Schweitzer Fachinformationen
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Der Tote liegt im Gebüsch. Laub bedeckt den Körper. Es sind nur ein paar Schritte bis zur viel befahrenen Straße von Lathen nach Sögel, doch wer soll ihn hier finden? Besucher vielleicht, die zur Alten Dorfstelle Wahn 1 kommen und sich die Reste des Ortes und die Informationstafeln ansehen. Es ist Frühling. Die ersten grünen Knospen sind an den Zweigen zu sehen, während unten noch das herbstliche Laub den Boden weitgehend bedeckt. Dr. Ludwig Meyerbeer aus Lingen ist erst vor zwei Tagen hier in seinem Laubbett sorgfältig abgelegt worden, und niemand hat ihn bislang entdeckt.
Reinhard Püngel, Nachfahre einer alteingesessenen Wahner Familie, schlendert mit seinem österreichischen Gast Jo Barnsen durch das Waldgebiet Wahn und erzählt. »Wo gibt es das sonst auf der Welt? Ein ganzes Dorf stand in der Schusslinie des Militärs: Wahn heißt es, und das war hier«, regt Püngel sich auf. »Einst wohnten hier 1000 Menschen. Das Dorf im Hümmling existierte schon um das Jahr 1000. Meine Familie ist schon im Viehschätzungsregister von 1545 erwähnt. Wir hatten vier Pferde, sechs Kühe, vier Ochsen und 120 Schafe. Von der Schafherde auf Püngels Feld gibt es sogar ein berühmtes Bild. Das Ende unseres schönen Dorfes begann, als die Firma Krupp 1877 bei Meppen einen Schießplatz baute. Die Kaiserliche Marine testete großkalibrige Schiffsgeschütze«, doziert Püngel weiter. »Im Ersten Weltkrieg kam die >Dicke Bertha< hier zum Einsatz. Das war ein Mörser mit 42 Zentimeter Kaliber, verstehen Sie?«, fragt Reinhard Püngel seinen Gast und hält ihm zwei gespreizte Hände vor die Augen. Das soll den Durchmesser veranschaulichen. »Wenn so ein Ding losknallt, werden Sie wahnsinnig! Wahn, wie gesagt, was passierte, war wahnsinnig.«
Der Tourist starrt auf den beschämenden Rest eines Bodenmosaiks der St. Antoniuskirche 2 , die hier einmal stand. Jo Barnsen schweigt weiter. Ein seltsamer Typ, denkt Püngel, warum sagt er nichts? Er kennt ihn erst seit einer Stunde, als sein Nachbar Winfried ihn fragte, ob er seinem Gast aus Klagenfurt mal ein bisschen die Gegend zeigen könne. Gesagt hat Jo Barnsen seitdem nur »Guten Morgen« und öfter »Danke, iss scho' recht«. Aber Püngel ist so ergriffen von Wahn, diesem einstigen Dorf seiner Vorfahren, dass er fast ohne Pause weiter erzählt. Sie stehen vor den Resten der Kirche. »Sie wurde 1744 im Dorf gebaut und ersetzte eine noch ältere. Der Dom des >Hümmling<, wie sie ihn nannten, hatte einen hübschen Zwiebelturm mit großer Uhr, aber er fiel dann 1942«, beschreibt er genau das Ende von Wahn. »Abgerissen haben sie die Höfe, selbst diese Kirche haben sie nicht im Dorf meiner Großeltern gelassen, alles wurde systematisch zerstört«, erzürnt sich Reinhard Püngel, der sich wie andere Nachfahren meist einmal im Jahr hier trifft. Das Wahner Treffen 3 am dritten Sonntag im Juni dient dem Gedenken an das ehemalige Dorf. Püngel zitiert sogar aus der Abschiedspredigt des Pfarrers Bernardus Reckers, der von 1919 bis 1942 als letzter Pfarrer in Wahn lebte. »Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele«, hatte Reckers gemahnt. »Mein Großvater Johann Theodor Püngel und seine Frau Anna wohnten mit ihren sechs Kindern in Wahn«, erzählt Püngel weiter. »1941 siedelten alle nach Belm, das ist eines der 67 Dörfer, auf die die Bewohner damals aufgeteilt wurden, einige zogen sogar bis nach Mecklenburg um.« Die letzten Familien verließen im März 1943 den Ort - für immer.
Sie gehen den Rundweg ab und besehen sich die ehemalige Hofstelle Nummer 64, wo die Püngels wohnten. »Ein ganzes Dorf wich vor und im Zweiten Weltkrieg dem Druck der eigenen Kanonen, auch heute wird hier fast täglich geschossen, hören Sie das?« Der Gast schweigt weiter und staunt, reißt seine Augen auf. »Da hinten auf der Wiese stehen 22 alte Panzer«, erläutert der Abkömmling einer Wahner Familie seinem stummen Besucher, »aber das wissen nur wenige.«
Püngel spricht wie vom Tonband. »Während der Schießübungen der Wehrtechnischen Dienststelle für Waffen und Munition 91 in Meppen muss sogar die Straße gesperrt werden. Die Autos halten an der Ampel, an der dann die Wartezeit angezeigt wird. Bis zu 60 Minuten kann das dauern. Wo gibt es das denn sonst auf der Welt?«, fragt der 55-Jährige scheinbar ins Leere, denn sein Gegenüber wirkt abwesend. Sie gehen weiter durch die alte Dorfstelle und nähern sich wieder der Straße Lathen - Sögel. Ganz in der Nähe steht das Auto, mit dem die beiden gekommen sind. Es raschelt unter den Bäumen. »Wahrscheinlich sind Mäuse unterwegs«, sagt Reinhard Püngel und schaut flüchtig hin, dann bleibt sein Blick jedoch hängen. »Wahnsinn«, schreit er plötzlich, »da, sehen Sie das auch? Eine Hand!«
Püngel fegt mit der Rückseite seiner rechten Hand das Laub zur Seite. Der nackte Oberkörper eines Menschen kommt zum Vorschein; die Augen sind geschlossen, der Mund ist verzogen. Äußerlich sind keine Wunden zu erkennen. »Ich glaube, der ist tot«, sagt Püngel und alarmiert mit seinem Handy die Polizei. Bei der Kripo in Lingen ist Jan-Hinnerk Eilers am Telefon. Der Kommissar fährt sofort zum Fundort der Leiche.
