Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ich fragte mich, wie er hatte sterben können in dieser perfekt ausgestatteten Groß-Klinik. Angeblich war die Operation ohne Komplikationen verlaufen, er hatte bald danach schon wieder mit meiner Mutter telefoniert und war guter Dinge gewesen.
Auch die Krankenschwester konnte mir das nicht erklären. »Kommen Sie morgen wieder«, schlug sie vor. »Heute ist leider keiner mehr da, der Ihnen Auskunft geben kann.«
Sie überreichte mir eine weiße Plastiktüte mit den Habseligkeiten meines Vaters und ein Formular, worauf ich den Erhalt bestätigte.
Ohne hineinzusehen, wie eine zerbrechliche Kostbarkeit, trug ich die weiße Tüte durch die stille, menschenleere Klinik. Draußen schneite es immer noch. Auffallend ruhig war es auf den Straßen, kaum Autos, und nur wenige Leute waren unterwegs. Die Stadt schien durchzuatmen, so kurz vor dem Jahreswechsel.
Es fiel mir schwer zu begreifen, dass mein Vater nicht mehr am Leben war. Vielleicht hätte ich mir seinen toten Körper doch noch einmal ansehen sollen? Ich lief hinüber zum Parkplatz, zündete mir eine Zigarette an und schabte den Schnee von den Scheiben. Im dichten Schneetreiben fuhr ich zurück zur Theresienstraße, wo meine Mutter auf mich wartete.
Drei Stockwerke ging es hinauf zur Wohnung und beim Hineingehen warf ich einen Blick in das Zimmer meines Vaters. Diese fünfzehn oder zwanzig Quadratmeter mit ihrem muffigen, aber gemütlichen Geruch, der auch noch da war, wenn man gelüftet hatte. So viele Jahre lang hatte er hier gelebt und gearbeitet. Sein Arbeitszimmer war sein Rückzugsort gewesen, sein Entspannungsraum, seine Bücherhöhle. Ringsum hoch bis zur Decke die braunen, vollgestopften Bücherregale, die kleineren Formate und Taschenbücher standen aus Platzgründen zweireihig, die in der zweiten Reihe waren sicher längst in Vergessenheit geraten. Erst viel später entdeckte meine Mutter die leeren Schnapsflaschen, die mein Vater alle ausgetrunken und hinten in der zweiten Bücherreihe heimlich entsorgt hatte. Zwischen den Büchern lag auch ein bisschen Nippes, lieb gewonnener, verstaubter Krimskrams, seit Jahren unverändert, und nur selten war ein neues Stück dazugekommen.
Seine Bücher hatte mein Vater gehegt und gepflegt, manchmal ließ er das Fenster extra offen, damit sie auch frische Luft bekamen. »Regelmäßiges Lüften ist wichtig, das tut ihnen gut!«, hatte er gesagt und uns immer wieder versichert, dass unter seinen Büchern ganz außerordentlich wertvolle Schätze waren. In unregelmäßigen Abständen hatte er alle seine Bücher liebevoll aus den Regalen genommen, in kleinen Stapeln zum offenen Fenster getragen, den Staub von den Buchrücken geblasen und beinahe zärtlich darübergewischt mit einem weichen Staubtuch.
»Ogottogott, immer diese Bücher!«, hatte man meine Mutter oft jammern hören. »Umziehen können wir nie mehr, mit so vielen Büchern.« Und immer, wenn mein Vater ein bisschen Geld übrig hatte, kamen wieder neue Bände dazu, meistens günstig erstanden in einem Schwabinger Antiquariat.
»Diese Scheißbücher!«, schimpfte meine Mutter dann. »Er hat nur seine Scheißbücher im Kopf. Hat keinen Pfennig in der Tasche und kauft sich schon wieder einen so scheißteuren Bildband. Soll das ein Mensch verstehen? Da werd ich noch verrückt!« Aber das sagte sie nur, wenn mein Vater nicht in der Nähe war.
Auch an der Stirnseite seines Zimmers standen unter dem Fenster zwei niedrigere, schmale Bücherregale mit Taschenbüchern, auf der Ablage staubten handgroße Brocken Halbedelsteine auf kleinen Stoffdeckchen vor sich hin. Auf dem grau melierten Teppichboden lagen zwei kleinere »Perserteppiche«, die meine Mutter Stolperfallen nannte. An der Wand gegenüber waren über dem Bett zwei kleinere Wandteppiche über Eck an die Wand genagelt, denen man im Kampf gegen Motten einmal im Jahr mit Insektenspray zu Leibe rücken musste. Um beim Einsprühen auch ganz oben an die Teppiche zu kommen, musste man sich auf das Bett stellen und dabei die Luft anhalten, denn das tödliche Giftspray durfte man auf gar keinen Fall einatmen. Diesen durchaus herausfordernden Stunt vollführte immer meine Mutter, und später, als sie nicht mehr auf das Bett steigen konnte, bat sie mich darum.
Das schmale, schlichte Bett meines Vaters war heute frisch gemacht, bestimmt vorbereitet für seine Rückkehr aus dem Krankenhaus, die Überwurfdecke picobello glatt gestrichen. Er hatte sie immer seine Sigmund-Freud-Decke genannt. Merkwürdig, wie stolz er immer auf sie gewesen ist, hatte er von Psychologie und von Therapeuten doch nie besonders viel gehalten.
Zwischen den Bücherregalen hatte ein niedriger Rollschrank Platz gefunden, darauf standen der Plattenspieler, ein Holzpferd, eine bemalte Spanschachtel und ein Keramikaschenbecher. Der Rollmechanismus funktionierte schon lange nicht mehr, der Schrank stand immer offen und gab den Blick frei auf Leitzordner und Langspielplatten.
