Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Begonnen hatte das alles mit dem Eis. Sie hatten es einfach nicht geglaubt.
Freilich hatte es schon Kälteeinbrüche gegeben in dieser Gegend, aber nicht solcherart. Und Vorhersagen, wer glaubte schon an Vorhersagen und dann auch noch an die von Wissenschaftlern. An die eigenen, ja, an die schon: Westwind mit Regen bringt dem Bauern Segen; Dunst auf dem See tut dem Fischer immer weh.
Oder die Würmer: Ein Spatenstich und man wusste es. Je tiefer sie krochen, desto kälter wurde es. Aber das waren ja keine Vorhersagen. Das waren Erfahrungen.
Hätten sie allerdings mit dem Spaten gestochen, dann hätten sie gesehen, dass die Würmer gar nicht mehr da waren. Aber das hatte nur einer entdeckt. Jonathan, der alte Gärtner, und der lebte auf der Insel, den interessierten die Leute zum einen nicht, zum anderen behielt er sowieso alles für sich, denn Jonathan war stumm und obendrein auch noch Engländer.
Der Russin, die ihn einst gewissermaßen erworben hatte, war das nur recht gewesen. Sie hatte einen verschwiegenen Vertrauten gebraucht und einen Kenner und Könner noch dazu. Und Jonathan hatte schon so manchen Erdhaufen verschoben, für die alte Jekyll die Natur künstlich aufgehäuft, in Kew Gardens die Cycadeen umgetopft, die Exoten gepäppelt und die Orchideen gepfropft. Dort hatte sie ihn abgeworben, ein guter Handwerker für ihr Paradies, so etwas kriegte man damals eben nur in England.
Dem neuen Herrn der Insel, der den Gärtner übernommen hatte, war der alte Kauz egal. Zu unwichtig war es ihm, aus welchem Samen hier welche Exoten gezogen worden waren. Und ob man graben musste oder nicht. Und wenn ja wie tief. Den neuen Herrn interessierten andere Dinge. Und Menschen, vor allem Menschen, Künstler vor allem, Frauen, aber auch Männer, Mädchen und eine gewisse Macht. Und in diesem Jahr interessierte ihn sein Fest. Schließlich, sagte er, ginge ein Jahrzehnt zu Ende und mit ihm eine Ära. Ersteres wüssten alle, Letzteres wisse er.
Und dieser Tatsache gebühre ein Fest. Ein besonderes Fest.
Aber dann war plötzlich die Kälte da gewesen. Und zwar schon am Heiligabend, und die Wissenschaftler und die Würmer hatten doch recht gehabt.
Sie war am Nachmittag von den Bergen herabgefallen, mit solcher Wucht, dass die Mütter auf dem Weg zur Kindermesse ihren Kleinen Schals um Mund und Nase banden und sich selbst wollene Tücher, weil die Luft beim Einatmen derart in die Nase stach, dass das Hirn zu schmerzen schien, jenes Organ, von dem sie doch gerade erfahren hatten - in der Zeitung hatte es gestanden, und der Dottore, den sie als Experten gleich gefragt hatten, hatte es bestätigt -, dass es nichts fühle, dass man ihm Stromstöße versetzen könne, dass es zucke, aber nichts fühle - doch angesichts der Kälte tat es weh. Die Augen tränten, die Haut spannte, die Hände wurden steif, doch zur Messe mussten sie, auch wenn es eine neue Sitte war und sie störte, von einem Pfarrer eingeführt, der in Deutschland studiert hatte und für Reformen schwärmte, dafür mussten sie nun sogar extra in die nahe Stadt. Und das, obwohl sie, die Frauen, doch viel zu beschäftigt waren mit den Vorbereitungen für den Abend. Das große Essen der Familien. Fünf waren es. Fünf Familien, ein Dorf. Freilich bestand jede Familie aus sehr vielen Mitgliedern, und auch waren sie alle untereinander verwandt.
Binnen weniger Stunden, es mögen zwei oder auch drei gewesen sein, mehr nicht, war die Temperatur von zwei auf minus 16 Grad gefallen. Es war windstill gewesen, und der See hatte ein merkwürdig weißes Licht abgegeben. Schon am Abend hatten die ersten Eisränder angesetzt, und am Tag darauf, am ersten Weihnachtstag, schwamm bereits eine Schicht klaren durchsichtigen Eises auf dem See. Es waren minus 24 Grad. Sie konnten sich nicht erinnern, den See je bedeckt von Eis gesehen zu haben.
Selbiges hatte bewirkt, dass die Glocken beim Mittagsläuten noch länger und lauter zu schlagen schienen, denn auch von den anderen Ufern drang der Klang herüber, einem Echo gleich, das auf den See prallte, gegen die Berge traf, sich vergrößerte, anschwoll, es klang wie der Ruf einer Verrückten.
Man muss wissen, dass es sich bei den Glocken von Ronco und den umliegenden Dörfern um sehr einfaches Geläut handelte. Man könnte auch sagen, es schepperte wie Blech.
