Schweitzer Fachinformationen
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Vorwort
Jeden Tag laufe oder fahre ich an einer Sitzbank vorbei. Scheinbar eine völlig normale Bank. Doch vor einiger Zeit hat dort jemand ein metallenes Schild mit einem eingravierten fröhlichen Vögelchen angebracht. Der Vogel sieht hübsch und mutig aus, von der Bank blickt man auf eine friedliche Landschaft: geschwungene Hügel, Wiesen, Felder, eine Au. Diese Bank ist sehr idyllisch postiert, fast zu jeder Jahreszeit lassen sich dort die Spaziergänger nieder, genießen bei gutem Wetter die Aussicht. Der fröhliche Vogel, der bleibt. Niemand weiß, wer diese Gravur gefertigt und angebracht hatte und aus welchem Grund, doch ich stelle mir vor, dass dieser Jemand Freude verbreiten wollte. Doch schon wenn ich ein paar hundert Meter weiter laufe, lande ich in einem gedanklichen Parallel-Universum. Dort steht ein Gedenkstein, mit den letzten Worten eines Sohnes an seine Eltern:
»Wir werden die letzten Opfer dieses Krieges sein, und auch umsonst, wie so viele Gefallene.«*
Matrose Fritz Wehrmann, 26 Jahre
Obergefreiter Martin Schilling, 22 Jahre
Marinefunker Alfred Gail, 20 Jahre
Zwei Tage nach der Kapitulation am 10. Mai 1945 von NS-Marinekriegsrichtern wegen »schwerer Fahnenflucht« zum Tode verurteilt und an Bord des Begleitschiffes Buea vor Norgaardholz erschossen.
»Aber glaubt mir, ich bin kein Verbrecher, wenn man mir auch jetzt die Ehre genommen hat. Ich habe es lediglich getan, nachdem der Krieg ja aus war, und um Euch dann beschützen zu können.«*
*Aus dem Abschiedsbrief von Alfred Gail an seine Eltern.
Jedes Mal, wenn ich an diesem Gedenkstein vorbeilaufe, bleibe ich stehen, lese die Zeilen und spüre einen Schauer. Was für grauenhafte Zeiten, in denen ein Menschenleben nichts zählte.
Der Gedenkstein wird gepflegt, stets stehen dort frische Blumen und Friedhofslichter. Eine hölzerne Sitzgruppe mit bester Aussicht auf die Ostsee und das gegenüberliegende Dänemark lädt zur Pause ein, zum Verweilen, zum Nachdenken. Seit 80 Jahren ist der Zweite Weltkrieg vorbei, doch die Wunden klaffen weiter. Wir laufen nie über unschuldigen Boden. Immer schon tobten Schlachten, Kämpfe, Kriege, gleich um die Ecke. Manchmal reißt uns ein Mahnmal aus dem gegenwärtigen Moment, zurück in die Vergangenheit. Wir können uns gar nicht genug erinnern, auf welche Art und Weise auch immer.
Auch davon wird dieses Buch handeln, das aus einer journalistischen Auftragsgeschichte heraus entstand. Niemals hätte ich zum damaligen Zeitpunkt gedacht, dass ich mehrere weitere Monate mit diesem Thema verbringen würde, voller Informationsdrang und Freude darüber, dass aus diesem bislang kaum beleuchteten Thema wirklich ein Buch werden könnte. Die Protagonisten, über die ich schreibe, haben es verdient, dass ihnen mehr Aufmerksamkeit zuteil wird.
