ein Kribbeln, das, einem elektrischen Stromschlag gleich, durch ihren Körper fährt. Er ist es! Er ist der Richtige, auf den sie ihr ganzes Leben gewartet hat. Im nächsten Moment dreht er sich noch einmal um - ihr Herz macht einen Satz - und fragt, ob er sie am Abend zu einem Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt einladen dürfe.
Irma seufzte aus tiefster Seele. Leider nur ein Tagtraum, weiter nichts. Die Realität sah anders aus. Sie trat als Paul Kleeberg in Erscheinung, der seine Nase an der Scheibe plattdrückte und durch die Eingangstür in den Verkaufsraum linste. Seines Zeichens Marktschreier auf dem Altonaer Fischmarkt und die penetranteste Person, die Irma je untergekommen war. Einer der Kunden, vor denen man lieber Reißaus nahm. Obwohl . ein Kunde war er nun wahrlich nicht. Denn anstatt zu kaufen, brachte er immer irgendwelche Dinge mit, die sie ungefähr so gut gebrauchen konnte wie eine Warze auf der Nase oder ein drittes Ohr auf der Stirn. Einmal hatte er ihr galant einen mickrigen Strauß halbverwelkter Nelken in die Hand gedrückt, ein anderes Mal war er mit einem dürftig in Zeitungspapier eingewickelten Aal aufgekreuzt. Irma konnte diesen schlangenartigen Fisch nicht ausstehen. Schon sein Anblick verursachte ihr ein Ekelgefühl, was wirklich sonst nur bei wenigen Lebensmitteln der Fall war. Doch Paul, dem ihr Widerwille nicht entgangen war, hatte versucht, ihr den Aal mit allen Mitteln schönzureden. Pries ihn als den faszinierendsten Fisch an, der sowohl im Süßwasser als auch im Salzwasser überleben konnte, zwei Herzen besaß und unter echten Kennern als Delikatesse galt. Man hätte meinen können, sein Leben hinge davon ab, so sehr hatte er sich ins Zeug gelegt, ihr dieses glitschige Ding schmackhaft zu machen. Das musste wohl eine Berufskrankheit sein.
Wenn seine Geschenke unbeholfene Versuche gewesen wären, ihr Herz zu erobern, hätte sie das vielleicht sogar süß gefunden. Aber Irma konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Paul nichts lieber tat, als sie auf die Schippe zu nehmen, und dass er nur bei ihr im Laden auftauchte, weil er spürte, dass er ihr damit richtig auf die Nerven ging.
Warum er ausgerechnet sie auserkoren hatte, blieb Irma allerdings ein Rätsel. In Hamburg gab es doch sicherlich alleinstehende Frauen in Pauls Alter, die seinem schrägen Humor etwas abgewinnen konnten.
Am liebsten hätte Irma sich geduckt und so getan, als sei sie gar nicht anwesend. Doch dafür war es jetzt zu spät. Paul hatte sie soeben entdeckt, was sich an seinem hocherfreuten Gesichtsausdruck unschwer erkennen ließ. Jetzt winkte er auch noch überschwänglich, während Irma nur mit Mühe ein Augenrollen unterdrücken konnte. Wie immer ignorierte er das Schild im Fenster der Tür, auf dem Geschlossen stand, und tat so, als ob sie sich in irgendeiner Weise nahestünden. Dabei kannte Irma ihn nur vom Sehen. So wie jeder ihn und seinen Wagen kannte, mit dem er sonntags auf dem Altonaer Fischmarkt stand. Er war ja auch nicht zu überhören.
Irma nahm sich Zeit, an die Tür zu gehen und ihn einzulassen. Gut, sie hätte ihn auch auf die Öffnungszeiten verweisen und ihn an der Tür abfertigen können, aber so ein Unmensch war sie nun auch wieder nicht. Schließlich herrschten draußen Minusgrade, und er sah mit seiner geröteten Nase schon ganz durchgefroren aus.
Irma drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Die hellen Papiersterne im Schaufenster schaukelten sanft im Luftzug. Irma hatte sie am letzten Sonntag gebastelt. Denn es gab kaum etwas, das ihr mehr Freude bereitete, als ihren Feinkostladen mit viel Liebe zum Detail passend zur jeweiligen Jahreszeit zu dekorieren.
Begleitet von einem Schwall kalter Luft und dem Klingeln des Türglöckchens betrat Paul den Laden. »Moin!« Schnee rieselte auf den Boden, als er seine grüne Wollmütze vom Kopf zog. Er schien es jedoch gar nicht zu bemerken, denn er ließ bereits seinen Blick im Raum umherwandern, der mit silber- und roséfarbenen Weihnachtskugeln verziert war, die an langen Fäden von der Decke hingen.
