Schweitzer Fachinformationen
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Manchmal passiert nichts bei uns. Also überhaupt nichts, da denke ich, ich bin in einer Geisterstadt oder so einem militärischen Sperrgebiet, wo ein Pfurz1 eine Sprengung auslöst. Aber dann gibt es Tage wie heute, da geschieht so viel auf einmal, dass du glaubst, Pöcking ist die Schaltzentrale für die ganze Welt. Aber der Reihe nach. Wobei eine Reihe herzustellen gar nicht so leicht ist. Vor fünf Stunden ist nämlich auf der Wiese vor unserem Hof, der am Waldrand hoch überm Starnberger See liegt, schon mal eine Bluttat geschehen.
Zuvor steht die Emma neben unserem Bett und reißt mich aus dem Tiefschlaf mit ihrem Geheul. »Es blitzt und brennt, Papa, schnell.«
Ich rumple aus meinem Dauertraum auf, schau zum Fenster und warte kurz, bis ich in der Morgendämmerung überhaupt was erkennen kann. Von einem Gewitter ist nichts zu sehen, stattdessen höre ich nur das ferne Dröhnen von der Umgehungsstraße. »Das war bestimmt nur ein Flieger auf dem Weg nach München«, will ich sie beruhigen und knipse die Nachttischlampe an.
Emma schnieft, barfuß, im Nachthemd. »Und die Oma Anni war auch wieder da.«
Meine Mama geistert zwar noch durch meine Träume, obwohl sie seit fünf Jahren das Irdische hinter sich gelassen hat, aber dass sie im Zimmer unserer Tochter herumspukt, ist mir neu. »Die Oma lebt nicht mehr«, sage ich zur Emma. »Sie ist längst im Himmel, wirklich.« Ich zweifle selber ein bisschen daran, denn wenn sie droben so weitermacht wie hier unten, ist sie auf dem Weg ins Paradies bestimmt von jemandem aufgehalten worden. Meist hab ich als Bub Stunden auf mein Wurstbrot gewartet, weil sie unterwegs wen getroffen hat, von dem sie den Namen zwar nicht gleich gewusst hat, den sie aber trotzdem sofort in ein Gespräch verwickelt hat. »Sie sind doch der Herr Ding, oder?« Einkäufen war wie Urlaub für meine Mutter. Deshalb musste sie auch mehrmals am Tag ins Dorf. Und obwohl sie zu Hause auf unserem Kanapee gestorben ist, stelle ich mir ihre Himmelsauffahrt immer in der Dorfmitte an dem steilen Berg vor. Da, wo rechts die Metzgerei, der Bäcker und die Sparkasse sind und links der Bioladen, die Apotheke, Michaelas Haarstüberl und so ein Kleidergeschäft, in dem ich aber noch nie drin war, deshalb fällt mir der Name jetzt auch nicht ein.
»Die Oma war aber da.« Emma stampft mit dem Fuß auf. Kohl, das Stoffschaf, das sie überallhin mitschleppt, rutscht ihr aus dem Arm. Sie hat es Kohl genannt, weil ich ihr mal erklärt habe, dass du Schafe, wie Babys auch, nicht mit Kohl füttern sollst. Bauchwehgefahr, der Name als Warnung.
Ich fang Kohl auf und ziehe Emma am Arm her. »Na gut, dann leg dich zu uns rein.« Das lässt sie sich nicht zweimal sagen. Sie hüpft ins Doppelbett, kriecht unter die Decke, aus der das nächtliche Betäubungsgas, ein Bohnen-Zwiebel-Gemisch, aufsteigt, und schläft, noch bevor sie die Matratze berührt. Als ich die Lampe ausschalte, höre ich die Haustür unten, ein leises Klicken, und dann das Knarzen der Treppenstufen. Kein Wunder, dass Emma Gespenster sieht. Unser Sohn Emil schleicht sich herauf und verschwindet mit einem leisen Türquietschen in seinem Zimmer. Wo treibt sich der Bub bloß die ganze Nacht herum? Ich werde ihn mir später, vielleicht, ganz bestimmt, mal vorknöpfen.