In diesem Buch geht es um Kinder, die aus »unerwünschten Beziehungen« stammen. Eine Liaison »mit dem Feind«, wie es in der menschenverachtenden Propaganda des Nazi-Regimes hieß, galt als Schande. Ob es sich um das Verhältnis einer deutschen Frau zu einem französischen Soldaten oder zu einem griechischen Zwangsarbeiter handelte: Dieser »Verrat«, diese »Sünde« wurde hart bestraft, in nicht wenigen Fällen erfolgten Hinrichtungen. Von der Gesellschaft wurden die Mütter diffamiert, verachtet und ausgegrenzt, selbst in der eigenen Familie. Die Kinder, so sie denn nicht abgetrieben, ausgesetzt oder weggegeben wurden, wuchsen in dem Gefühl auf, dass mit ihnen etwas nicht stimme. Viele von ihnen mussten während und nach dem Zweiten Weltkrieg versteckt und verleugnet werden, und ihre wahre Identität blieb ihnen selbst lange verschleiert. Von Geburt an waren diese Kinder mit einem Tabu belegt. Über ihre Herkunft wurde in den Familien auch im Nachkriegsdeutschland nicht gesprochen, daran erinnerte man sich einfach nicht. Teilweise hält das verzagte Schweigen bis heute an, aus Scham oder Angst vor Diskriminierung. Stammt man etwa aus einer Familie mit einem jüdischen Elternteil, wirkt die Angst um das eigene Leben nicht banal, sondern sehr real. Dennoch existieren sie, diese Kinder des Krieges.
»Children born of war«, dieser Begriff schließt alle ein, die während des Zweiten Weltkriegs oder während der folgenden Besatzungsjahre gezeugt wurden. Alle Erzähler in diesem Buch gehören zu diesen einst unerwünschten Kindern. Trotz unterschiedlicher Herkunft weisen ihre Geschichten einige Gemeinsamkeiten auf. Sie spürten schon in der Kindheit ein seltsames Gebaren ihnen gegenüber. Getuschel, seltsame Blicke, plötzliches Schweigen, wenn das Gespräch auf ein brenzliges Thema kam. Oder sie hörten Schimpfworte wie »Russenbalg«, »Bankert« oder »Moffe« zufällig im Vorbeigehen oder in der Schule, ohne zu wissen, was diese Begriffe bedeuten sollten. Doch das Gefühl der Abgrenzung war für sie direkt spürbar.
Sie fühlten sich fremd, wurden von Spielen mit anderen Kindern ausgeschlossen. Sie trugen falsche Nachnamen - häufig den des neuen und deutschen Vaters -, da ihr Dasein verschleiert werden musste. Sie lauschten nachts an Küchentüren, um etwas über sich zu erfahren, wenn etwa in der Küche die Verwandten saßen und geweint oder geschimpft wurde, über diesen unbekannten Vater. Was richten diese Heimlichkeiten in einer kindlichen Seele an? Die sehr wohl wahrnimmt, wenn etwas nicht stimmt? Wie kann trotz Lücken in der Biografie das Herausbilden einer Identität und das Reifen eines gesunden Selbstbewusstseins gelingen? Welche Rolle spielt Resilienz und wie lässt sich diese innere Stärke vertiefen? Diesen Fragen wollte ich nachgehen. Ich glaube, eine universelle Bedeutung darin zu erkennen, etwas zutiefst Menschliches: Wie wir wachsen und gedeihen können, trotz denkbar ungünstiger Umstände.
Denn kein Schicksal ist fest gemeißelt. Im Monumentalfilm Lawrence of Arabia aus dem Jahr 1962 heißt es an einer Stelle: »Nichts steht geschrieben«. Obwohl ich selbst so gerne schreibe, Dinge festhalten will und gedruckte Bücher so sehr wertschätze, gefällt mir zugleich die Vorstellung, dass jederzeit eine Korrektur erfolgen kann. Durch Menschen, die ihr Schicksal selbst bestimmen und keiner Norm folgen. Die Befehle nicht im blinden Gehorsam ausführen. Die sich nicht ängstlich verstecken lassen, sondern Mittel und Wege finden, unsinnige oder verbrecherische Gesetze zu umgehen. Die an ihren eigenen Willen glauben und diesen so weit wie möglich ausgestalten. Auch darum geht es in diesem Buch. Wie man Widerstände aushält und überwindet, in dem man sich selbst nicht aufgibt.
