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I Die letzten Jahre der DDR oder Wie Diestel glücklich und unzufrieden zugleich ist
Im Mai 1989 brach bei Peter-Michael Diestel etwas auf. In nur einem halben Jahr wurde der Justiziar einer landwirtschaftlichen Vereinigung zu einem anderen. Im Dezember war er Generalsekretär einer neuen Partei, die nicht bereit war, die alte DDR fortzusetzen. Diestel hatte ein neues Lebensziel gefunden: die deutsche Einheit. Bei der übergroßen Mehrheit der DDR-Menschen war etwas aufgebrochen. Bei mir war es die Hoffnung, dass die alten Männer der Parteiführung endlich verschwinden und mit ihnen der alte Geist. Honecker fühlte sich im Januar 1989 noch so stark, dass er öffentlich erklärte: Die Mauer wird in fünfzig und auch in hundert Jahren noch bestehen! Ein Hochmut, der zehn Monate später bestraft werden sollte: am 9. November fiel die Mauer. Als er diesen Satz aussprach, war daran nicht zu denken. Er hatte viele tief getroffen. Kein Bedauern, dass die Mauer uns die Welt vorenthält, keine Idee, wie sie überflüssig wird. Damit war klar, die bleierne Zeit der achtziger Jahre wird auf unabsehbare Zeit weitergehen. Hineingegangen waren wir in die achtziger Jahre mit der kurzen Hoffnung, dass das Beispiel der Gewerkschaft Solidarnosc in Polen auf uns übergreifen könnte. Immer wenn sich anderswo eine Hoffnung regte, zog die DDR die Zügel fest an. Im selben Jahr verlangte Honecker in einer Rede die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft als Voraussetzung für normale Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten. Wir, Diestel wie ich, die sich damals noch nicht begegnet waren, konnten uns ausrechnen, dass das in der BRD niemand machen würde, dann hätte die Politik die im Grundgesetz festgeschriebene deutsche Einheit verraten. Damit war klar, dass eine Wiedervereinigung bis zum Rentenalter - und wir waren noch keine vierzig Jahre alt - immer unrealistischer wurde. Wir hatten uns in der DDR für ganz, ganz lange auf die Teilung einzustellen. Und jetzt, im Sommer 1989, plötzlich die Hoffnung, dass die Mauer fallen könnte. Ungarn hatte sie zur Probe für ein »Paneuropäisches Picknick« geöffnet. Für drei Stunden, von 15 bis 18 Uhr. Ein kurzer Augenblick der Freiheit, aber er war ein Zeichen, dass die Mauer nicht unüberwindlich ist. Und so kam es dann. - Wie sind die achtziger Jahre für Peter-Michael Diestel verlaufen? Was hat sich da bei ihm angesammelt und brach im Herbst '89 urplötzlich auf?
Ich habe noch einmal sehr verkürzt an den Verlauf der Zeitgeschichte in den Achtzigern erinnert. Wichtige Jahre deines Berufslebens, aber auch privat. Wann bist du Justiziar geworden?
Ich habe in Leipzig von 1974 bis 1978 Jura studiert. Ich habe mich bemüht, ein recht guter Student zu sein, denn ich wollte unbedingt promovieren, dafür hätte ich Forschungsstudent oder Aspirant an der Karl-Marx-Universität werden müssen. Weil ich parteilos war, wurde daraus nichts.
Du hättest dir eine wissenschaftliche Karriere vorstellen können?
Ich hatte sogar eine Habilitationsschrift begonnen, aber irgendwie verlor ich die Motivation, als hätte ich geahnt, dass eine Arbeit zum sozialistischen Bodenrecht in der DDR bald keinen mehr interessieren würde. Ende der Achtziger lag eine andere Zeit in der Luft.
Der Weg in die Wissenschaft war dir ohne Mitgliedschaft in der SED versperrt. Aber ohne in der Partei zu sein konntest du auch nicht Staatsanwalt werden, nehme ich an. Eigentlich ein Studium direkt in die Sackgasse, wollte man der SED aus dem Weg gehen, oder?
Staatsanwalt und Richter hätte ich auch nicht werden wollen. Mein Ziel war es, Rechtsanwalt zu werden. Aber das ging auch nicht.
Es gab in der DDR zugelassene Anwälte .
Sechshundert für die ganze DDR. Nicht ein einziger ist es ohne den Segen der Partei geworden. Ich kenne viele dieser Altanwälte, Gysi und de Maizière gehörten ja auch dazu. Gegen mich sprach, dass ich ein bekennender Christ war. Das machte mich - trotz sehr guter Noten, sehr guter Promotion - suspekt. Die Noten haben keinen interessiert, die haben gesagt: Du nicht, du glaubst an den lieben Gott. Wir wollen welche, die an den Marxismus-Leninismus glauben.
Und dann öffnete sich die Tür nach Delitzsch zur Agrar-Industrie Vereinigung? Gab es Alternativen?