»Jan-Hinnerk Eilers, Kripo Lingen. Mein Kollege sagt, Sie haben uns benachrichtigt, kennen wir uns nicht von den jährlichen Wahn-Treffen? Mein Großvater hat hier bis 1940 gelebt und ist dann nach Haselünne umgesiedelt worden«, sagt der 58-Jährige zu Püngel. »Kann gut sein«, meint der nur. »Den Toten kenne ich, das ist Dr. Meyerbeer, ein Lingener Anwalt«, sagt Eilers und vernimmt die beiden Zeugen, doch das allein wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet.
»Herr Püngel, Sie haben mir ja schon geschildert, wie es am Fundort aussah, aber wie erklären Sie sich, dass der Tote nackt war?« Eilers liebt die direkte Frage. Er ist hier im Emsland groß geworden, beruflich bei der Polizei. Das verdankt er zum großen Teil seinem engmaschigen Netz aus Kontakten zu Bauern, Bauunternehmern und Banausen. Was ihn nur ärgert, ist seine junge Kollegin Jana Kuhlmann und die Tatsache, dass sie seit einem Jahr seine Vorgesetzte ist.
Diese 39-jährige Göre, denkt er dann. Aber insgeheim gibt er zu: Gut ist die ja, aber ich wäre halt dran gewesen! Doch jetzt zeige ich der mal, was ich so drauf habe.«
Im Bericht der Rechtsmedizin ist als Todesursache ein gezielter Rückenschuss ins Herz genannt, andere äußere Verletzungen hat der Tote nicht. Es gab offenbar keinen Kampf, sondern einen schnellen Tod. Eilers zeigt Püngel die Fotos von Dr. Meyerbeer, den er von einer Gerichtsverhandlung her kennt. Da hat er mal eine ganze Blattsammlung vom Tisch geniest, erinnert sich Eilers, der nun als Ermittlungsführer die ins Leben gerufene Mordkommission »Nackter Wahn« leitet. Warum war er nackt?, fragt Eilers sich.
Während Püngel bereitwillig Auskunft gibt, bleibt der Österreicher sehr wortkarg und hinterlässt einen seltsamen Eindruck bei Eilers. »Herr Barnsen, Sie haben mir ja schon erzählt, dass Sie aus Österreich zu Besuch sind und bei Ihrem Freund Winfried Wennemer wohnen, Sie sind 44 Jahre alt, ledig, arbeitslos und wollten mal die Gegend kennenlernen. Dazu hat Ihr Freund Sie an Herrn Püngel vermittelt, mit dem Sie zuerst Wahn besuchten. Sie haben dann den Toten zuerst gesehen, oder?«
Jo Barnsen verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, rümpft die Nase, dann mündet der Ausdruck in ein breites Grinsen. »Nein, erst hat ihn Herr Püngel gesehen, dann ich, aber ich sah sofort, der ist tot. Die Augen zu, der Kopf zur Seite, tot, dachte ich da«, gibt der Österreicher zu Protokoll. Barnsen grinst wieder.
Eilers weiter: »War es Ihr Wunsch, sich Wahn anzusehen, das Dorf, das es nicht mehr gibt, oder wer hatte die Idee dazu?« Barnsen schaut kurz zur Zimmerdecke hinauf und sagt dann: »Meine Idee, ich wollte sehen, wo die schießen. Finde ich toll.« Eilers wird hellhörig und fragt: »Schießen Sie denn selbst auch, Herr Barnsen, im Schützenverein vielleicht?« »Na«, antwortet der nur.
Eilers belässt es dabei, denn er vermutet eine leichte geistige Eintrübung seines Gesprächspartners. Doch die Erfahrung aus der Vielzahl seiner Fälle sagt ihm: Wer weiß, vielleicht nur gespielt. Vorsichtshalber lässt er prüfen, ob der Klagenfurter in Österreich auffällig geworden ist. Ebenso lässt Kommissar Eilers sich die aktuellen zehn größten Fälle des ermordeten Anwalts und Notars aus Lingen schildern.
In der Sozietät Dr. Meyerbeer ist man am Telefon zunächst zurückhaltend. Doch als Eilers sich dort extra mit einem Polizeiauto vorbei bringen lässt, wird die Vorzimmerdame Julia Behrens doch gesprächig.
»Nein, kein Aufsehen, wir liefern Ihnen, was Sie möchten«, sagt sie rasch. Der Kommissar hat Zeit. »Wir gehen mal ins Nebenzimmer, und Sie schildern mir die Mandanten und deren Umgangsformen etwas genauer bitte«, besteht er auf einer längeren Unterredung. Die 29-jährige Rechtsanwaltsfachangestellte legt den inneren Schalter um. Nach einer halben Stunde hat Eilers erfahren: Dr. Meyerbeer hat eine von ihm getrennt lebende Frau, zwei erwachsene Kinder, die sich schon seit ein paar Jahren in den USA aufhalten. Er wohnte in einem Anwesen nahe der Hümmlinger Kreisbahn 4 in Werlte und wollte sich noch dieses Jahr zur Ruhe setzen. Seine letzten Mandanten waren zwei Nachbarn aus...
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