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Da liegt sie nun. Unsere Tochter. Noch nicht einmal zehn Stunden ist es nun her, seit sie das Licht der Welt erblickt hat, wie man so schön sagt. Zugegeben, das erste Licht der Welt, das dieses kleine Wesen im Kreißsaal wahrnehmen durfte, war alles andere als willkommen heißend. Allein deshalb kann ich gut verstehen, dass unsere Tochter lauthals - und damit meine ich so laut, dass niemand in diesem Raum das Wort des anderen verstehen konnte - ihren ganzen Schmerz aus der Seele schrie. Aber nach etwa 30 Minuten Schreiarie war unsere Tochter erschöpft auf mir eingeschlafen und schläft nun dort, seelenruhig. Ich schaue immer wieder nervös nach, ob sie noch atmet. Doch, das tut sie.
Es ist nun 6.30 Uhr. Auf dem Krankenhausflur wird es zunehmend lauter. Das Frühstück wird verteilt. Vielleicht ist auch Schichtwechsel. Mein Mann wacht langsam neben mir auf. Wir haben das Glück, ein Familienzimmer bekommen zu haben. Ich schaue wieder zu meiner friedlichen Tochter. Schläft immer noch.
Plötzlich reißt eine Schwester mit einem lautstarken "Guten Morgen!!" die Tür auf. "Wie geht es Ihnen heute Morgen? Waren Sie schon auf Toilette? Hatte das Kind schon eine nasse Windel? Wie oft haben Sie das Kind angelegt?" So viele Fragen überfordern mich maßlos, ich fühle mich wie von einem riesigen Lkw überfahren. Ich antworte auf die letzte Frage: "Seit gestern Abend 23 Uhr schläft sie." Innerlich freue ich mich und habe ein Grinsen im Gesicht, denke heimlich: "Sie schläft quasi durch. Was bin ich für ein Glückspilz." Doch die Freude ist nicht aufseiten der Schwester. "Was?! Seit fast acht Stunden hat das Kind nicht getrunken? Wir müssen sie sofort wecken und anlegen." Hektisch deutet sie auf das Stillprotokoll, das ich angewiesen bin zu führen. Alle zwei bis drei Stunden soll das Kind trinken, steht da. Und ich solle aufschreiben, wann sie trinkt und welchen Windelinhalt sie hat. Das war mir schon zu kompliziert. Ich sah auch keinen Sinn darin. Jahre später habe ich das Stillprotokoll der ersten Wochen wiedergefunden und ich war schockiert. Da hatte ich wirklich Tag und Nacht alle zwei bis drei Stunden das Kind sowohl gefüttert als auch gewickelt. Und noch schlimmer: alles akribisch dokumentiert. Gruselig. Keine Ahnung, wie Frau das überlebt .
Hektisch nimmt die Schwester das Kind aus dem Bettchen, das ebenso wenig erfreut ist wie ich. Genervt verzieht meine Tochter das Gesicht und brummt etwas mürrisch. Verstehe ich, total ätzend. Aber sie trinkt. Ich mache brav das Kreuzchen auf dem Stillprotokoll und alle sind zufrieden, vor allem die strenge Krankenschwester.
Die nächsten beiden Tage verlaufen überaus ruhig. Während wir aus dem Nachbarzimmern immer wieder laute und unzufriedene Kinder hören, lege ich wie mir aufgetragen mein Baby alle zwei bis drei Stunden an, "wickle sie wach" - ein neuer Begriff und Trick, wenn das Kind nicht aufwacht, einfach wickeln - und führe weiter vorbildlich das Protokoll. Krankenhauspersonal sehen wir nur zu den Essenszeiten, aber irgendwie bin ich auch ganz froh, nach dem energischen Auftritt an Tag 1.
Bei unserer Entlassung sagt die Schwester zu uns: "Also, Sie sind ja mal tolle Eltern. Wir haben auf Station schon gesagt: ,Von Ihnen bekommt man ja gar nichts mit. ' So entspannt, wie Sie sind. Toll! Das merkt man ja auch an Ihrem Kind. So ein zufriedenes Mädchen. Entspannte Eltern, entspanntes Kind." Und innerlich freue ich mich als Leistungstochter dieser Gesellschaft, dass ich alles richtig und perfekt zur Zufriedenheit der Fachfrauen mache. Wusste ich's doch: Man muss es einfach nur intuitiv richtig machen, dann ist die Babyzeit ein Klacks.
Der Zauber der Entspanntheit und der damit vermeintlich korrelierenden Elternkompetenz sollte jedoch nicht ewig halten. Nach zwei Wochen entspanntem Kind daheim kam die Wende. Das Kind schrie, schrie und schrie. Nichts half. Kein Anlegen, kein Hautkontakt, kein Tragen. Es schien so, als wolle unsere Tochter einfach schreien. Schreien über Stunden. Was war plötzlich kaputt? War sie krank? Wir waren doch so entspannt! Nun ja, nach drei Stunden Geschrei - und das konnte meine Tochter immer noch in einer Lautstärke, die beinahe die Sirenen der Feuerwehr übertönte - war ich nicht mehr entspannt. Und mein Mann auch nicht. Wir waren nicht mehr die entspannten Eltern, die im Krankenhaus so himmelhoch gelobt wurden. Und wir hatten von heute auf morgen kein entspanntes Kind mehr, obwohl wir anfangs doch so entspannt waren.
