Schweitzer Fachinformationen
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Die Situation
Schwer keuchend humpelt Fritz Herold, kurz Fritze genannt, so schnell seine alten Beine und Gehbock es zulassen, über den Weg. Es ist keine lange Strecke vom Briefkasten des Seniorenheims bis zum Gebäude der Einrichtung, aber Fritze ist alt. Die Haare sind grau bis spärlich weiß und haben sich vom Oberkopf verzogen und buschig über die Augen gelegt.
Als ehemaliger Briefträger lässt er sich die Aufgabe jedoch nicht nehmen und schlappt die Strecke zweimal täglich hin und zurück. Zum einen am Morgen, um die Zeitung zu holen, zum anderen gegen elf Uhr, wenn sein Nachfolger kommt und die Post bringt.
Weniger wichtig sind für ihn die Briefe, dafür umso interessanter die »stille Post«, das Geflüster des Dorfs, der Tratsch der Gemeinde. Heute gibt es eine Nachricht von größter Wichtigkeit, die das traute, idyllische Heimleben drastisch verändern könnte.
»Die bauen ein neues Seniorenheim! Gleich hinter den Wäldern! Keine zehn Kilometer von hier!«, verkündet er Albert Lehmann, alias Ale, brühwarm.
Der lässt die Zeitung sinken und schaut Fritze über seine Hornbrille aus den sechziger Jahren hinweg an. Das weiße Hemd und das dunkle Sakko sind aus modernerer Zeit, da die Leibesfülle mit den Jahren dazu gewonnen hat, Hängebäckchen, Doppelkinn und Rollstuhl XXL inklusive.
»Wie kommst du denn da drauf? Steht nichts davon in der Zeitung,« sagt er und wackelt mit den Blättern derselben, sodass sie raschelt.
»Vom Postboten habe ich es. Der ist zuverlässig. Schließlich habe ich ihn eingearbeitet. Bei mir darf er sich keinen Schnitzer erlauben. Das weiß er!« Sein von Gicht gezeichneter Zeigefinger schnellt in die Luft und tippt sich damit an die lange Nase, die ihm beinahe bis zur Oberlippe reicht.
Ale kratzt sich am Schädel, der bis auf zwei große Geheimratsecken mit schneeweißem Haar bedeckt ist. Stets haben die Menschen bei ihm Rat gesucht. Das hat sich nicht geändert.
So ist es verständlich nach jahrelanger Amtszeit als Bürgermeister dieser Gemeinde, nun die ehrenvolle Aufgabe des Heimbeirats dieses kleinen Seniorenheims innezuhaben.
»Dem muss man jetzt mit der Weisheit des Alters begegnen«, sagt er und ruft innerlich bereits die drei Weisen zusammen, wobei er einer von ihnen ist, und zwar der, der die Schreibfeder führt.
Die beiden anderen sind Momme, mit bürgerlichem Namen Mombert Brenner, ein Schnapsbrenner mit dem Gesicht eines Zwergs. Sein linkes Auge schielt nach außen, sodass er Ähnlichkeit mit einem Chamäleon hat.
Momme ist bei den Versammlungen unter anderem für die Lieferung des Schnapses zuständig. Das Teufelszeug macht ihn zu einem prophetischen Methusalem, die anderen nach einem Schluck blau.
Zwecks der Frauenquote ist Dorle Holzapfel die Dritte im weisen Rat des Alters. Ein buckliges Weiblein mit tief faltiger Lederhaut und Kopftuch. Sie kann kaum einen Fuß vor den anderen setzen, aber auf die Kraft ihres Pilgerstocks schwört sie und verweigert vehement die Nutzung eines Rollators.
Dorle ist der Meinung, dass ein Rollator für die meisten alten Männer ein Prestigesymbol ist, mit dem sie brillieren wollen, und dass er für die meisten alten Weibsbilder den Hund ersetzt, den sie Gassi führen können.
Sie spricht nicht viel, im Grunde nur, wenn es etwas zu sagen gibt und das ist selten. Daher liegt ihre Qualität darin, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.
So sitzen die Drei nun am Tisch des Heimbeirats und beratschlagen, was der Neubau eines nahegelegenen Seniorenheims für die Behaglichkeit ihres kleinen Domizils bedeuten mag.
»Darauf einen Schnaps«, verkündet Momme und schenkt die Gläschen voll. Mit einem Ruck schüttet er das Gebräu den Schlund hinab. Es schüttelt ihn kurz, dann dreht sich das korrekt blickende Auge nach außen.
»Ich sehe . Ich sehe .« Das Auge zuckt und richtet sich wieder zur Mitte aus. Momme schüttelt den Kopf und murmelt: »Ich sehe, dass ich noch einen brauche.«
Dorle, die den Schnaps nicht angerührt hat, sagt nichts. Sie starrt Momme lediglich aus stahlblauen Augen an, so als wolle sie ihm Worte in den Schädel teleportieren, die sagen: »Trink meins!«
Momme ergreift ihr Glas und kippt es in einem Zug hinab. Wieder schüttelt es ihn und wieder dreht sich das gesunde Auge nach außen.
»Ich sehe . ich sehe düstere Zeiten auf uns zukommen . ganz deutlich wird es. Der FKM kommt . der FKM!«
Dorle nickt und richtet ihren bohrenden Blick nun auf Ale, der Mommes Weissagung Wort für Wort mitschreibt.