Auch ein hellbrauner 50er-Jahre-Schreibtisch hatte hier im engen Zimmer noch Platz, darauf thronte die schwere, rote IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine, und daneben wartete ein gutes Dutzend akkurat gespitzter Faber-Castell-Bleistifte auf ihren Einsatz. Der Schreibtischstuhl mit seinen Armlehnen war aus stabilem Holz. Früher stand da an seiner Stelle ein sogenannter Freischwinger-Stuhl aus weißem Leder, mit elegantem Chromgestänge, den ich ausgemustert und meinem Vater geschenkt hatte. Der Stuhl war jedoch unter seinem Gewicht zusammengebrochen, und mein Vater war nach hinten gesackt und mit dem Kopf gegen die Bücherwand geknallt.
»Weil er halt so fett ist«, hatte meine Mutter damals gemeint. »Ein Wunder, dass er sich nicht den Hals gebrochen hat, bei so einem Sturz.«
»Kommst du?«, hörte ich sie jetzt aus der Küche rufen. Klein und traurig saß sie am Tisch, und ich setzte mich zu ihr.
»Am Telefon muss ich das erfahren, von einem Pförtner! Stell dir vor, der Pförtner hat es schon gewusst. Wieso überhaupt? Warum weiß der so was?« Leise fing sie an zu weinen. »Menschenskind, warum hat mich keiner angerufen? Das gehört sich doch, oder? Was denken die sich? Bin ich denen das nicht wert?«
»Nein, nein«, versuchte ich, sie zu beschwichtigen. »Sicher war es halt noch ein bisserl früh. Die hätten dich später schon noch angerufen, ganz bestimmt sogar.«
»Trotzdem ist es eine Frechheit, dass die mich nicht gleich angerufen haben, nachdem der Vater gestorben ist. Ich hab mich den ganzen Tag geärgert.«
Ich nahm die Habseligkeiten meines Vaters aus der Plastiktüte und legte sie auf die blau-weiß karierte Wachstuchdecke. Seinen Waschbeutel, den Rasierapparat, den Schlafanzug, den kleinen CD-Player mit drei Klassik-CDs, ein Buch (Goethe) und den kleinen Plastik-Weihnachtsmann, den er mit in die Klinik genommen hatte, obwohl er nur ein albernes Mitbringsel von mir gewesen war. Als Letztes nahm ich seine batteriebetriebene Armbanduhr aus der Tüte.
»Warum ist denn die Uhr voller Blut?«, fragte mich meine Mutter. Ihre tränennassen Augen schauten mich erschrocken an, aber ich wusste darauf keine Antwort.
*
»Na ja«, sagte meine Mutter, »schon traurig, dass er nicht mal am Ende ein bisserl Geld gehabt hat. Nur ein paar Schulden hat er uns hinterlassen. Aber das hat man sich ja denken können. Ist ja sein ganzes Leben lang so gegangen und nie anders gewesen bei ihm.« Mein Vater hat ihr nichts vererbt.
Aber nun gehörten ihr wenigstens die wertvollen Bücher, und das war ein kleiner Trost. Er hatte ihr ja immer wieder versichert, dass sehr seltene Erstausgaben darunter waren.
»Das sind Werte, die du dir gar nicht vorstellen kannst«, hatte mein Vater erklärt. »Jeder Antiquar würde sich die Finger danach lecken! Das sind so seltene Bände, wie man sie heutzutage gar nicht mehr findet.«
Aber noch wurden die Bücher nicht verkauft, das Zimmer meines Vaters wurde so belassen, wie es war, und jahrelang wurde nichts darin verändert.
Als meine Mutter schließlich in ein Altenheim umziehen musste, wurde die Wohnung gekündigt und sollte geräumt werden.
Bevor das Räumkommando anrückte, verschenkte meine Mutter brauchbare Dinge an Freunde und Bekannte, die wertvolleren Sachen sollte ich so schnell wie möglich verkaufen, denn sie konnte das Geld dringend gebrauchen.
»Du musst alle meine Wertsachen für mich verscherbeln«, sagte sie, als ich sie in ihrem neuen Altenheim besuchte, wo sie gerade eingezogen war. »Pass aber auf, dass du einen guten Preis dafür bekommst. Lass dich nicht übers Ohr hauen.«
An der Wand ihres Zimmers in der Theresienstraße und in der Küche hingen ihre gesammelten Hinterglasbilder und ein verwittertes, altes Kreuz aus Tirol, auf dem Bauernschrank standen unter Glasstürzen uralte Wachsfiguren und dazwischen eine goldene Kirchen-Monstranz, die ihr der Pfarrer in einem Tiroler Bergdorf geschenkt hatte.
»Meine Monstranz ist etwas ganz Besonderes«, zog sie mich ins Vertrauen. »Hierher ins Altenheim mitnehmen will ich sie auf gar keinen Fall. Hier wird mir das wertvolle Ding nur geklaut.«
Sie bestand darauf, dass ich ihr Testament öffnete, das ich bei mir zu Hause aufbewahrte.
»Ich bin zwar noch nicht tot, aber das ist jetzt ein echter Notfall. Also geh und mach mein Testament auf. Lies nach, was ich für dich aufgeschrieben habe.«
»Kannst du mir das nicht auch so sagen?«
»Nein, nein! Geh und lies mein Testament! Das regt mich alles viel zu sehr auf, ich will nicht darüber reden. Hab ja extra alles für dich aufgeschrieben, und du musst es nur lesen.«
Also nahm ich zu Hause ihren Letzten Willen aus dem Umschlag.
». und...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.