Dass es noch mehrere Monate so gehen sollte und wir ein überaus sensibles Kind bekommen hatten, das wussten wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Doch was ich recht früh wusste oder zumindest ahnte, war:
"Entspannte Eltern, entspanntes Kind" ist eine doofe und zugleich sehr fiese Lüge.
Und das auch noch gleich nach der Geburt. Wir waren entspannt. Wir waren mehr als entspannt. Wir waren fast schon so entspannt, dass man es naiv nennen könnte. Doch dann kam der Tag, an dem unsere Tochter "wach" wurde. Sie nahm immer mehr von der Welt wahr und ihr war das Leben schlichtweg zuviel. Selbstregulationsstörung nennt man das, klärte mich Jahre später ein Kinderarzt auf. Das klingt im ersten Moment wie eine schlimme Krankheit, ist aber im Grunde gar nicht mal so unlogisch, wenn man sich vor Augen führt, welch großen Umbruch jeder Mensch beim Übergang vom wohlbehüteten Mutterleib in eine turbulente Welt erfährt, in der es Hunger, Kälte und Lärm gibt. Kinder mit einer solchen Störung nehmen zu viel wahr, filtern zu wenig. Das Gehirn schafft es nicht mehr, die Vielzahl an Reizen zu verarbeiten. Stress wird ausgelöst und um diesen Stress abzubauen, schreien die Kinder. Das kommt gar nicht mal so selten vor. Unser Kind wurde noch nicht mal als Schreibaby klassifiziert. Dazu müsste es nämlich an drei Tagen die Woche mehr als drei Stunden am Stück schreien, so die Definition von Schrei babys. Wir dagegen hatten ein sogenanntes High-Need-Baby. Davon habe ich später gelesen. Das sind Kinder, die vor allem viel Körperkontakt brauchen und sehr sensibel auf das Umfeld reagieren. Auch nicht mal so unlogisch, wenn man bedenkt, dass der Körperkontakt die einzige Sicherheit eines kleinen Wesens ist, um nicht hilflos irgendwo liegengelassen und vergessen zu werden. Anfangs dachten wir auch, es wären Bauchweh und die berühmten Dreimonatskoliken. Tatsächlich herausgefunden haben wir es nie, weil unsere Tochter bis heute nicht davon erzählt hat, was sie wirklich hatte. Vermutlich war es wie so oft im Leben eine Mischung aus beidem: ein unausgereiftes Verdauungssystem gekoppelt mit einem unausgereiften Filtersystem, wodurch die Welt unserer Tochter zu viel wurde und sie in ihrem kleinen Körper keine andere Wahl hatte, als ihren ganzen Schmerz des Übergangs in die neue Welt herauszuschreien. Die Erkenntnis, die leider erst sehr spät, nach Monaten des innerlichen Aufriebs, kam: Als Eltern kann man da gar nicht so viel machen. Es geht um Akzeptanz dessen, was ist, und nach und nach lernten wir situativ, dass in unserer Wohnung kein Radio und schon gar kein Fernseher laufen durfte, Restaurantbesuche mit Baby für uns einfach unmöglich waren, Autofahrten vermieden und stattdessen feste Strukturen im Tagesablauf eingeführt werden mussten. So konnten wir das erste Jahr einigermaßen überstehen.
Doch das Gefühl des Scheiterns, es nicht hinzubekommen, Fehler gemacht zu haben und der Illusion der schönen Babyzeit beraubt worden zu sein, lastete lange auf mir.
Erst Jahre später verstand ich, was für ein Fluch mit dem Satz "Entspannte Eltern, entspanntes Kind" über mich ausgesprochen wurde.
Ich war entspannt und doch war es mein Kind plötzlich nicht mehr. Dass dieser Wechsel zum unentspannten Kind nichts mit mir zu tun hatte und ich akzeptieren durfte, dass mein Kind nun mal so war, wie es war, kostete mich Jahre der Selbstreflektion und Selbsterkenntnis.
All das, was mich all die Jahre im Berufsleben so erfolgreich gemacht hatte, wie Disziplin, Zuverlässigkeit und Planung, war mit Kind wenig hilfreich, sogar hinderlich. Ein schmerzhafter Abschied vom Perfektionismus, der mich über Jahre aus- und erfolgreich gemacht hatte. Es ging nun vielmehr darum, situativ zu reagieren und körperlich belastbar zu werden, das Thema "Schlaf" und wie viel ich wirklich zum Leben brauchte neu zu definieren und alte Glaubenssätze loszulassen. Und immer wieder zu akzeptieren - auch wenn es sich jedes Mal wie ein Biss in eine saure Zitrone anfühlte -, dass es Tage gab, die nicht schön waren, ich daran aber nichts ändern konnte.
Als drei Jahre später unsere zweite Tochter geboren wurde, war ich auf alles vorbereitet - dachte ich. Schließlich hatte ich mit Kind 1 die "Masterclass der Babyzeit" absolviert. War also den "Ironman des Mamawerdens" gelaufen. Was sollte da jetzt noch kommen, das mich aus der Bahn werfen konnte?
Und doch hat es mich dann voll erwischt. Ich war derart angespannt wie im ersten Jahr mit meinem ersten Kind und eben keineswegs so entspannt wie in den ersten Tagen mit erstem Kind. Das "Trauma"...
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