Noch bevor er fragen kann, was FKM bedeutet, flüstert Dorles Stimme in seinem Kopf: »Fachkräftemangel«.
Ale blickt vom Aufschrieb auf.
»Ihr meint, unsere Pflegefachkräfte könnten überlaufen? Aber die haben es doch gut bei uns!«
Dorle zieht skeptisch eine Augenbraue in die Höhe, was sie fast wie eine Hexe aussehen lässt, irgendwie furchteinflößend.
»Nicht?«, fragt Ale überrascht.
»Wartedamussichnocheinskippen«, lallt Momme des Heimbeirats erste Frage aufgreifend. Er schnappt sich dessen Schnapsglas, das ebenfalls nicht angerührt wurde. Mit einem Zug ist es ausgetrunken.
Mommes Auge flutscht sogleich nach außen, doch diesmal zuckt das Lid. Ein untrügliches Zeichen, dass ein weiteres Glas in ausknocken würde.
Nach einem langgezogenen Grunzen, was vermutlich Nachdenklichkeit ausdrückt, wedelt er mit dem Zeigefinger in der Luft herum und antwortet: »Jasoistes! Wirkriegenein-Problem.«
Das Dorf
Nun muss gesagt werden, dass das kleine Seniorenheim noch nie Probleme hatte, die Stellen der geforderten Fachkräfte zu besetzen. Das liegt nicht zuletzt an der guten Vetternwirtschaft, die in dieser Gemeinde betrieben wird.
»Gemeinschaft leben«, lautet die Devise.
Da jeder jeden kennt, findet sich immer ein passender Flicken auf das Loch in der Hose, sprich die passende Person für eine Stelle.
Das Dorf ist überschaubar und bringt alle Annehmlichkeiten mit sich, um nicht wegen jeder Kleinigkeit in die Stadt fahren zu müssen.
Es gibt einen Tante-Emma-Laden, der auch so heißt, wobei die Besitzerin Fabian ist und der Erstgeborene von Frieder Kaufmann. Seit Generationen bringen die Kaufmanns keine Emma mehr zustande, aber das tut dem Laden nichts ab. Es gibt alles, was nötig ist und wenn nicht, dann wird es besorgt. Es braucht nur ein bisschen Geduld, mehr nicht.
Natürlich gibt es im kleinen Dorf auch eine Bibliothek, eine Schule und eine Kirche. Zum Leidwesen aller Gläubigen ist in der Kirche bereits der Fachkräftemangel angekommen, daher gibt es in diesem idyllischen Schwarzwälder Dorf keinen eigenen, sondern einen geliehenen Pfarrer.
Ebenso vorhanden ist die Dorfmetzgerei, in der der Metzger noch selbst schlachtet und wurstet, somit genau weiß, bei wem die Sau im Stall gestanden hat.
Die Bäckerei befindet sich gleich nebenan. Versteht sich von selbst, dass auch sie ihr Handwerk versteht. Es wird zwar nicht alles mit den Händen, dafür mit ländlicher Liebe zubereitet.
Nicht zu vergessen ist die Apotheke, wo im oberen Stockwerk der Herr Doktor seine Praxis hat. Dieser hat zwar auch schon sein Alter erreicht, allerdings findet sich kein Nachfolger, daher praktiziert er vermutlich, bis er tot umfällt.
Natürlich darf in dieser Gemeinde die Freiwillige Feuerwehr nicht fehlen, in der gefühlt jeder Dritte aktives Feuerwehrmitglied ist. Da es aber seit hundert Jahren nicht im großen Stil gebrannt hat, gibt es nicht viel zu tun, außer feuchtfröhliche Feste zu feiern.
Zu den restlichen Prozent der Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr gehören die Gattinnen, die Kinder und die Senioren, von denen einige der Letzteren ihre Ehrennadel wichtigtuerisch am Kragen ihres Sakkos zur Schau tragen.
Doch der ganze Stolz der Dorfgemeinde ist das kleine Manni-Museum, das zu Ehren des Bauers Manfred Bauer erbaut wurde.
Dieser fand beim Pflügen seines Ackers ein paar alte Münzen aus der Römerzeit. Wie sich jedoch herausstellte, waren sie nicht von großem Wert. Doch die Denkmalschutzbehörde hoffte auf einen archäologischen Schatz zu stoßen und pflügte über Jahre hinweg den Acker des Bauern erfolglos um.
Zu guter Letzt gibt es das bereits erwähnte Seniorenheim. Damit die älteren Herrschaften sich jedoch nicht diskriminiert fühlen, nennt es jeder Bürger der Gemeinde »Blaues Haus«.
Der Grund hierfür ist mit dem bloßen Auge zu erkennen, denn es ist von außen knallblau angestrichen. Das ist absichtlich so, damit es von jeder Ecke des Dorfes leicht zu erkennen ist und somit jedem, der nicht blind ist, wie ein Signalfeuer den Weg ins Heim leuchtet.
Der Plan
Kehren wir nun zum Blauen Haus zurück, indem bereits durch die Weisheit des Alters nach einer guten Lösung für das nahende Problem des Fachkräftemangels gesucht wird.
»Ich bin mir nicht sicher, ob deine Prophezeiung richtig ist, Momme«, wirft Ale ein. »Wieso sollten die...
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