Am Tag nach Weihnachten hatte ebenso plötzlich Tauwetter eingesetzt. Zum Glück für die Dörfler, der deutsche Herr, Signore Max, der neue Eigner der Insel, war nämlich schon ungeduldig geworden, hatte mehrfach angerufen bei ihnen, nach allen zur Verfügung stehenden Hilfskräften ersucht, Tischler sollten noch kommen, er wollte weitere Heizanlagen haben angesichts der Kälte, Gasstrahler für die Terrassen, Baldachine gegen Regen oder Schnee, Küchenpersonal und Dienstmädchen sowieso, auch in der nahen Stadt hatte er Verschiedenes bestellt, es musste gebracht werden. Sie lebten von ihm. Und dies war ein besonderes Silvesterfest, wie er es ihnen ja nun oft genug gesagt hatte. Außerdem erwartete er noch allerhand Gäste. Gut die Hälfte waren erst da. Was allerdings schon bedeutet hatte, dass die beiden weißen Yachten, mit denen er seine Freunde und Bekannten abholen ließ, die Schauspieler, Musiker, Maler, Bankiers, Geschäftsleute, Ärzte, die ganze noble Gesellschaft also, dass die Schiffe bereits zigmal den See gekreuzt hatten. Nicht auszudenken, wenn er zu Silvester wieder gänzlich zugefroren wäre.
Anfang Dezember war sogar ein Chinese eingetroffen, der das Feuerwerk gestalten sollte, ein gewisser Herr Min. Auch er benötigte noch diverses Material und wegen der Wetterbedingungen zusätzliche Arbeitskräfte.
Und das Fest hatte diesmal sogar ein Motto, es hieß nicht nur einfach Silvester, es hieß: »Die golden Barke - Ahoi, ins neue Jahrzehnt!«.
Signore Max war aus Hamburg.
Sein Bruder, der Doktor, genauer gesagt sein Halbbruder, war bereits im November eingetroffen. Auch er hatte Gäste mitgebracht, diese waren allerdings etwas anderer Art.
Un sacco di matti. Ein Haufen Irrer.
Sie kamen jedes Jahr, doch diesmal waren sie schon eher da als sonst, und es waren mehr. Sie fluteten das Dorf. Ein Eindruck, der sicher übertrieben war, vielleicht lag es an ihren Persönlichkeiten, die doch recht raumgreifend waren, selbst die abwesend Wirkenden schienen noch sehr präsent. Alte Bekannte waren unter ihnen, so der Zahlmeister und die Frau, die beim Sprechen immer den rechten Arm über den Kopf legen musste, um sich ans linke Ohr zu greifen. Madame Hystérie, der dürre Spastiker und das debile Lottchen, und natürlich die beiden Dottori Nummer 1 und 2. Die anderen waren neu, und wären sie hier ehrlich gewesen, vorurteilsfrei, rein äußerlich gesehen hätte niemand diese Gäste als Irre erkannt. Es waren überwiegend wohlhabende und zum Teil ausgesprochen schöne Menschen. Es hätte sich um Ausflügler vom nahen Sonnenberg handeln können. Eine neu angereiste Gruppe Badekurender und Frischköstler. Doch je harmloser der Eindruck, umso misstrauischer wurden sie beäugt.
Der Doktor, ein hoch aufgeschossener, schlanker Herr mit leicht schütterem Haar und auffallend großen Ohren, hatte wie immer alles gelassen genommen, lächelnd lief er mit ihnen durch das kleine Dorf. Die Uferstraße entlang, spazierte den Hügel mit den wenigen Villen hinauf, die um diese Zeit in der Regel leer standen, trank Café mit ihnen in der kleinen Schänke am Markt und gelegentlich auch ein Gläschen Wein. Er lachte mit ihnen, er stritt mit ihnen, wenn er das nicht tat, schrieb er in sein Heft. Der Doktor hatte immer ein Heft bei sich.
Manche seiner Patienten freilich verlangten nach Arbeit, er beschäftigte sie im Garten, gelegentlich leitete sie gestikulierend der alte Jonathan von der Insel an. Was sie machten, war stets ansehnlich, nur die Arbeit des Dürren wurde regelmäßig weggeschmissen, er wollte backen, doch er sabberte zu viel, den Kuchen wollte niemand essen. Und da die Leute aus Ronco an die Heilkraft des Speichels glaubten, der Gottes Atem schließlich barg, glaubten sie ebenso an seine Zerstörungskraft, denn vielleicht war es ja auch der Teufel, der reingespuckt hatte, und so warfen auch sie den geschenkten Kuchen weg, sodass die Hunde, Katzen und Vögel ihn fraßen. Wobei selbst diese anschließend misstrauisch beäugt wurden. Das ein oder andere Tier wurde danach sicherheitshalber erschossen.
Doch der Doktor ließ den Dürren backen. Streuselkuchen, immer wieder Streuselkuchen, »bricht die Kruste im Hals, regnet's Ohrenschmalz«. Die Gäste des Dottore durften alles machen. Nur auf die Insel durften sie nicht. Und dieses Verbot war streng! So streng, dass, wenn es einmal einer versuchte, sich unter eine Gruppe heimkehrender Gäste des Signore Max zu mischen, oder unter Ausflügler, die die Insel zwar nicht betreten durften, sie aber so dicht streiften, dass sie Blicke erhaschen konnten auf jenes spektakuläre Leben, das dort vor sich ging, dass es dann sehr leicht war, dieses Abweichlers habhaft zu werden, weil er zitterte oder rote Flecken im Gesicht ihn verrieten. Bootsmann Adriano sortierte die Falschen dann wieder aus.
Mit einem Gast war das dieses Jahr etwas schwierig, zumal er es immer wieder versuchte. Er war ein Admiral, war zur See gefahren, zwölfmal um Kap Horn, er war bereits 70, aber sehr stark, und es bedurfte zwei weiterer Männer, um den Admiral wieder von Bord zu tragen, der in seiner Wut ganz steinern wurde und es irgendwie vermochte, auch schwerer zu werden, so als sei er eine Statue, und zwar aus Bronze. Er wurde an dem kleinen Hafen abgestellt, bis er irgendwann wieder weich wurde, die Dottori 1 und 2 rahmten ihn dann ein, oder der Dürre holte ihn ab mit dem bayrischen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.