»Moin, Paul!«
»Na hier weihnachtet es ja schon ordentlich!«, sagte er breit grinsend, sein Blick blieb dabei an der leuchtenden Lichterkette hängen, mit der Irma das Schaufenster dekoriert hatte. »Nur irgendwie fehlt was.« Er machte eine Pause und besah sich Irma von unten bis oben. »Ah, jetzt weiß ich, was es ist.«
Irma hob fragend die Augenbrauen. Sicher kam jetzt wieder einer seiner Schenkelklopfer.
»So eine Elfenmütze würde dir gut zu Gesicht stehen. Die bring ich dir nächstes Mal mit.«
»Danke, muss wirklich nicht sein.« Irma lächelte schief. »Was hat dich denn um halb neun Uhr morgens hierher verschlagen?«
»Na du!«
»Musst du nicht arbeiten?«
»In der Winterzeit ist nicht so viel los, da kann man schon mal dem Jungspund den Stand auf dem Wochenmarkt überlassen. Drei Tage die Woche nehme ich ihn unter meine Fittiche, so kann er sich von mir abgucken, wie man auf den verschiedenen Marktplätzen rumkrakeelt. Und wenn er es jetzt alleine macht, lernt er am besten, wie's geht. Mich hat man damals auch einfach ins kalte Wasser geworfen.«
Dabei muss er wohl mit dem Kopf am Beckenrand angeschlagen sein, dachte Irma in einem Anflug von Sarkasmus. »Welchem Jungspund?«, hakte sie höflichkeitshalber nach.
»Dem Sohn vom Salami-Günther. Der zieht es vor, von mir angelernt zu werden. Wundert mich nicht, so wie Günther ihn immer zusammenscheißt.«
Einen Moment lang meinte Irma zu sehen, wie Pauls Brust vor Stolz anschwoll. Lässig schob er die Hände in die Taschen seiner ausgebeulten Jeans und stellte die Beine etwas weiter auseinander.
Irma unterdrückte ein Kichern und wich seinem Blick aus, der jetzt so eindringlich war, als erwarte er ein anerkennendes Schulterklopfen von ihr.
Doch den Gefallen tat Irma ihm nicht. Stattdessen nickte sie. Nicht als Zustimmung, sondern weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Sie fragte sich, ob der Sohn vom Salami-Günther sich tatsächlich aus freien Stücken in die Obhut von Paul Kleeberg begeben hatte oder ob der arme Kerl dazu genötigt worden war. Man musste schon ein enorm dickes Fell haben, um sich mit 104 Dezibel von Paul ins Ohr brüllen zu lassen.
Seine Stimme unterbrach ihren Gedankenstrom. »Hab dir was mitgebracht.« Freudestrahlend hielt er ihr eine Plastiktüte vors Gesicht.
»Was ist das?« Irma schwante Schlimmes.
»Pack doch aus, dann siehst du es.«
Irma zog das notdürftig in Weihnachtspapier eingepackte Etwas aus der Tüte. Sie entfernte die Klebestreifen und förderte eine Pappschachtel zu Tage. Einige Sekunden lang starrte sie sprachlos auf die Abbildung, die sich an deren Seite befand.
Ein Weihnachtsbaum in Regenbogenfarben mit kleinen funkelnden Lichtern, der an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten war. Irma versuchte, ihre Mimik unter Kontrolle zu bekommen. »Schön . bunt.«
»Der leuchtet sogar. Batteriebetrieben. Hab gedacht, er könnte dir gefallen.«
Irma sah ihn fragend an. Seit wann litt sie unter Geschmacksverirrung?
»Na wegen deinem Tick.«
»Was für einem . Tick?« Irma verstand wirklich nicht, worauf er hinauswollte.
Paul wies mit dem Kopf hinter sich auf die Delikatessgläschen und Feinkostkonserven, die Irma im Holzregal entlang der Wand nach Regenbogenfarben geordnet hatte.
»Das ist kein Tick!« In Irmas Stimme hatte sich ein verärgerter Unterton geschlichen, den sie nicht unterdrücken konnte. »Ich lege halt Wert auf Ästhetik.« Im Gegensatz zu dir, ergänzte sie in Gedanken.
Paul grinste sie an. Es war ein unverschämtes Grinsen, das bewies, dass er sich über sie lustig machte.
Doch ehe Irma etwas sagen konnte, trat Paul ans Regal und griff nach einem Glas mit getrockneten Tomaten. »Das passt aber dann gar nicht hier rein. Da kriegt man ja einen Knick in die Optik.« Er stieß ein durchdringendes Lachen...
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