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Ich leugne nicht, einsam zu sein. Zutiefst einsam. Ein König, der niemandem Rechenschaft ablegen muss, was er sagt und tut, ist zwangsläufig sehr allein.[1]
Mohammad Reza Pahlavi, Schah von Persien
Die mächtigsten Diktatoren der Welt sind dazu verdammt, ein Leben in Angst zu führen. Mit einem Fingerschnippen lassen sie Feinde verschwinden. Sie selbst, ihre Familien und Gefolgsleute mögen von ihren luxuriösen Palästen aus ganze Länder beherrschen, aber dennoch sind sie jede wache Stunde von der Angst geplagt, alles zu verlieren. Ganz gleich, wie mächtig sie sind, kein Befehl und kein Geld der Welt kann dafür sorgen, dass die Angst verschwindet. Nur eine falsche Entscheidung und sie werden gestürzt. Und wenn Diktatoren fallen, landen sie häufig im Exil, in einer Gefängniszelle oder gleich unter der Erde.
An einem kalten Wintertag Ende 2007 gab die patrouillierende Amazonen-Garde in grüner Tarnkleidung das Zeichen, alles sei unter Kontrolle. Einen Augenblick später trat Oberst Muammar al-Gaddafi aus dem Hôtel de Marigny im Zentrum von Paris. Nachdem er die Treppe hinuntergegangen war, schritt er über einen roten Teppich auf dem makellosen Rasen vor dem Gebäude. Am Ende des Teppichs stand ein riesiges Zelt. Das Hôtel de Marigny, von der französischen Regierung als Gästehaus für Staatsgäste genutzt, war es gewohnt, den Marotten mächtiger Herrscher zu entsprechen. Aber noch nie zuvor war ein Beduinenzelt im Garten errichtet worden, damit ein Diktator, der sich zu Besuch befand, seine Gäste nach »Wüstentradition« empfangen konnte.[2]
Dieses Zelt war innen mit Bildern von Kamelen und Palmen dekoriert. In schweren Ledersesseln konnten aufmerksame Besucher Platz nehmen und zuhören. Abends wurden Gäste mit einem großen offenen Feuer begrüßt.
Zusätzlich zu dem Zelt, das ihm als Arbeitsplatz diente, machte Gaddafi Paris zu seiner persönlichen Spielwiese. Ursprünglich nur drei Tage nach Frankreich eingeladen, beschloss er, fünf zu bleiben. Er war mit seiner berüchtigten, ausschließlich aus Frauen bestehenden Leibgarde und einer derart großen Entourage in Paris eingetroffen, dass es hundert Fahrzeuge bedurfte, die in langen Kolonnen durch die Stadt fuhren. Präsident Nicolas Sarkozy empfing ihn mit militärischen Ehren. Als Gaddafi beschloss, Schloss Versailles zu besichtigen, weil Ludwig XIV. ihn faszinierte, brachte er eine »Delegation« von hundert Personen mit. Er wurde in einer überlangen weißen Limousine, die überall Staus verursachte, von seinem Zelt abgeholt. Als er mit einem Boot auf der Seine fahren wollte, mussten sämtliche Brücken entlang des Flusses für die Öffentlichkeit gesperrt werden.[3] Gaddafi ging sogar auf Fasanenjagd, ein höchst ungewöhnlicher Programmpunkt für ein besuchendes Staatsoberhaupt im 21. Jahrhundert.[4] Für Gaddafi jedoch Normalität. Seine selbstherrliche Haltung gegenüber dem Rest der Welt veranschaulicht auch seine Reaktion auf einen Vorfall im Jahr 2008, als sein Sohn in Genf verhaftet wurde, weil er zwei Angestellte in einem Luxushotel attackiert hatte. Im darauffolgenden Jahr forderte der Diktator Italien, Deutschland und Frankreich auf, die Schweiz »aufzulösen«.[5] Als das nicht geschah, rief Gaddafi die Muslime in aller Welt zum Heiligen Krieg gegen das Land auf. Und bei der UNO-Vollversammlung, wo Staatsoberhäupter gewöhnlich fünfzehn Minuten Redezeit haben, sprach Gaddafi ganze dreiundneunzig Minuten. Während seines Vortrags bezeichnete er den Sicherheitsrat als »Terrorrat«, warb für seine Website, beklagte sich über seinen Jetlag und sprach über die Ermordung von John F. Kennedy.[6]
Von aller Exzentrik abgesehen: Gaddafi, der in Libyen seit den späten 1960er-Jahren herrschte, war ein blutrünstiger Diktator.
