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Als das Dienstmädchen Eva am Vorabend des Ersten Weltkriegs ihrem Leben in der Donau ein Ende setzen möchte, wird sie stattdessen in die Arme des jungen Infanterieleutnants Alois Kozusnik gespült. Statt ihres Lebens verliert sie ihre Unschuld. Es ist der Startpunkt einer epischen Geschichte, die sich aus drei großen Erzählsträngen zusammensetzt und sich bis in die heutige Zeit fortspinnt. Was macht den Menschen aus? Wie durchlebt und übersteht er Jahre der Unterdrückung und Gewalt? Wie schafft er es immer wieder, Kraft zu schöpfen, zu hoffen und zu lieben?Dimitré Dinev erkundet in seinem neuen großen Roman die Geschichte Europas und die zentralen Fragen des menschlichen Zusammenlebens und schafft damit ein literarisches Meisterwerk des Humanismus und der Empathie.
In dieser Sommernacht war Eva Nagel zur Donau gegangen mit der Absicht, sich ins Wasser zu werfen, aber stattdessen warf sie sich in die Umarmung des Infanterieleutnants Alois Kozusnik. Anstatt ihre Gefühle einem uralten Strom anzuvertrauen, lag auf einmal ihr Kopf auf der spärlich bewachsenen Insel einer fünfundzwanzigjährigen Männerbrust.
Eva Nagel war Dienstmädchen. Was sie nicht alles jahrelang geduldig ertragen hatte, Schimpf und Tadel, Beleidigungen und Demütigungen, die Launen und das kranke Misstrauen der Herrin, das ewige Nachstellen des Herrn, die Sticheleien der Köchin. Doch als sie heute beschuldigt worden war, eine Kette der Herrin gestohlen zu haben, da riss etwas in ihr, etwas, das dazu diente, die wenigen Lichtblicke ihres Daseins aufzufangen, sie in die entlegensten Winkel ihrer Seele zu befördern und in Lebensenergie zu verwandeln, etwas, das es schaffte, das Ausstrecken einer Katze, den gezwirbelten Schnurrbart eines Kutschers und viele andere genauso kleine und unwichtige Dinge in Freude zu verwandeln, etwas, ohne das es die Eva Nagel, so wie sie alle kannten, gar nicht geben konnte.
Im Angesicht einer solchen Ungerechtigkeit blieb sie wie erstarrt, weder Tränen kamen ihr aus den Augen noch Worte über die Lippen. Was zu rinnen hatte, rann in ihr, füllte sie auf, machte sie träge. Auf einmal hatte sie keine Kraft mehr, weder um ihre Herrschaften anzuflehen, noch um ihre Unschuld zu beteuern. Sie wurde entlassen. Sie packte langsam ihre Sachen, nahm den Beutel, mit dem sie vor vier Jahren nach Wien gekommen war, und zog wortlos hinaus. Nur kurz, sehr kurz, hatte sie erwogen, zurück nach Hause in ihr Dorf zu kehren, aber allein die vage Vorstellung, was sie dort erwarten würde, hatte gereicht, um sich für die Donau zu entscheiden. Die Donau würde sie umarmen, trösten und sanft ans Ufer legen. So stellte sich Eva Nagel das vor.
»Ein großer Fluss wird dein Schicksal werden«, hatte ihr einmal, an einem ihrer wenigen freien Tage, eine Wahrsagerin im Prater prophezeit. Sie hatte den Prater gerngehabt, aber jetzt hatte sie keine Lust auf ihn. Sie hatte ja auch nicht frei, sie war jetzt frei, und für ein freies Dienstmädchen gab es nur die Donau. Unterwegs bemerkte sie nichts außer den unterschiedlichsten Arten von Kot, die auf den Straßen lagen. Sie sah nur noch den Dreck, der überall klebte, auf Straßen, Häusern, Menschen, und sie dachte an das Wasser, das sie bald, sehr bald, von all dem reinwaschen werde. Welche Wege sie gegangen war und warum es so lange gedauert hatte, wusste sie später nicht, aber es war schon dunkel, als sie das Ufer erreichte. Der Fluss spiegelte die Sterne nicht, er war noch schwärzer als die Nacht und sah wie die Tinte aus, mit der ihr Herr Dienstzeugnisse und Geschäftsbriefe zu schreiben pflegte. Nur dass es unfassbar mehr war. Die Zeugnisse aller Dienstboten der Welt hätten damit geschrieben werden können und noch mehr, wahrscheinlich alles, was der Mensch seit der Erschaffung der Welt gedacht und gesagt hatte.
