Schweitzer Fachinformationen
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Im Herbst 1943 wurden die Bombenangriffe auf das benachbarte Köln und die umliegenden Städte heftiger und grauenhafter. In unserer letzten Nacht im Bombeninferno folgte alles entsetzlich schnell aufeinander: Radiowarnung - Sirenengeheul - erste Bombeneinschläge, die vom Kölner Stadtgebiet herüberwummerten. Unser Vater war mit der Hebamme unterwegs. Kinder wollten auch in diesen schrecklichen Zeiten unbedingt auf die Welt kommen.
Wir drei Jungs rannten mit unserer Mutter unter Sirenengeheul und gleißendem Phosphorlicht Richtung Hotel Maximilian. Auf halbem Weg erste und schrecklich nahe Bombeneinschläge. Unsere Mutter schrie "Tiefbunker!" - wir schwenkten kurz um, den viel näheren Bunkereingang blockierten Menschen in großer Panik. Erst nach Abebben der ersten Angriffswelle wurde die Bunkertür geöffnet, wir drängten hinein, haben erst nach Stunden zusammengefunden. Unserer Mutter ging es erkennbar schlecht, sie schien verletzt, hatte Blut an den Armen. Nachbarn halfen uns nach Hause.
Kurze Zeit darauf traf unser Vater ein, er war bleich, völlig aufgelöst, nass-fleckige Spuren von Angst auf den Wangen. Er sah uns alle seltsam an, hat uns nacheinander zutiefst erschrocken umarmt und sagte nur: "Jungs, packt eure Sachen, ich fahre euch alle drei morgen weg, für lange Zeit, Richtung Hameln und Hamburg, aufs Land, weit weg. Da seid ihr sicher!" Er trug unsere Mutter hinunter in sein großes Auto und sagte plötzlich: "Das Maximilian ist bis in die Keller weggebombt!" Unsere Mutter entgegnete völlig erschrocken: "Und was . O Gott, alle?" Sie ließ sich im Sitz zurückfallen, schlug entsetzt die Hände vor die Augen. Vater nickte, wandte sich rasch ab und fuhr mit ihr ins Krankenhaus. Sie hatte in der Nacht eine Fehlgeburt erlitten.
Als unser Vater eine Woche später nach der langen Fahrt von Köln über die Autobahn seinen Horch, den großen, offenen Wagen mit den drei Sitzreihen, von der Schotterstraße durch die ummauerte Einfahrt direkt in die Mitte des großen Hofes fuhr, sah ich mich um und war sprachlos. So etwas Fantastisches für einen neugierigen, begeisterungsfähigen, eben noch von Bombennächten verstörten Siebenjährigen - unbeschreiblich! Posteholz wurde meine Welt für eineinhalb Jahre. Am Schluss kannte ich jeden Winkel in Ställen, Scheunen, Gärten, Schmiede, jedes Versteck in dieser großen, einst wehrhaften Rittergutanlage aus dem 17. Jahrhundert. Fast alle Männer waren im Krieg, auch der Mann meiner Patentante. Sie war die beste Freundin meiner Mutter und hielt diesen riesigen Betrieb am Laufen. Wie viele Menschen damals auf dem Rittergut oder in unmittelbarer Nähe wohnten, wusste ich nicht. Unter ihnen gab es jedenfalls auch eine große Zahl von "Fremdarbeitern", die in Wirklichkeit Kriegsgefangene waren. Wichtiger für mich, dass vor allem die Zahl der Kinder auf dem Hof groß war. Einzigartig erschien mir schon damals, dass das Rittergut ein in sich abgeschlossener, selbst versorgender Organismus war. Der Ablauf der täglichen Lebensführung war absehbar, es wurde geplant, gemacht, gemessen, gewerkelt und repariert - nichts wurde weggeworfen, alles hatte seine vorhersehbare Ordnung. Was dort in der riesigen Landwirtschaft passierte, das Pflügen, Eggen, Einsäen, Wässern, Verziehen, Gülledüngen, alle späteren Vorbereitungen auf dem Feld für die Ernte der verschiedenen Feldfrüchte und Getreidearten, das Mähen mit Sense und Maschinen, das Einfahren, Dreschen, Stapeln und Verarbeiten, all das wurde auch den Kindern früh beigebracht. Jedes Kind hatte sein eigenes kleines Reich am Rande des riesigen Nutzgartens. So haben wir für alles, was da wuchs, gedieh, geerntet und verarbeitet wurde, früh Respekt gewonnen. Diese Form der Wertschätzung begleitete mich mein ganzes Leben. Die Zeit auf dem Rittergut hat mich mit seinem überall Wachsenden, Grünenden und Blühenden, mit all seinen Bächen, Wäldern, Hecken und Baumriesen, dem Morgennebel, Tau, Regen, Sturm, Blitzen, Wassermassen, Regenbögen und Abendstimmungen zu einem kindlich tiefen Verehrer der Natur werden lassen. Wie tief das Rittergut selbst mit der Landschaft der sogenannten Weserrenaissance verwoben war, hatte sich mir erst später beim Besuch der nahen Schlösser Aerzen, Schwöbber, Hehlen und Bodenwerder erschlossen.
