Schweitzer Fachinformationen
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Die Zugreise war lang gewesen, zuweilen hatte ich gedacht, sie würde nie enden, aber die letzten Kilometer an Bord dieses schäbigen Fuhrwerks, das sich mit etlichen Mühen den Berg hinaufkämpfte, hatten mir endgültig jegliche Kraft geraubt. Ich seufzte, während ich die beeindruckenden Steinriesen betrachtete, die rings um mich aufragten, und umklammerte fröstelnd die Ecken meines Koffers. Obwohl es Juli war, lag die Temperatur hier deutlich unter der, an die ich gewöhnt war. Ich dachte an die drückende Hitze Roms zurück, an das träge Chaos, das in der Stadt herrschte, und an den endlos weiten Himmel, der sich über ihren Ruinen erstreckte. Hier musste er sich seinen Raum gegen die Berge erstreiten, und es kam mir vor, als befände ich mich in einem riesigen Felstrichter. Man sah keinen Horizont; wohin auch immer ich meine Aufmerksamkeit wendete, stellten sich die Silhouetten der Berggipfel meinem Blick entgegen, einige schneebedeckt, andere grün bewaldet.
»Dauert es noch lange?«, fragte ich Bernard, den Mann, der mich vom Bahnhof in Aosta abgeholt hatte und nun das Fuhrwerk lenkte. Er hatte mich bei meiner Ankunft mit einem knappen Gruß bedacht, um danach in düsteres Schweigen zu verfallen.
»Nein, Hochwürden, nicht mehr lange«, antwortete er mit einem seltsamen Einschlag. Mein Französisch war ausgezeichnet, aber im Aostatal, so hatte man mir erklärt, bedienten sich die Menschen des patois, und das war mir nicht sehr vertraut.
»Dort liegt das Dorf.« Mein Charon hob einen Arm und deutete auf eine Senke zwischen zwei Bergen, in der ich meinte, eine kleine Ansammlung von sich aneinanderdrängenden Häusern mit einem schmalen, darüberragenden Kirchturm zu erkennen. Ich beugte mich aus dem offenen Fuhrwerk, um besser sehen zu können. Es dämmerte bereits, und der Himmel über den Gipfeln wirkte wie ein großer, in seinen Farben umgekehrter Bluterguss in Tönen von Gelb bis Violett, die demnächst in dunkelstes Blau übergehen sollten. Bald würde die Nacht hereinbrechen, und ich dankte stumm dem Herrn dafür, dass er mich heil und gesund zu meiner neuen Heimstätte geführt hatte, zu diesen Menschen, die ich mir als schlicht und arbeitsam vorstellte, und die zu leiten und im Glauben an Gott zu vereinen meine Aufgabe sein würde.
Ächzend bewegte sich das Fuhrwerk durch die verlassenen Gassen des Dorfes vorwärts. Die Hauptstraße war so eng, dass die Häuser auf beiden Seiten sich einander entgegenzurecken und beinahe zu berühren schienen. Die alte Kirche im klassizistischen Stil wirkte seltsam unpassend inmitten dieser einfachen Häuser aus Holz und Stein. Sie stand auf einem winzigen Platz, der diesen Namen eigentlich nicht verdient hatte, und wurde schier erdrückt von den uralten Gebäuden, deren Fenster auf den Kirchplatz gingen.
Das Fuhrwerk hielt vor der mächtigen Treppe, die zur Kirche hinaufführte. Die Wohnung des alten Pfarrers lag gleich nebenan. Bernard kletterte vom Bock, reichte mir eine Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen, dann lud er meinen Koffer ab.
»In den nächsten Tagen wird weiteres Gepäck eintreffen«, informierte ich ihn in der Annahme, dass es seine Aufgabe sein würde, dieses abzuholen. Der Mann nickte nur als Antwort und grunzte etwas Unverständliches dazu.
Wir gingen zur Haustür, und genau in dem Moment, als Bernard klopfen wollte, ging die Tür auf. Auf der Schwelle konnte ich die Gestalt einer jungen Frau erkennen.
»Ach, da seid Ihr ja. Ich habe die Hufe auf dem Pflaster gehört«, sagte sie, öffnete die Tür weit und forderte uns auf einzutreten. Sie trug eine weiße Schürze über ihrem Kleid, die blonden Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, die über den Ohren zu Schnecken aufgerollt waren.
»Willkommen, Hochwürden, es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen. Ich bin Marie, ich kümmere mich um den Haushalt«, stellte sie sich vor.
Die junge Frau wirkte geradeheraus und hatte einen festen Händedruck. Ihr Gesicht war gerötet, und ich nahm an, dass sie gerade in der Küche zugange gewesen war, weil ein köstlicher Geruch das Haus erfüllte. Mein Magen knurrte, wie ich voller Scham bemerkte. Ich hatte seit dem Morgen nichts mehr zu mir genommen, und für einen Mann von meiner Statur war dies ähnlich wie für andere tagelanges Fasten.
»Guten Abend, Marie«, stammelte ich und drehte verlegen meinen Hut zwischen den Händen.
»Wollt Ihr nicht ablegen? Ich zeige Euch dann gleich Eure Unterkunft«, sagte sie.
Marie schien niemand zu sein, der gern Zeit verlor. Sie nahm meinen Mantel und meinen Hut an sich und eilte durch den Flur davon, bei jedem Schritt, den sie machte, bebte ihr üppiger Busen. Ich konnte ihr nur schweigend folgen.