Alles Gedachte und Gesagte floss gerade an Eva vorbei. Stumm floss es, schwarz floss es, ungeschrieben floss es. Ihr gefiel die Vorstellung, dass sie in einen Fluss voller ungeschriebener Worte steigen würde. Der Fluss würde ihr letztes Zeugnis sein, lesen würden es dann die anderen, vor allem die Polizei.
Sie sammelte Steine und steckte sie überall in ihr Kleid. An manchen Stellen berührten sie ihre Haut. Ihre Kälte ließ sie erzittern. Dann machte sie den ersten Schritt zum Fluss, aber das Wasser zog sich zurück. Will mich die Donau denn nicht, dachte sie und sah ein großes Schiff, das gerade in der Flussmitte vorbeifuhr.
»Das nennt man Physik. Gleich kommt es wieder zurück. Aber das Wasser ist kalt, Mädel.« Sprach denn der Fluss zu ihr? Etwas zog sie zurück, zurück zum Ufer, zur Erde, eine unerwartete, unbekannte Kraft. Sie drehte sich um und blickte in ein Gesicht, bleich wie ein Segel, das sie weg vom Wasser brachte. Sie sah zwei kleine Augen, schmale Lippen, darüber einen dünnen Schnurrbart, der so wirkte, als hätte sein Besitzer gerade von einer sehr dunklen Flüssigkeit gekostet, so dunkel und schwarz wie das Wasser, in das Eva eintauchen wollte. »Leutnant Alois Kozusnik«, stellte sich die Kraft vor und berührte mit ihrer Rechten die Schirmkappe, unter der so viele verhängnisvolle Entscheidungen getroffen wurden, dass es reichte, drei Leben zu ruinieren, doch nicht das Leben von k. und k. Leutnant Kozusnik.
Nun stand Eva zwischen zwei Kräften, der Gewalt eines uralten Flusses und dem Sog eines jungen Offiziers. Sie überlegte nicht lange. Die Verzweiflung hatte sie gleichgültig und frech gemacht, der nahe Atem des Todes entschlossen und eilig. »Physik nennt man das also«, sagte sie, und da sie kein willenloses Ding im Spiel der Elemente mehr sein wollte, zog sie ihn zu sich, gierig davon zu kosten, was seine Oberlippe so schwarz gefärbt hatte. »Und wie nennt man das, auch Physik?«, fragte sie in der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Kuss ihres Lebens.
»Eher Chemie«, vermeldete er geistesgegenwärtig, denn ein k. und k. Offizier ließ sich selten überraschen, am allerwenigsten Alois Kozusnik. Und er tastete sich mit einer Sicherheit, die einem von dem Generalstab abgesegneten Plan zu folgen schien, durch den unfeinen Stoff ihrer Bekleidung an ihre Brüste heran.
Alois Kozusnik war ein Mensch, der alles nahm, was ihm das Leben schenkte, da er nicht mit einem zweiten Besuch auf dieser Welt rechnete, jedenfalls nicht in dieser Form, nicht als Offizier, vor allem aber nicht in diesem von ihm so pedantisch gepflegten und bewunderten Körper. Welcher Teufel ihn an das Donauufer getrieben hatte, wusste er nicht, denn er hatte längst aufgegeben, die Teufel, die immer wieder sein Leben lenkten, überschauen, geschweige denn zähmen zu wollen. Er hatte an dem Abend alles beim Spiel verloren und freute sich auf den Krieg, der ihn von seiner misslichen Lage und seinen unnötigen Gedanken erlösen sollte. Er war ein Mann der Tat, und das zu viele Grübeln machte ihn grantig und sehr reizbar.