Wie hätte mein Vater das gelöst, wenn ich damals, wie Emil jetzt, mit fünfzehn die ganze Nacht weggeblieben wäre? Ich wälze mich erst auf die eine, dann auf die andere Seite.
Bei meinen großen Brüdern jedenfalls, wenn die was angestellt hatten und meine Mutter eine Bestrafung verlangte, hat er nur »Ja mei« gesagt. »Da kannst du nichts machen, so sind sie halt, die Buben.« Dann hat er mit den Schultern gezuckt und den Flaschenöffner herabgezogen, der bei uns an einer Schnur von der Küchenlampe baumelte. Kaum denke ich an meinen Vater, taucht das Blinken in meinem Hirn auf, egal, wie fest ich die Augen zusammenpresse. Seit Jahren geht das so, ich kann's nicht abstellen. Mal stärker, mal schwächer, sehe ich es überall, als hätte jemand eine Warnleuchte in mein Hirn geschraubt. Ich versuche mich mit anderen Sachen abzulenken, zu tun gibt es genug. Abgesehen von den Leuten im Dorf, denen ich ständig bei irgendwas helfen muss, steht auch bei uns einiges an.
Schafe scheren. Dreißigster Mai, und noch immer schleppen meine Tiere den Wintermantel mit sich herum. Gestern ist die Locke, das Walliser Schwarznasenschaf mit den Korkenzieherhörnern, gegen einen Pfosten gelaufen, weil sie durch ihre dichten Rastalocken nichts mehr sieht.
Und um das Elektrische gehört sich gekümmert. Bei uns dreht man noch das Licht an. Die alten Leitungen im Haus stammen noch aus der Zeit, als der Strom erfunden wurde. Sie sind mehr wie morsch, ständig haut's die Sicherung raus. Vor lauter Arbeit versuche ich lieber, an was Schönes zu denken. An meine Glucken, die sind eine Augenweide. Die Glanzgefiederten haben zu brüten begonnen, und wenn alles gut geht, schlüpfen in drei Wochen die ersten Grauschwarzgeflaumten.
»Kannst du auch nicht wieder einschlafen?« Sophie tastet, über Emma hinweg, nach mir. Bei ihr verstehe ich die Aufregung, heute ist ihr erster Tag beim Mord, nach langen Jahren bei den Drogen.
»Versuch, noch ein Stünderl zu schlafen. Ich weck dich, mit einem Kaffee«, flüstere ich ihr zu, streichle ihre kleine Hand und rolle aus der Decke. Mein Inneres zwingt mich hinaus und aufs Klo, wo ich vorsorglich das Fenster kippe und dann auf der Schüssel noch etwas weiterdöse. Ich kann mich auch in Ruhe schicken, Blinken hin oder her.
Was ist mit dem Fuggerjakl heute? Schläft der noch? Der kräht doch sonst um die Zeit? Auf einmal reißt es mich. Da draußen, da draußen riecht's nach Blut. Hastig springe ich in die Stallhose, in der noch die lange Unterhose steckt mit den drei Paar Socken dran, zerre meine Wie-raus-so-rein-Schichten (Kurzarmshirt, Langarmshirt, Strickpulli) über den Kopf, laufe die Treppe runter, dann die drei Stufen nach draußen und fahre in die Gummistiefel, die vor der Haustür schon in Gehrichtung stehen. Da drückt was. Ich ziehe den rechten Stiefel wieder aus, schüttle eine Maus heraus. Die wollte mir der Chiller anscheinend zum Frühstück servieren.
