Schweitzer Fachinformationen
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Auf dem Nationalparkschild stand »Bushrangers Bay 2,6 km« und »Cape Schank 5,4 km«. Hal Challis zwängte sich durch die Schranke, die die Mountainbiker abhalten sollte, und ging den Pfad entlang; das Buschland war warm, die Vegetation färbte sich an diesem Ostersamstagnachmittag im Frühherbst rot und gelb.
Bushranger.
Das klang nach Gewaltverbrechen und Romantik. Durchaus zutreffend, denn Challis war wegen eines Mordes und wegen der Liebe schon einmal hier gewesen.
Herbst. »Fall«, wie die Amis sagen. Besser ließ sich diese Jahreszeit und sein jetziges Leben nicht beschreiben. »Fall.« Ringsherum waren schon die ersten Blätter von den Bäumen gefallen. Seit dem gestrigen Karfreitag war sein Lebensmut in den Keller gefallen, und in der Liebe war alles falsch gelaufen. Und er dachte an die Leiche, die fiel, die durchs Wasser fiel.
Im Weitergehen scheuchte Challis eine kleine Schlange auf. Challis war groß, schlank, aber grobknochig und wirkte ein wenig altmodisch in Jeans, abgewetzter Fliegerjacke und Lederschuhen. Die Sonnenbrille war nicht modisches Accessoire, sondern schützte einfach seine Augen. Er hatte noch nie ein T-Shirt als Unterhemd getragen oder das Haus in Trainingshose verlassen. Er hatte noch nie ein Paar Laufschuhe besessen. Seine Haare waren glatt, dunkel und bewegten sich ein wenig im Wind. Einmal im Monat ließ er sie sich von einer jungen Frau schneiden, die bei ihrem Vater in einem Frisiersalon in Waterloo arbeitete. Sie schnitt gut und war aufmerksam, und für zehn Dollar schickte sie ihn mit einem säuberlich frisierten Kopf wieder hinaus in die Welt. An diesem Tag also fiel Challis äußerlich nicht auf, und er nickte den Menschen, die ihm auf dem Wanderpfad entgegenkamen, ernst und höflich zu. Ostersamstag, 17 Uhr 30. Zu dieser späten Uhrzeit strömten die Paare und Familien zum Parkplatz zurück. Nur Challis ging in die andere Richtung. Er war froh, die Straßen der Halbinsel hinter sich lassen zu können, die vermutlich mit Urlaubern verstopft waren. Nur sehr wenigen fiel auf, wie angespannt er war, so als hüte er ein Gewirr aus Gefühlen, und die Sonnenbrille verbarg den schon gewohnheitsmäßig müden, unbeeindruckten und zweiflerischen Ausdruck auf seinem Gesicht.
Challis hätte auch was Besseres mit seiner Zeit anfangen können. Er hätte mit Tessa Kane eine Osterwanderung entlang den Stränden der Halbinsel machen können, doch gestern hatte er einen Rückzieher machen müssen, und damit war seine Stimmung in den freien Fall geraten. Er hätte daheim sitzen und lesen oder die Blätter zusammenharken können, doch am frühen Nachmittag hatte er sich dabei ertappt, wie er darauf wartete, dass das Telefon klingelte und ihm weitere schlechte Nachrichten aus dem Frauengefängnis brachte, wo seine Frau acht Jahre abzusitzen hatte. Also hatte er das Haus verlassen. Er hätte auch Freunde besuchen können, doch die hatten alle Kinder, und Ostern war eine Zeit familiärer Verbundenheit und Streiterei, und niemand wollte einen vierzigjährigen Single bei sich herumhängen haben.
Also dachte er an Mord. Als der für die Halbinsel zuständige Inspector der Homicide Squad war es sein Job, an Mord zu denken. Tatsächlich gab es davon zwei, beide relativ lange her, beide ungelöst. Beim ersten gab es noch nicht mal eine Leiche, nur einen dringenden Verdacht. Vor zehn Monaten - im Juni des vergangenen Jahres - war die zweijährige Jasmine Tully verschwunden. Sie lebte mit ihrer Mutter Lisa und deren Lebensgefährten in einer heruntergekommenen Fischerhütte am Stadtrand von Waterloo. Das CIB in Waterloo verdächtigte Bradley Pike, den Lebensgefährten. Als es ihnen nicht gelang, Pikes Alibi zu erschüttern oder irgendwelche Beweise aufzuspüren, hatten sie Challis hinzugezogen. Challis hatte Brad Pike ebenfalls im Verdacht, und er hatte Stunden vergeblich damit zugebracht, sein Alibi zu erschüttern. Fälle, bei denen es um Kinder ging, waren die schlimmsten. Challis hasste so etwas. Am Ende fühlte er sich immer müde und nutzlos.
An der Bushrangers Bay war er allerdings wegen des anderen Mordes.
Und wegen der Liebe. Wenn Tessa Kane sich an den Zeitplan hielt, den sie sich vorgenommen hatten, dann würde sie etwa um diese Zeit von Cape Schank aus den Weg antreten. Vielleicht würde er ihr begegnen. Vielleicht würde sie mit ihm reden wollen.
Vielleicht auch nicht.
Beim zweiten Mord gab es eine Leiche; Tessa Kane hatte sie auf der Titelseite ihrer Zeitung die »Ankerleiche von Flinders« genannt. Unglücklicherweise war dieser Name allen im Gedächtnis geblieben, und nun nannte selbst Challis sie so.
