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Büsum 2019
»So wie du arbeitest, so möchte ich mal Urlaub machen«, poltert Peer Taubald oben in der »360-Grad-Bar« von Büsum drauflos. Der drahtige Mittvierziger mit dem lustigen Schnurrbart und der tätowierten Seejungfrau auf dem rechten Schultergelenk haut dem Kripomann Henry Hansen so kräftig auf den Rücken, dass der aufheult wie eine junge Kegelrobbe. Der 52-Jährige dreht ihm das Gesicht zu und kneift wegen der Sonne ein Auge zu. »Das ist ja fast Beamtenbeleidigung, Peer, setz dich«, meint Hansen trocken.
»Der Herr Kriminal hat wohl keinen Fall zu lösen, da kann er in der Sonne dösen«, dichtet Peer und untermalt das mit einem breiten Grinsen.
Die beiden kennen sich vom Segeln, und Peer ist froh, dass Henry wieder in Büsum lebt. »So viele Jahre als Kripomann auf Sylt, das tut doch nicht gut, oder? Nun bist du ja zurück in deiner alten Heimat, Henry. Du, ich habe eine neue Jolle, die müssen wir uns im Seglerhafen morgen mal ansehen und eine Runde fahren«, schlägt Peer vor. Von seinem skurrilen Hobby erzählt er Hansen heute lieber nichts. Peer Taubald hat seit fast 20 Jahren den Ehrgeiz, ohne Ticket in die teuersten und prominentesten Bereiche aller möglichen Veranstaltungen zu kommen. So etwa tausendmal ist es ihm schon gelungen. »Ich zahle doch keinen Eintritt«, begründet er seine Coups. Doch wie er das anstellt, das verrät er nicht. So hatte Peer schon 14-mal Michael Jackson erlebt, Rod Stewart hinter der Bühne getroffen, war oft bei der Preisverleihung der Goldenen Kamera und mehrfach im Tennis-Mekka in Wimbledon. Als er Henry vor einiger Zeit mal davon erzählte, war der schnell aufgebracht. »Bürschchen, das ist Betrug, ich komme dir noch auf die Schliche«, hatte der Polizist ihm gedroht.
»Wie heißt denn dein gutes Stück?«, will Hansen jetzt wissen.
»Das ist die >Trischen<«, verkündet Peer stolz.
»Ach, wie die Sandinsel da draußen in der Meldorfer Bucht, weil du da schon mal stecken geblieben bist, Peer!«, lästert Hansen.
»Du musst immer in alten Wunden bohren, ja, aber meine neue >Trischen<, die bleibt nirgends stecken. Also morgen 16.30 Uhr legen wir zusammen ab, okay?«
»Okay, Peer. Mit der >Trischen< einmal um Trischen, wenn das man gutgeht«, antwortet Henry, schmunzelt und haut Peer in den Rücken - eine kleine Revanche. Während Peer geht, genießt Hansen noch etwas von seinem geliebten Büsum. Der Blick auf die Nordsee von der »360-Grad-Bar« aus gefällt Hansen - weit und klar bis zum Horizont an diesem schönen Frühlingstag. »Rüm Hart, klar Kimming«, sagen die Friesen weiter nördlich: großes Herz und weiter Horizont. Das hat Hansen gelebt, als er noch auf Sylt war. Vielleicht sitzt der Kriminaloberkommissar deshalb zu gern morgens hier oben unter den grünen Schirmen der Beachbar. Der Fußweg auf die »Watt'n Insel« führt über einen Steg durch die Familienlagune Perlebucht. Es hat sich in der kurzen Zeit für ihn ein Ritual entwickelt: Hansen trinkt einen Cappuccino und blickt einfach so aufs Wattenmeer. »Funny Girl«, sagt der 52-Jährige dann leise zu sich und schmunzelt. So heißt das Schiff, das jeden Tag um 9.30 Uhr aus dem Büsumer Hafen ablegt und zur Tagesfahrt nach Helgoland aufbricht. Da hinten in der Fahrrinne ist es gerade zu sehen.
Bei »Funny Girl« denkt Hansen allerdings meist an seine alte Liebe Swantje Brackwedel. Sie sind hier in Büsum zusammen zur Grundschule gegangen. Was waren das für schöne Zeiten vor 46 Jahren, erinnert er sich. Später hat er seine Jugendliebe öfter gesehen, die vergangenen drei Jahre auf Sylt sogar fast täglich. Da war er bis vor ein paar Monaten Chefermittler der Kripo in Westerland. »Zehn Jahre Sylt sind genug«, hatte der stattliche Hansen gesagt, der wegen seiner 1,93 Meter Größe auch »der Leuchtturm« genannt wird. Als ausgerechnet in Büsum, dem Ort seiner Kindheit, eine Stelle für ihn frei wurde, zog es ihn sofort zurück. »Büsum ist mein Traum«, bekannte er. Und Swantje? Sie war bis vor ein paar Tagen Bürgermeisterin auf Sylt. Viele dachten, die beiden wären ein Paar, aber es war nur eine Jugendliebe, mehr nicht. Was sie jetzt wohl macht, denkt sich Hansen.
*
Am nächsten Tag kommt es nicht zu dem vereinbarten Törn mit Peer. Das hat einen einfachen Grund: Reste einer Leiche werden bei Baggerarbeiten am Kurpark gefunden. Die Abrissfirma ruft bei der Polizei an. Henry Hansen ist schnell zur Stelle.
»Sieht gar nicht gut aus«, murmelt der Kriminaloberkommissar und wiederholt den Satz wie ein Mantra. Was er sieht, wirft bei ihm sofort tausend Fragen auf und lässt ihn alte Ermittlerkontakte im Landeskriminalamt in Kiel in Windeseile aus der Erinnerung durchgehen. Was soll er mit so alten Knochen anfangen, die nun vor ihm liegen?