Am Schwanz schleudere ich den kleinen Leichnam in Nachbars Garten, einem Zugereisten, der sich schon oft über unsere Hühner beschwert hat, schlüpfe wieder in den Stiefel und wanke los. Reste von Nebelschwaden umwabern mich. Vielleicht hat Emma doch recht gehabt mit ihrem Gewitter, und ich hab nur alles verpennt? Das Gras quietscht unter meinen Schritten. Auf der großen Wiese turnt eine Gestalt. Soweit ich den Schattenriss deuten kann, ist das der Fidl, mein Schwiegervater. Er versucht, die Sonne mit seinen morgendlichen Verrenkungen aus der Wolkenwand zu locken. An den Büschen entlang hangle ich mich über den Trampelpfad zum Schneiderberg vor bis zum fahrbaren Hühnerstall, einem einachsigen Bauwagen. Das sieht nicht gut aus, gar nicht gut, direkt schlecht sogar, oje! Der Schreck fährt mir in die Glieder. Die kleine Seitenklappe, der Ausstieg für die Hühner in der Bauwagentür, steht sperrangelweit offen. Ich luge hinein. Das war's dann wohl mit den Augsburgern. Hab ich gestern Abend tatsächlich vergessen, den Stall zuzumachen? Wo hab ich nur mein Hirn abgestellt? Aus ist's mit dem Fuggerjakl, dem schwarzen Gockel mit dem herrlichen Becherkamm. Die vielen Federn verraten, dass er noch versucht hat, seine Hennen zu verteidigen. Aber sein Heldentum hat ihn das Leben gekostet. Nur seine Haxen liegen noch im Stall, die Krallen verkrampft. Zum Heulen wäre es, wenn so ein bisschen Salzwasser was nützen täte. Die Hühnerstangen sind aus den Haltern gehoben, die Eier zerschlagen. Ein Ei liegt in der Ecke, halb verdeckt unterm Heu. Ein zweites scheint auch noch unbeschädigt zwischen zerlaufenen Dottern in einem herausgeworfenen Nest. Und auf ein drittes trete ich fast drauf. Es befindet sich unter einem Hühnerstallrad im Gras. Ich schaue zum Waldrand. Irgendwo dort hockt der Übeltäter und stopft sich mit meinen Lieblingen voll.
Wie rohe Eier trage ich die rohen Eier in meinen Pulli gehüllt zurück zum Haus.
Von seinen Morgenübungen erholt, passt mich mein Schwiegervater ab, mit dem Neunundzwanzigsten, dem abgerissenen Kalenderblatt in der Hand. »Horch. Kehrt ein Ge., nein, also geht ein Gerippe in eine Bar.« Jeden Tag das Gleiche. Haspelnd, sich mehrmals verlesend, trägt Fidl den neuesten Witz von der Kalenderblattrückseite vor, auf nüchternen Magen noch, über hundertfünfzig Witze heuer schon, die Jahreshalbzeit naht. ». und sagt: Einen Obstler und einen Wischlappen, bitte.«
Ich kann mich aber gerade nicht zum Lachen zwingen und werfe stattdessen einen Blick auf die drei Leinwände, die zum Trocknen an einem Reifen von seinem alten Daimler-Bus lehnen. Starnberger See mit Roseninsel, dahinter die ganze Bergkette, von der Zugspitze angefangen bis zur Benediktenwand, exakt jeder Baumwipfel und Felsen hingetupft, Fidls Meisterstücke und sein beliebtestes Motiv. Am Dampfersteg, in einem kleinen Kupferdachhäuschen an der Sisi-Schlossmauer, da hat er sein Atelier. Er macht auch Porträtskizzen und bietet seine Gemälde zum Verkauf an. In einem ehemaligen Kiosk, wo es früher Dauerbrezen und Steckerleis gab, verteilt er die Dampfschifffahrtspläne. Außerdem verkauft er gemalte Postkarten vom Sisi-Schloss und dem Starnberger See in Öl auf Leinwand und Hartfaserplatten, in allen Größen für zu Hause.
»Drei Bilder in einer Nacht, Respekt! Warst du heute schon in Possenhofen?«
Er schüttelt den Kopf, greift sich tief in den Pulloverkragen, fingert eine Zigarette aus der Packung, die in der Hemdtasche direkt über dem Herzen steckt, und zündet sie an. »Den See und die...
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