Schweitzer Fachinformationen
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Erfurt war laut und schmutzig. Diesen Eindruck sollte Mias von seinem Besuch in Erinnerung behalten. Die engen Gassen, der Gestank, die vielen bettelnden Kinder. Er wohnte mit seinem Vater im Gasthaus »Zur Weißen Lilie« nahe der Brücke über den Fluss. In dieser Herberge war ihm damals Peter Kerner zum ersten Mal begegnet. Die Geschäfte führte nun der Sohn, sonst hatte sich nach Aussage seines Vaters nicht viel verändert in den letzten zwanzig Jahren. Am ersten Abend ihres Aufenthaltes hatte sich die alte Wirtin, die immer noch in der Küche Dienst tat, zu ihnen an den Tisch gesetzt. Nach der Begrüßung lag ihr Blick lange auf Mias. Schließlich strahlte ein Lächeln über ihr runzliges Gesicht und sie nickte Peter Kerner zu. »Einen braven Sohn habt Ihr da, Meister Kerner.«
Dieser lachte. »Ja, einen Besseren kann man sich nicht wünschen.«
»So habt Ihr es nie bereut?«
»Nie und nimmer. Mias kennt die Wahrheit seit ein paar Wochen, das hatte ich seiner Mutter damals geschworen.«
Die Wirtin zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das war es also, was sie Euch am Sterbebett noch abgerungen hat.«
»Ja, und ich glaube, mein Sohn würde gerne von Euch mehr erfahren über das, was geschehen ist, bevor ich in die Schänke kam.«
Mias nickte. »Ihr kanntet meine Familie?«
Die Wirtin sah sich suchend um, ihre zahnlosen Kiefer mahlten aufeinander.
»Es ist gefährlich, über diese Dinge laut zu reden. Wir müssen auf der Hut sein«, flüsterte sie. Doch niemand in der Schänke schien sich für ihre Unterhaltung zu interessieren. Am Tisch neben der Tür spielten ein paar Männer ein Würfelspiel, daneben zog gerade eine Dirne das volle Interesse dreier Landsknechte auf sich.
»Es wird kein Name über meine Lippen kommen, Ihr wisst ja, von wem ich spreche.« Die greise Wirtin beugte sich näher zu Vater und Sohn herüber.
»Wir in Erfurt hörten damals von Kriegsknechten, was einige Tage zuvor in Frankenhausen geschehen war. Die Schlacht verloren, die Anführer gefangen. Die Wut der Fürsten, besonders die des Mansfelder Grafen, kannte keine Grenzen. Er hat den Gefangenen gequält, wie die Teufel in der Hölle ihn einst quälen mögen. Doch dieser hat seine Überzeugung auch unter der Folter nicht widerrufen. Mias, glaubt das nicht! Das ist eine Lüge des Mansfelders.
Sie haben ihn mit dem Schwert enthauptet, seinen Körper aufgespießt und an den Reißenden Berg vor Mühlhausen gesetzt. Viele andere Gefangene aus dem Bauernheer mussten am gleichen Tag ihr Leben lassen.
Die Frau des Anführers war hochschwanger und mit ihrem einjährigen Söhnchen in Mühlhausen geblieben. Nun konnten oder wollten sie die Räte der Stadt nicht beschützen. Ein Landsknecht hat ihr Gewalt angetan und sich ungestraft damit gebrüstet. Diese Schande hat sie nie verwunden. Danach ist sie aus der Stadt geflohen. Freunde haben ihr geholfen, denn die Fürsten hatten ihr das Erbe nicht ausgehändigt und so war sie arm wie eine Kirchenmaus. Zuerst wandte sie sich an Verwandte in Nordhausen, aber die haben sie von der Schwelle gestoßen, das arme Weib. Dafür werden sie gleich neben dem Mansfelder in der Hölle schmoren. Eines Abends kam sie in meine Schänke, erschöpft und voller Schmutz. Ein Getreuer brachte sie und bat mich, ihr und dem Söhnchen zu helfen. Viel konnte ich jedoch nicht mehr für sie tun. Wenige Tage später gebar sie das Kind. Es war ein Mädchen, bei der Geburt bereits tot. Dann kam das Fieber und kurz darauf war sie in Jesum mit Mann und Kind vereint. Wenn Ihr auf dem Gottesacker der Barfüßerkirche steht, liegen sie genau zwischen Mauer und der großen Blutbuche. Das Söhnchen war zu der Zeit schon in Sicherheit, das hat der Mutter großen Trost gegeben und sie in Frieden sterben lassen.«
»Was wäre aus dem Söhnchen geworden, hätte sich nicht ein Fremder erbarmt?«, fragte Mias schließlich nach einigen Minuten des Schweigens.