Eine weitere Gemeinsamkeit der Erzähler: diese schmerzhafte Sehnsucht nach dem unbekannten Vater, der in der Fantasie oft zu einem Retter, einem Erlöser hochstilisiert wurde. Der »echte« Vater würde eines Tages erscheinen und jede Wunde heilen, jedes Problem lösen, so die Hoffnung. Begleitet vom gleichzeitigen Gefühl eines Mangels, einer Lücke im Leben: »Wer ist mein Vater?«, »Was war er für ein Mensch?« und auch: »Warum hat er mich im Stich gelassen?«. Diesen Kindern wurde es verboten, derartige Fragen zu denken, geschweige denn, sie auszusprechen. Das eiserne Schweigen der Mütter hielt jahrzehntelang. In der Mehrheit der erzählten Fälle kamen erst nach dem Tod der Mutter durch Funde im Nachlass oder durch Verwandte, die sich auf einmal erinnern konnten, winzige Details an die Oberfläche. Für diese Kinder wurde jeder Schnipsel aus der Erinnerung bedeutsam. Ein Vorname, ein Foto, ein Brief oder eine handschriftliche Notiz glichen einem Goldschatz.
Noch eine weitere Gemeinsamkeit der Biografien zeigt sich in diesem Buch: Fünf der sechs »verbotenen« Kinder machten sich in ihrem mittleren Lebensalter auf die beschwerliche Suche nach dem leiblichen Vater, quer durch Europa. Auch wenn anfangs nur ein Vorname bekannt war. Es braucht wenig Fantasie, sich vorzustellen, wie kompliziert sich eine Suche mit so wenigen Anhaltspunkten gestalten kann. Es wurden Standesämter angefragt, Archive und Kirchenbücher durchforstet, Todeslisten studiert, alte Zeitungen gelesen, Übersetzer engagiert, Friedhöfe durchkämmt, verbunden mit den bangen Fragen: Werde ich überhaupt fündig? Wenn ja, wen finde ich? War er Täter oder Opfer? Bin ich überhaupt willkommen, wenn ich seine Familie kontaktiere?
Die Suche der erwachsenen Kinder in diesem Buch dauerte Jahre bis Jahrzehnte. Dafür braucht es nicht nur Disziplin und Durchhaltevermögen, sondern auch ein dickes Fell, um diese Geduldsprobe über lange Zeit hinweg auszuhalten. Ebenso kostet diese emotionale Achterbahnfahrt einfach Kraft. Misserfolg ist in jedem Stadium eine reale Möglichkeit: Absagen, amtliche Sackgassen oder gar Ablehnung, wenn eine Begegnung konkret wurde. »Ich wurde vom Hof gejagt«, dieser Satz taucht in einem der Kapitel auf und hier stellt sich die Frage, wie man mit der Wiederholung des kindlichen Dramas der Unerwünschtheit als Erwachsener neu umgeht.
Warum kann eine abwesende, fast spurlos verschwundene Person, die nichts zum eigenen Aufwachsen beigetragen hatte, derartig wichtig werden, dass man darüber die eigenen Kinder fast vergisst? »Obsession«, lautet eine Antwort in diesem Buch. Die Suche entwickelt eine Eigendynamik, einen Sog zurück in die Vergangenheit. Zurück zu den Wurzeln. Welches Grundbedürfnis verbirgt sich hinter dieser Suche? Der Wunsch nach Sicherheit, nach Geborgenheit, nach Zugehörigkeit. Auch Pragmatismus spielt eine Rolle, wenn man über 50 Prozent der eigenen Gene nichts weiß, aber mehr erfahren möchte, um sich etwa über Erbkrankheiten oder genetisch relevante Vorbelastungen aus der väterlichen Linie zu informieren. Auch diese Faktoren spielen eine Rolle, um sich selbst...
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