Sie führte mich in ein kleines, anheimelndes Zimmer. Die Wände waren holzgetäfelt, und aus Holz waren auch der Fußboden, das Bett, der Kleiderschrank und die Betbank unter dem Fenster. Ein schlichter, aber wohnlicher Raum, so ganz anders als das, was ich bisher gewöhnt war. Meine Gedanken wanderten zurück zu den hohen Decken der eleganten Wohnung in Rom, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, zur majestätischen Pracht der barocken Kirchen, in denen ich mein Studium absolviert hatte. Zu all dem Gold, den Stuckverzierungen und den Heiligenstatuen aus Marmor. Zu den Säulen des Petersplatzes im Licht des Sonnenuntergangs. Es gab eine einzige, eine ganz bestimmte Stelle, von der aus man alle Säulen hintereinander sehen konnte.
Ich schluckte und versuchte, diese Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Sie gehörten der Vergangenheit an, Saint Rhémy war nun meine Gegenwart: ein vollkommen anderes Umfeld als das, aus dem ich kam. Es war mein ausdrücklicher Wunsch gewesen, all das hinter mir zu lassen, um beweisen zu können, wie ernst ich meine Aufgabe nahm. Wie stark mein Glaube war. Das wollte ich vor allem mir selbst beweisen, und je härter die Umstände waren, unter denen ich arbeiten müsste, desto mehr würde mein Geist gefestigt.
Marie ließ mich allein, damit ich die wenigen Dinge einräumen konnte, die ich mitgebracht hatte, doch zuvor erinnerte sie mich noch daran, dass das Abendessen in wenigen Minuten auf dem Tisch stehen würde. Ich grübelte kurz darüber nach, wo ich die Dinge, die ich mir aus Rom hatte nachschicken lassen und die in ein paar Tagen eintreffen würden, unterbringen sollte. Es handelte sich vor allem um Bücher. Ohne Bücher fühlte ich mich verloren. Zweifelnd sah ich mich in dem kleinen Raum um. Auf dem Nachtschränkchen neben dem Bett lag eine alte Bibel, die unheilverkündend knisterte, als ich versuchte, sie aufzuschlagen. Offenbar hatte seit Jahren keiner mehr darin geblättert, und so schloss ich sie schnell wieder, da ich fürchtete, die Seiten könnten jeden Moment unter meinen Fingern zerfallen.
Nachdem ich mich kurz präsentabel gemacht und mir die Hände in dem eiskalten Wasser der Schüssel gewaschen hatte, die man mir freundlicherweise hingestellt hatte, ging ich wieder ins Untergeschoss, immer dem Essensduft nach, der das Haus erfüllte.
In dem Zimmer, das wohl der Hauptraum des Hauses sein musste, obwohl es nur von bescheidenen Ausmaßen war, sah ich einen für zwei Personen gedeckten Tisch. In einem Sessel vor dem erloschenen Kamin saß ein Mann, der in eine Decke gewickelt war. Ich war auf der Schwelle stehen geblieben und konnte von dort nur die dünnen weißen Haare erkennen, die auf seinem fast kahlen Schädel wuchsen. Der alte Pfarrer, den ich ablösen sollte, musste schon recht fortgeschrittenen Alters sein. Ein leises Schnarchen drang durch den Raum. Verlegen räusperte ich mich. Ich wusste nicht, wie ich mich bemerkbar machen sollte, ohne ihn zu stören. Zum Glück erschien nun hinter mir Marie, in den Händen ein großes Tablett mit zwei dampfenden Schüsseln und dicken Scheiben gerösteten dunklen Brotes. Sie stellte alles auf den Tisch, während ich nervös meine Finger knetete, dann ging sie zu dem schlafenden Mann und rüttelte ihn sanft an der Schulter.
»Pater Jacques? Es ist Zeit fürs Abendessen, außerdem ist der neue Priester angekommen«, sagte sie ziemlich laut.
Der Mann schrak zusammen, klapperte mit den Lidern und streckte dann eine Hand zur Decke aus, um die Brille aufzunehmen, die ihm von der Nase gefallen sein musste.
»Er ist schon hier?«, krächzte er mit rauer, kehliger Stimme. Dann setzte er sich die Augengläser auf und drehte sich zu mir, um mich eingehend zu betrachten. Er hatte buschige weiße Augenbrauen, eine große Hakennase und blaurot schimmernde Lippen, die so schmal waren, dass sie mehr wie eine Narbe in seinem Gesicht wirkten. »Er ist aber schnell gekommen«, war sein einziger Kommentar, nachdem er mich eine Zeit lang genau gemustert hatte. »Hilfst du mir, Marie?«, fragte er dann die junge Haushälterin. Sie beugte sich über ihn, und es kam mir vor, als würde sie ihn mit ihren kräftigen, wohlgeformten Armen hochheben. Dieser Mann wirkte leichter als ein vertrocknetes Blatt, ein leichter Windstoß hätte genügt, um ihn von den Beinen zu holen. Als er endlich stand und Marie ihm seinen Gehstock gebracht hatte, machte er ein paar unsichere Schritte auf mich zu.
»Dann seid Ihr also Don Agape, der Pfarrer aus dem Süden?«, fragte er und sprach das Wort Süden so aus, als wäre es eine Beleidigung. Zumindest kam es mir in dem Moment so vor.
»Ja, Vater. Ich freue mich, Euch kennenzulernen.« Ich trat näher und streckte ihm die Hand zur Begrüßung hin.
Er betrachtete sie einige Sekunden lang mit angewidertem Gesichtsausdruck, dann wandte er sich wieder an die Haushälterin: »Marie, rück mir den Stuhl zurecht! Ich habe Hunger und will mich setzen.«
Marie tat dienstbeflissen, was man so barsch von ihr verlangt hatte. Mit grimmiger Miene setzte Hochwürden Jacques sich zu Tisch.
»Nun, wollt Ihr...
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