Sie war vor etwa sechs Monaten von einem Fischer aus Flinders gefunden worden. Als der Fischer seinen Anker einholen wollte, fiel ihm das ungewöhnliche Gewicht auf. Er hievte ihn weiter an Bord und entdeckte einen zweiten Anker, der sich in den Flügeln seines eigenen Ankers verfangen hatte. Doch der allein machte noch nicht das zusätzliche Gewicht aus. An diesem zweiten Anker hing eine Leiche - sie war angegurtet, ein Unfall war das also nicht.
Der Fischer rief über Handy die Polizei an und dümpelte eine Stunde lang im Meer vor der Bushrangers Bay, bis eine Polizeibarkasse eintraf und den Fall übernahm.
Keiner kannte den Toten. Challis sah die Leiche, bevor der Rechtsmediziner an ihr herumsägte. Das Fleisch war schwammig, aufgedunsen und fiel wie bei einem gekochten Huhn fast von den Knochen. Nur die Fingerspitzen des rechten Daumens und Zeigefingers waren noch brauchbar, zwar aufgeweicht und schrumplig, doch das Labor hatte Flüssigkeit unter die Haut spritzen und sie so weit dehnen können, dass man brauchbare Fingerabdrücke nehmen konnte. Keinerlei Übereinstimmung mit dem nationalen Register. Als sich der Eindruck verstärkte, dass die Zähne möglicherweise im Ausland behandelt worden waren, hatte Challis es über Interpol versucht, über den Home Office National Computer in Großbritannien und übers FBI.
Nichts.
Die Kleidung - Jeans, T-Shirt, Unterwäsche und Nikes - war in asiatischen Billiglohnbetrieben für den australischen Markt hergestellt worden. Zu kaufen gab es sie an jeder Straßenecke.
Der Mann war Mitte dreißig gewesen. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen, bevor er ins Wasser geworfen worden war; mehr wusste Challis nicht. Der Mann wies zudem Stichwunden in der Bauchgegend auf, aber die Todesursache war Ertrinken, wie der Rechtsmediziner feststellte, dem das viele Salzwasser in der Lunge auffiel. Der Schlag gegen den Kopf? Möglicherweise sollte der das Opfer betäuben. Die Stichwunden? Vielleicht, um so dafür zu sorgen, dass die Verwesungsgase entwichen und die Leiche unter Wasser blieb.
Der Schlag war möglicherweise mit eben jenem Anker ausgeführt worden, mit dem die Leiche auf den Grund sank, vermerkte der Rechtsmediziner in seinem Bericht, nachdem er die Form des Abdrucks im Schädel mit dem Ankerschaft verglichen hatte. Mit dem Anker sollte der Körper unter Wasser gehalten werden, bis die Fische die Knochen sauber geputzt hatten. Glücklicherweise war der Fischer zwei oder drei Tage später an der Stelle vorbeigekommen. Oder auch unglücklicherweise, denn das Opfer zu identifizieren und mögliche Täter zu finden bereitete Challis massive Kopfschmerzen.
Zumindest der Anker verriet Challis ein paar Dinge: Die Leiche war versenkt, nicht über eine Klippe geworfen worden, und das ersparte ihm die Mühe, die mögliche Abdrift der Leiche aufgrund der Gezeiten und der Küstenlinie schätzen zu müssen.
Und da war noch etwas. Das Opfer trug eine Rolex Oyster. Silber, mit Gliederarmband. Nicht gerade die teuerste Rolex, aber echt, keine Fälschung aus Singapur oder Bangkok für zehn Dollar. Falls die Rolex auf ein gewisses gesellschaftliches oder finanzielles Niveau hindeutete, dann war dies der einzige Hinweis darauf. An der Kleidung und an den Nikes war dies jedenfalls nicht abzulesen.
Challis marschierte weiter, und die Ankerleiche ging ihm im Kopf herum wie eine schimmernde Erscheinung, die sich eines Tages klar zeigen, Stofflichkeit annehmen und ihm die Geschichte ihrer letzten Tage und Minuten erzählen würde, bevor sie zum Sterben ins Wasser geworfen worden war.
Auf dem grasbewachsenen Hang oberhalb des Pfades konnte Challis Kängurus grasen sehen. Er nickte einer jungen Familie zu, trat beiseite, um ihnen Platz zu machen, und fragte sich, wie er sich entscheiden sollte, wenn er an der Weggabelung an der Spitze der Klippe oberhalb der Bucht angekommen war. Zum Strand hinuntergehen und mit den Elementen plaudern, in der Hoffnung, den Fall zu lösen? Weiter in Richtung Cape Schank gehen und darauf hoffen, Tessa zu begegnen?
Langsam setzte die Abenddämmerung ein. Challis konnte Lichter auf dem Wasser und die Lichter von Phillip Island am Horizont erkennen. Vom Meer her kam ein kühler Herbstwind. Challis zog den Reißverschluss seiner Windjacke zu. Er war hungrig, müde, verfroren, deprimiert - und all dies wegen eines einzigen Telefonanrufs.
Jeder normale Durchschnittsmensch wäre vielleicht nicht um sieben Uhr früh am Karfreitag ans Telefon gegangen. Aber Challis war Inspector bei der Homicide Squad und ging immer ans Telefon. Also bekam er zu hören, wie seine Frau, die im Gefängnis ihre Telefonkarte benutzte, ankündigte, sie wolle sich das Leben nehmen.
Ihr Mut sank immer zu den Feiertagen. Ihr Mut befand sich im Fall.
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