Wollte er weiterleben, musste er an der Macht bleiben. Und um an der Macht zu bleiben, verließ er sich darauf, allen, die er regierte, Angst einzujagen. In den Straßen von Tripolis drohte dem Volk, sollte es sich je gegen das Regime aussprechen, unmittelbar die Inhaftierung oder sogar der Tod. An einem einzigen Tag im Sommer 1996 massakrierten Gaddafis Sicherheitskräfte in einem der Foltergefängnisse des Regimes mehr als zwölfhundert Menschen.[7] Selbst regimefeindliche Gedanken galten als gefährlich. Ein Libyer drückte es so aus: »Wir wagten es nicht nur nicht, irgendeine Kritik zu äußern, wir wagten es nicht einmal, irgendetwas Kritisches zu denken.«[8]
Doch selbst auf dem Höhepunkt seiner Macht - als viele seiner Feinde unter der Erde oder in Gefängnissen verrotteten - sah sich Gaddafi von allen Seiten bedroht. Die Mauern um seinen Hauptwohnsitz waren vier Meter hoch und einen Meter dick. Unter dem Gelände ließ Gaddafi von seinen Männern ein so ungeheuer großes Netz von Tunneln als Fluchtmöglichkeit errichten, dass man darin mit Golfcarts umherfahren konnte.[9] Ein unterirdisches Fernsehstudio stand bereit, damit sich der Diktator bei einer Belagerung an sein Volk wenden konnte.[10] In einem anderen Gaddafi-Anwesen in Tripolis befand sich hinter schweren Bunkertüren ein Operationssaal, damit das Leben des Diktators selbst während einer blutigen Revolution gerettet werden könnte. Das unterirdische Labyrinth dort war dermaßen weitläufig, dass ein Journalist es als »Irrgarten« bezeichnete.[11]
Ein von seiner rosigen Zukunft überzeugter Mann benötigt nicht mehrere Anwesen mit kilometerlangen unterirdischen Tunneln. Aber Gaddafi wusste, seine Zukunft war nicht sicher. Für Diktatoren ist es eine sehr reale Notwendigkeit, Schutzanlagen wie diese zu bauen. Ihre Bedrohungen sind gewaltig und konstant.
Am 15. Februar 2011 brachen in Libyens zweitgrößter Stadt Bengasi Proteste aus, nachdem das Regime einen Anwalt verhaftet hatte, der Opfer des Gefängnismassakers von 1996 vertrat.
In Gaddafis Libyen, wo oppositionelle Meinungen nicht geduldet wurden, war dies ein äußerst seltenes Zeichen für Dissens.[12] Der Panzer des Regimes bekam Risse und die Situation eskalierte rasch, denn der Widerstand wuchs und griff auf andere Städte über. Als Reaktion darauf hielt Gaddafi im Staatsfernsehen eine Rede, in der er schwor, »Libyen Haus für Haus zu säubern«.[13] »Ich werde das Land nicht verlassen«, sagte Gaddafi und fügte hinzu, er werde »als Märtyrer sterben«.[14]
Doch zu dem Zeitpunkt war Gaddafi immer noch zuversichtlich, nicht sterben zu müssen. Und obwohl die Rebellen inzwischen ganze Städte kontrollierten, blieben dem Regime ausreichend Offensivkräfte. Am 16. März näherten sich Gaddafis Truppen dem von Rebellen gehaltenen Bengasi und einer von Gaddafis Söhnen prahlte in einem Interview, dass »in 48 Stunden alles vorbei sein wird«.[15]
Nachdem Gaddafi seine Feinde als Ratten bezeichnet hatte, bestand nun die sehr reale Möglichkeit, dass vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Massenmord stattfinden würde.[16] Daher stimmte der UNO-Sicherheitsrat mit zehn zu null Stimmen dafür, »alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu ergreifen«.[17] Das Ende hatte sich nun seit geraumer Zeit abgezeichnet, dies war der Anfang. Zwei Tage später flogen französische Kampfjets Angriffe auf das Regime, während Kriegsschiffe der US Navy Marschflugkörper abfeuerten, um libysche Luftabwehrsysteme zu neutralisieren. US-Präsident Barack Obama meldete sich dazu von einem Auslandsbesuch in Brasilien: »Wir können nicht tatenlos zusehen, wie ein Tyrann seinem Volk erklärt, es werde keine Gnade geben.«[18]
Als das Regime im Oktober schon stark geschwächt war und noch immer Bomben fielen, ahnte Gaddafi, dass der Moment gekommen war, den er schon lange gefürchtet hatte. Es gab keine gesicherten Anwesen mehr, keine Tunnel und keine Mauern, die den Diktator hätten schützen können. Stattdessen irrten Gaddafi und seine Unterstützer in der Küstenstadt Sirte, in deren Nähe der Diktator zur Welt gekommen war, von Haus zu Haus. Die Vorräte waren knapp und Gaddafis Bodyguards gezwungen, nach Nudeln und Reis zu suchen. Gaddafi selbst war eindeutig verwirrt. »Warum gibt es kein Wasser? Warum gibt es keinen Strom?«, fragte er den Führer seiner Garde. Ein Fluchtversuch war riskant, aber die näher rückenden Rebellen und der ständige Beschuss machten es unmöglich, in Sirte zu bleiben. Schließlich stimmte Gaddafi widerwillig der Flucht zu. Ursprünglich sollte es im Schutz der Dunkelheit um drei Uhr nachts losgehen, doch der Konvoi aus etwa vierzig Fahrzeugen machte sich erst fünf Stunden später auf den Weg. Da war die Sonne bereits aufgegangen. Eine halbe Stunde nach Abfahrt wurde die Wagenkolonne von Raketen getroffen. Eine der Explosionen war so nah, dass der Airbag des Toyota Land Cruiser, in dem Gaddafi saß, ausgelöst wurde.[19] Man beschloss, zu Fuß weiterzufliehen. Nachdem sie ein Gehöft hinter sich gelassen hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in einem übel riechenden Abwasserkanal zu verstecken.[20]
Nachdem die Rebellen ihn gefasst hatten, konnte er nicht begreifen, was geschah. Er war doch Oberst Muammar al-Gaddafi, der Pate von Libyen, der König der Könige von Afrika. Und, wie er sich selbst einmal beschrieb: der Führer, der in den Herzen...
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