Da ich bereits eingeschult war, ging ich natürlich auch hier mit den übrigen Kindern in eine Dorfschule im Nachbarort Holzflake. Diese Schule war das, was man eine Zwergschule nannte, ein altes Schulgebäude mit einem einzigen großen Klassenraum, in dem von der ersten bis zur achten Klasse alle Kinder gemeinsam lernten und viel Unsinn machten. Da ging es hoch her. Der junge Lehrer war im Krieg, der alte aus dem Ruhestand zurückgeholt. Der völlig überforderte Mann sorgte täglich für Disziplin, wie er es gewohnt war: Straffällige Mädels mussten sich nach einem scharfen Schlag auf die Hand in die Ecke stellen, die Jungs erhielten es beim geringsten Anlass reihenweise ziemlich brutal auf den Hintern. Das ging oft morgens schon los, für späte Übeltaten vom Vortag. Kein Wunder, dass die Jungs nach der Schule ihre altersentsprechend wilden Aktivitäten woanders austobten, weit weg von der Schule. Einige trafen sich geheimnistuerisch weitab in einem Versteck in der großen Scheune von Posteholz, um sich mit- und aneinander auf körperliche Entdeckungsreisen zu begeben. Ich war dabei der Jüngste, wurde aber zugelassen, da ich ein gewisses Hausrecht hatte. Das Treiben war zudem vor mir nicht geheim zu halten, und Erwachsene durften davon auf gar keinen Fall erfahren. Ich fand das schrecklich aufregend und machte mit einem mir noch weitgehend unbekannten Lustgefühl gleich fleißig mit. Es galt die Regel, dass man bei diesem heftigen und erregenden Geschäft dem anderen zwar unmittelbar behilflich sein durfte, ihn aber anderweitig anzufassen, einen zum Spielverderber werden ließ, der bei Wiederholung auszuscheiden hatte. Kein Junge vergisst sowas. Mir sind zwei Dinge besonders in Erinnerung geblieben: Wenn ich später davon erzählte, war man erstaunt, wie jung wir Landkinder dabei doch wohl waren - so zwischen sieben und zwölf Jahren. Die älteren hatten wohl ihre eigene Gruppe. Dabei hieß es, gewissermaßen als Entschuldigung, dass so was alle Jungs machten. Bis man mit Mädchen was machen könne, würde das doch noch ewig dauern. Ich hatte keinen Augenblick darüber nachgedacht, dass wir in der Tat wohl sehr jung waren. Vor allem ging mir erst später auf, dass ich selbst dabei überhaupt nicht an Mädchen gedacht und ich mir auch darüber überhaupt keine Gedanken gemacht hatte. Und eine andere Erfahrung hat für mich hier ihren Anfang genommen. Sie ist so wichtig, dass ich ihre Umstände vorab erklären sollte:
Das alte Haupthaus der Rittergutsanlage war von einem gedrungenen Wehrturm flankiert. Dessen Erdgeschoss war ein fensterloses massives Kreuzgewölbe. Hier unten war es immer dunkel und feucht. In der Mitte lag, halbseitig abgedeckt, die massiv gemauerte Brunnenöffnung mit endlos tief unten erkennbarem Spiegel des für alle Bewohner lebensnotwendigen Brunnenwassers. Der ringförmige Reflex der Brunnenöffnung war in der Tiefe kaum zu erkennen. Ich habe mich einmal weit über den Brunnenrand gebeugt. Es dauerte, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ich in der Tiefe zuletzt mein Gesicht auf dem Wasserspiegel sah. Ich schwebte oben und unten, ich schwebte im Raum und suchte doch immer wieder mein Gesicht, erkannte mich und hatte das Gefühl, plötzlich zu mir selbst sprechen zu wollen. Ich tat das in der Folgezeit immer wieder, in der Empfindung, mit mir über diese Distanz im Gespräch zu sein, mein Selbst und gleichzeitig ein anderes Ich vor mir zu haben, vor dem ich mich rechtfertigen, mein Denken und mein Tun zu verantworten hatte. Dabei hatte ich das Glücksgefühl einer Selbstfindung, wie ich es bis dahin noch nicht gekannt hatte.
Zuletzt kam der Krieg auch nach Posteholz, ein kurzes Drama in drei Akten. Wir hörten von Kämpfen um den Weserübergang in Hameln. Abends kamen verletzte deutsche Soldaten und flehten um zivile Klamotten. Am Folgetag lähmende Stille, unterbrochen von fernem Geschützdonner. Am nächsten Morgen ein von weit herkommendes, furchtbares Grollen, Donnern, Rasseln, Klirren, brüllende, schreiende Motoren - der Lärm brach abrupt ab. In der Hofmitte stand dieses entsetzlich große, graugrüne, fauchende Ungeheuer, ein riesiger Panzer mit langem, kreisendem Kanonenrohr - wieder lähmende Stille. Anschließend durchsuchten amerikanische Soldaten das Gehöft und zogen mit den vorher versteckten Jagdwaffen und Schnapsflaschen ab. So waren wir durch den Krieg gekommen, es war der 7. April 1945. Wir begriffen, wie viel Glück wir zuvor schon gehabt hatten, der Zerstörung eines Gebäudes entkommen zu sein, das uns selber als Glücksfall erschienen war. Wir erfuhren, dass unser Vater wegen seiner Parteizugehörigkeit ins Gefängnis und anschließend in die Internierung kam, aber unsere Familie lebte!
Meine kindlichen Erfahrungen in diesen so unterschiedlichen Kriegsjahren endeten mit einem kleinen, fast unwichtig erscheinenden Ereignis, das sich mir als eine Art Versöhnung lebenslang tief eingeprägt hat. Alle in Posteholz hatten Angst, besonders der Verwalter und meine Tante, wie sich die Kriegsgefangenen, oder "Fremdarbeiter", nach ihrer Befreiung verhalten würden. Sie blieben aber vollkommen ruhig. Ein paar Tage nach Kriegsende gingen einige von ihnen pfeifend über den Hof und winkten uns Kindern, mitzukommen: Es gebe etwas Gutes! Einer von ihnen hatte einen Klumpen gelben Ton besorgt. Daraus hatten sie eine fußballgroße Kugel geformt, die sie in die Glut eines Feuerchens legten. Dazu...
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