»Ein paar Wochen später kamen die Soldaten des Herzogs in mein Haus. Sie kehrten das Unterste nach oben auf der Suche nach ihm und der Mutter. Wir hätten ihn gut verbergen müssen in der Stadt, so wie wir es auch mit anderen getan haben. Er wäre heute wohl nur ein armer Knecht. So hat er es doch besser getroffen, nicht wahr?«
»Ihr hättet ihn hier behalten und beschützt?«
Die Wirtin nickte. »Mein Gemahl, Gott hab' ihn selig, war auch ein Getreuer des wahren Evangeliums. Er ist mit den anderen auf dem Feld in Frankenhausen erschlagen worden. Wir Getreuen lassen einander nicht im Stich.«
»Ich danke Euch, was Ihr für die Mutter und das Kind getan habt. Das werde ich Euch nie vergessen.« Mias Worte kamen aus tiefstem Herzen.
Die Wirtin sah dem jungen Mann mit festem Blick in die Augen. »Liebe deinen Nächsten, so wie dich selbst. Denkt daran, wenn einmal jemand vor Eurer Tür steht, der Hilfe bedarf.«
»Ja, so steht es in der Heiligen Schrift«, nickte Mias.
»Der gedruckte Buchstabe der Schrift an sich ist tot, nur der Heilige Geist macht sie lebendig. Er hilft, das Richtige zu tun.«
Was für seltsame gelehrte Worte wusste diese alte einfache Wirtin zu sagen? Mias wunderte sich darüber.
»Ich hab dir's doch gesagt: Hör den Menschen zu und sinne darüber nach. Jedes Ding hat mehrere Seiten«, erinnerte ihn Peter Kerner später in der Kammer.
»Die Reformatorischen haben in etlichem Recht. Viele unserer römisch-katholischen Geistlichen leben nicht nach ihrer eigenen Predigt. Das weißt du doch auch.«
Das Holzbett knarrte laut, wenn Mias sich von einer Seite auf die andere wälzte. Gut, dass Vater so tief schlief, wenn er, wie letzten Abend, einen Humpen Wein geleert hatte.
Laut reden über Thomas Müntzer wollte hier offenbar keiner. Aber es gab wohl noch Getreue, Menschen, die ihm persönlich begegnet waren, seine Predigten gehört hatten. Worte, die ein loderndes Feuer im Herzen der Menschen angefacht haben mussten. So heiß, dass sie bereit waren, dafür in den Tod zu gehen. Nein, solch eine Predigt hatte Mias noch nie gehört. Die Regensburger Priester drohten oft mit Hölle und Fegefeuer für die Sünder und mahnten zur Buße und Gehorsam gegenüber Papst und Obrigkeit. In Heidelberg hatten die Professoren klüger gesprochen, feinsinnige Schriftauslegungen gebracht, um die Gedanken der Wittenberger zu widerlegen. Mias' Denken schlug so manche Kapriolen, damit er ihren Ausführungen folgen konnte - sein Herz klopfte dabei jedoch unbeteiligt weiter. Wenn über diesen Müntzer etwas zu erfahren wäre, dann an seiner letzten Wirkungsstätte in Mühlhausen. Mias fasste einen Plan. Gleich morgen früh würde er seinen Vater darum um Rat fragen. Diesen anderen Mann, der in sein Leben getreten war, nein, den konnte er nicht »Vater« nennen. Für den würde er einen anderen passenden Namen finden müssen.
Die Mittagssonne brannte den beiden Männern heiß in den Nacken. Über das von der Sommerhitze ausgedörrte Gras gingen sie in den Schatten der großen Blutbuche und blickten zur Mauer. Irgendwo unter einem der gelbgrünen Hügel also ruhten Ottilie Müntzer und die namenlose Schwester bis zur Auferstehung am Jüngsten Tag.
Würde seine Schwester überhaupt auferstehen? Sie hatte doch gar nicht gelebt und getauft war sie auch nicht. Sie waren Ketzer, also würde sie Christus dann gleich ins ewige Feuer schicken? Mias seufzte. Würde ein Ablassbrief nützen?
Schweigend standen sie eine Weile dort.
»Vater, ich bitte Euch um Rat. Ich möchte nicht nach Regensburg zurückfahren, sondern nach Mühlhausen gehen und eine Weile dort bleiben. Längstens bis zum neuen Jahr, dann komme ich zu Euch zurück. Was meint Ihr?«
Vater Kerner nahm die Kappe ab und kratzte sich am Kopf. »Du willst dich also auf die Suche machen, mein Sohn. Was willst du finden?«
»Ich weiß nicht, was es zu finden gibt, Vater. Wer weiß, vielleicht treffe ich einen der alten Getreuen, wie sie die Wirtin genannt hat. Einen, der Thomas Müntzer gut gekannt hat.«
»Und was soll ich dir raten, Mias?«
»Entlasst mich dazu mit Eurem Segen, Vater. Darum bitte ich Euch.«
»Niemand darf erfahren, wer du bist, Sohn! Vergiss das nie und vertraue niemand. Du würdest sonst dich, mich und deine ganze Familie ins Unglück reißen. Versprich mir das!«
»Ich verspreche es. Heißt das, Ihr erlaubt es?«
»Was will ich tun? Entlasse ich dich nicht im Guten, so könntest du wohl über Nacht und Nebel...
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