Doch ein paar Gedanken schienen geblieben zu sein, denn er fand sich plötzlich an dem Donauufer wieder. Da hatte er die Frau gesehen. Offensichtlich handelte es sich um eine Selbstmörderin, noch offensichtlicher war es aber, dass sie einen schönen Körper besaß, was sein geübtes Auge auch bei diesen äußerst ungünstigen Lichtbedingungen sofort erkannte. Die Rolle des Seelenretters lag ihm fern, doch es wäre eben unheimlich schade um den schönen warmen Körper. Ein ähnlich tiefes Bedauern hätte er verspürt, wenn gerade eine Flasche guter Champagner vor seinen Augen zerbrochen wäre, und dieses Bedauern rührte ihn bis in die Tiefe seines männlichen Fundaments.
Er beschleunigte seinen Schritt und ergriff die Frau an der Hand. Zwei seiner Geliebten drohten ihm ständig mit dem Selbstmord, was ihn veranlasste zu glauben, dass er sich damit auskannte und dass er sich für die Unsterblichkeit einer neuen Liebe jederzeit bereitzuhalten habe. Nun biss gerade die Frau an seine Lippen, was seine Vernunft für eine Weile außer Kraft setzte. Doch Alois Kozusnik mochte das Ungewöhnliche. Einmal hatte er den ganzen letzten Akt einer Oper inklusive Applaus unter dem Kleid einer seiner Geliebten verbracht, eine unglaublich intensive Vorstellung war das, besonders der Applaus. Aber allein bei der Vorstellung, mit einer Frau an dem Donauufer eins zu werden, konnte er eine Arie singen. Seine Ohren begannen zu glühen, seine Fantasie schaltete auf Volldampf. Als er aber versuchte, die Frau von der Last ihrer Kleider zu befreien, fielen ihm ein paar Steine auf die Füße. Es waren die Steine, die sie noch schneller auf den Grund bringen sollten. »Hoppala, trägst du noch mehr davon in deinem Herzen? Oder waren es die letzten?«, sagte er unbeirrt.
Eva lachte. Sie fühlte sich so leicht und so frei wie noch nie in ihrem Leben. Ein Stein nach dem anderen, eine Last nach der anderen fiel von ihr herab und rollte in den Fluss, und obwohl sie noch nie nackt mit einem Mann gewesen war, verspürte sie keine Scham. Wieso auch, nackt stieg man nicht nur in das Bett des Geliebten, sondern auch in einen Fluss, und heute Nacht waren für Eva durch ein seltsames Spiel der Elemente der Fluss und dieser Mann das Gleiche.
So geschah es, dass in dieser schicksalhaften Nacht Eva Nagel nicht leblos in der Donau, sondern es quicklebendig an deren Ufer trieb, und anstatt ihr Leben verlor sie ihre Unschuld. Ihr Kopf lag lang an seiner Brust. Sie schwieg. Neben ihr floss der Fluss, ein Fluss voller ungeschriebener Worte, das reichte ihr vorerst. »Mit wem hatte ich das Vergnügen«, hörte sie. Sie lagen ganz nah am Wasser. Eva streckte ihre Hand, tauchte sie in den Fluss und schrieb mit dem Finger ihren Namen auf seine Brust. Wie es seinem Naturell entsprach, hätte er am liebsten auf die Frage, auf die drei kalten Buchstaben und auf alle weiteren Spiele verzichtet. Er hätte sich irgendwann die Hose zugeknöpft, der unbekannten Frau mitgeteilt, dass er in den Krieg ziehen musste, vielleicht ein paar nette Worte gesagt und sie in die Hände einer gewissen, von ihm sehr geschätzten, Madam übergeben, die es gut verstand, aus der Verzweiflung der Mädchen einen Gewinn zu machen. Dann wäre er für immer aus ihrem Leben verschwunden, denn zu mehr Zuwendung und Einfühlsamkeit war er nicht fähig. Doch der Umstand, dass eine unbekannte Frau ihn so überfallen hatte, um ihm dann ihre Unschuld zu schenken, hatte sogar den k. und k. Leutnant der Infanterie Alois Kozusnik verwirrt. Denn wenn es etwas gab, womit er sich überhaupt nicht auskannte, dann war es die Unschuld. Er knöpfte zwar irgendwann seine Hose zu, teilte ihr mit, dass er noch am selben Tag in den...
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