Der Baggerführer war bis eben dabei, eines der Häuser am Kurpark abzureißen. Das Zweifamilienhaus liegt in Trümmern; bald soll hier ein schickes Apartmenthaus für Gäste und Zweitwohnungsbesitzer die Gemeinde verschönern. Als die Krallen der Baggerschaufel allerdings am Fundament kratzten, da rollten plötzlich die Knochen eines Skeletts aus einer Art Kammer, die sich geöffnet hatte.
Hansen blickt in einen dunklen Schacht. Der ist muffig und feucht. Es riecht nach faulen Eiern, Schimmel und Kot. Der Oberkommissar leuchtet mit seiner Handytaschenlampe hinein. Er kniet sich hin und beugt sich fast demütig in die Tiefe. »Ach, auch das noch!«, stöhnt Hansen genervt. Der einsetzende warme Frühjahrsregen taucht die gespenstische Szenerie in ein noch trüberes Licht, als sollte der Fund im Dunkeln bleiben und langsam unter Wasser verschwinden. Im engen Schacht sammelt sich rasch zusammenlaufendes Wasser, eine Art Jauche. Jedenfalls stinkt es noch stärker als eben. Hansens Hemd ist triefend nass. »So ein Mist!«, beschwert er sich nur.
Der Oberkommissar lässt alles absperren, telefoniert die Spurensicherung herbei und steht vor vielen Rätseln. Wie lange schon ist diese Person tot? Warum wurde sie hier gelagert? War es überhaupt Mord? Gibt es Hinweise in der Umgebung?
»Det is ja wie im ollen Egüpten«, stellt Merit Hoyer fest, als sie sich den Fundort der Leiche näher anschaut. Die 28 Jahre alte Assistentin Hansens kann ihre Berliner Herkunft nie ganz verstecken.
»Schön wär's«, widerspricht Hansen, »dann könnten ja die Archäologen ermitteln, und wir wären fein raus. Dies hier, liebe Merit, heißt viel Arbeit.«
Merit wischt sich ihre schulterlangen blonden Haare nach hinten und strahlt ihn an. »Sie schaffen das locker, Chef, wa?«
Die Polizeimeisterin ist heute mal wieder in Plauderlaune. »Bestimmt ist die Leiche uralt, das ist kein aktueller Mordfall, so was hatten wir mal in Berlin, Chef«, beginnt sie ihre Ausführungen, als sie sich auf dem Rückweg zur Polizeistation befinden. »Reinste Knochen, keine Verwesungsreste, uralt, sage ich Ihnen. Rungholt, kennen Sie das, Herr Hansen?«
Der Oberkommissar hebt nur die linke Augenbraue, während er seine an sich liebenswerte Kollegin anschaut. »Du meinst das >Atlantis des Nordens<, das in der Marcellusflut im Januar 1362 untergegangen sein soll und sich hier irgendwo vor Büsum befand?«, fragt Hansen gelangweilt nach.
»Bingo, darüber lese ich gerade einen Roman. In der sogenannten nordfriesischen Chronik von Pastor Anton Heimreich von 1666 ist die Rungholt-Sage erstmals erwähnt. An drei Tagen und Nächten wurden Tausende Opfer dieser Sturmflut entlang der Küste. Die änderte sogar ihren Verlauf. Alles ging drunter und drüber. Doch das Unheimliche war: Die Stadt Rungholt lebte am Meeresgrund fort. Wenn Sie heute Ihre Ohren mal oben an der Beachbar spitzen, Chef, dann hören Sie noch Rungholts Kirchenglocken läuten.«
Hansen holt tief Luft. »Nein, die Kirchenglocken höre ich weder da oben an der Beachbar noch hier unten am Kurpark. Rungholt hat es wirklich gegeben, das stimmt, es lag aber wahrscheinlich westlich der heutigen Hallig Südfall. Das ist so 45 Kilometer nördlich von hier, bei Nordstrand Richtung Pellworm, etwas vor Husum. In der Hafensiedlung lebten einst rund 2.000 Menschen und trieben Salzhandel. Ihr Verderben aber war der Torfabbau. Rungholt versank langsam, doch, Merit, mit unseren Knochen hat das alles nicht das Geringste zu tun.«
»Och, warten Se doch mal die Altersbestimmung der Knochen ab, wa. Nachher kommen wir janz jroß raus. Ermittlerpaar aus Büsum klärt 300 Jahre alten Mordfall auf. Rungholt-Atlantis offenbart dat letzte Rätsel. Mensch, Hansen, da säßen wir in jeder Talkshow«, redet sich Merit fröhlich in Verzückung.
Hansen schüttelt nur den Kopf. »Eins stimmt, Merit, wir warten mal das Ergebnis der Rechtsmediziner ab, das wird aber ein paar Tage dauern.«
Der Büsumer Chefermittler hat es sich am nächsten Spätnachmittag wieder in der Beachbar bequem gemacht, diesmal wartet er schweigend auf die Rückkehr der »Funny Girl« von Helgoland. Gegen 18.15 Uhr legt das Schiff wieder im Büsumer Hafen an. »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen«, murmelt Hansen vor sich hin. Diese Blicke aufs Wattenmeer, diese Sonne, wie sie sich langsam wieder dem Horizont nähert, diese Weite und Klarheit, das gefällt ihm. Hansen ist zwar kein Romantiker, aber dieser Meeresgeruch, diese Brise, dieses Salzige, das geht ihm in die Nase und von dort aus offenbar direkt ins Herz.
Und wie das so ist in einem kleinen Ort, in dem sich die meisten kennen: Längst haben die Einheimischen ihre Versionen über die tote Person vom...
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