Ich wollte an der Sektion Rechtswissenschaft zum Thema LPG- und Bodenrecht promovieren. Der Professor, der später auch meine Doktorarbeit betreut hat, Richard Hähnert, hat mich dorthin gelenkt und gesagt: Diestel, die Agrar-Industrie Vereinigung ist eine neue landwirtschaftliche Struktur, da hast du Neuland unterm Pflug, fang da mal an.
Agrar-Industrie Vereinigung, was muss ich mir darunter vorstellen?
Das war ein Zusammenschluss landwirtschaftlicher Erzeugerbetriebe und Verarbeitungsbetriebe, Baubetriebe, Handelsbetriebe, eine große Struktur, die in der Gesellschaft der Engpässe viel ausrichten konnte. Vom Korn bis zum Mehl, vom Schwein bis zum Kotelett.
Mit wie vielen Mitarbeitern?
Ich glaube, es waren drei- bis viertausend, ein großer Laden, war hochinteressant, war eine schöne Zeit. Nach dem Diplom bin ich nahtlos von der Universität dorthin gelenkt worden .
. hast du nicht dazwischen noch promoviert?
Nein, ich habe die Promotion unter ganz anderen Bedingungen geschrieben. Ich durfte ja nicht promovieren, ich durfte ja nicht an der Uni bleiben. 1983 ist unser Kind gestorben. In dieser Zeit habe ich versucht, mich irgendwie zu betäuben. Wolf ist am Pfingstsonntag 1983 am plötzlichen Kindstod gestorben. 99 Tage hat er nur gelebt. Damals habe ich in der Woche drei Marathonläufe gemacht, um abzuschalten, bis mir Blut aus den Schuhen kam. Ich habe keine Ruhe gefunden. Erst als ich in kurzer Zeit eine Doktorarbeit schrieb, war ich ein wenig abgelenkt.
Wann hast du in Delitzsch angefangen?
1978. Ich wurde Leiter der Rechtsabteilung mit drei, vier Mitarbeitern. Es hat viel Spaß gemacht. Ich hatte in zwei LPGs Genossenschaftsanteile erworben und mit den Bezügen und meinem Gehalt in bizarrer Weise etwa 150 Ost-Mark mehr als zu Beginn meiner Zeit als Vizekanzler und Innenminister. Ich habe mir damals bei den Bauern ordentlich was genommen vom Kuchen, der da zu verteilen war.
In deiner Zeit als Justiziar hast du dich politisch nicht exponiert?
Nein, als Abiturient war ich für acht Wochen in die ostdeutsche CDU eingetreten, hab dann gesagt, dass ich mir das nicht richtig überlegt hatte, und durfte wieder raus. In meiner späteren Zeit als Justiziar war ich politisch interessiert, aber nicht exponiert. Ja, doch, ich habe als Parteiloser eine Zeitlang das Parteilehrjahr geleitet.
Das geschah nicht freiwillig, nehme ich an .
Doch, doch. Das war freiwillig, ich habe mich für den Marxismus-Leninismus interessiert. Die Theorie war unglaublich interessant . Schriften von Lenin nicht so sehr, aber Karl Marx und Friedrich Engels gefielen mir als wortgewaltige Wissenschaftler, ihren Texten konnte man gut folgen. Ich war nie politisch organisiert. Ich war Christ und habe das auch gezeigt, damit keiner auf die Idee kam, mich für irgendwelche höheren Aufgaben zu werben.
Also kein politischer Aktivist?!
Ja. Aber ich habe zu DDR-Zeiten viel offener und viel unvorsichtiger diskutiert als heute. Ich musste ja vor nichts Angst haben, mir drohte keine Karriere. Ich musste nur irgendwie durchkommen bis zu meinem 65. Geburtstag, dann konnte jeder DDR-Bürger in den gelobten Westen reisen. Bis dahin wollte ich ein bisschen privatisieren und habe in der DDR im großen Stil Kunst und Antiquitäten gesammelt. Möglich, dass ich mich politisch mehr eingemischt hätte, aber ich war immer von Leuten in Präsent-20-Anzügen umgeben. Das war so ein billiges Kunstfaserzeug, das Funktionäre liebten.
Mir geht es wie dir, ich habe auch nie ein kritisches Wort gescheut. Ich kann nicht verstehen, dass man den Ostdeutschen angehängt hat, sie hätten sich angepasst verhalten und würden am Telefon nicht offen sprechen .
Mich hat das gar nicht interessiert, ob mich einer abhört oder nicht .
Die Westdeutschen waren angepasster als wir. Sie hatten etwas, was ihnen Querulanz abgewöhnt hat: die D-Mark. Wer sich schön angepasst verhielt, stieg schneller in der Besoldungsgruppe und verdiente mehr Geld. Geld ist immer eine Größe für Lebensqualität. Es war schon wichtig, wie viel man verdiente.
Wenn du Geld hast, bist du frei. Hast du kein Geld, bist du unfrei. Inzwischen wissen wir das auch.
Wir hatten unsere 800 Ostmark, du vielleicht mehr, aber von 800 Ostmark konntest du gut leben. Viel mehr konntest du gar nicht ausgeben. Gut, du hast gesammelt, das war eine Geldanlage.
Ich...
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