Schweitzer Fachinformationen
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Als es hieß, wir würden eine Schlucht in einem Naturschutzgebiet besichtigen, freuten wir uns ungemein. Wir hatten Bilder von romantischer Waldeinsamkeit im Kopf, also das, was ein Deutscher im Kopf hat, wenn es heißt, wir fahren in die Natur. Natur und Waldeinsamkeit hatten wir auch bitter nötig nach den stundenlangen Busfahrten in den vergangenen Tagen, bei denen wir Städte der landschaftlich nicht sonderlich markanten Provinz Henan besichtigt hatten, deren Fremdenverkehrsamt uns deutschen Journalisten die Schönheiten ebenjener Provinz nahebringen wollte. Wir wurden daher an ein paar Klöstern vorbeigekarrt, die wir eilends durchliefen, um pünktlich zu irgendeiner Mahlzeit in der nächsten Stadt zu sein. Das schien in China sehr, sehr wichtig.
Die Städte sahen alle gleich aus. Es waren typische chinesische Kleinstädte von ein, vielleicht zwei Millionen Einwohnern. Diese Einwohner wurden in bunten Hochhäusern gestapelt, die aussahen, als stammten sie aus den sechziger Jahren, aber eigentlich waren sie erst an die zwanzig Jahre alt. Ja, das Material, seufzte unser Guide, der sich erfrischenderweise dadurch hervortat, mit seiner Meinung nicht allzu sehr hinterm Berg zu halten und uns ansonsten anzutreiben, damit wir den straffen Zeitplan einhielten. Irgendwo zwischen diesen Hochhäusern fand sich dann stets ein Hotelrestaurant, und in einem brutalst herunterklimatisierten Séparée, das gilt in China als besonders fein, warteten immer schon Vertreter der lokalen Tourismusbehörde an einem plastikgedeckten runden Tisch, um uns die Schönheiten ihrer Kleinstadt zumindest theoretisch nahezubringen. Denn wir mussten ja immer weiter, zum nächsten Kloster, zur nächsten Stadt.
So ungefähr beim ersten oder zweiten oder dritten ausschweifenden Geschäftsessen, das wir in China mit lokalen Tourismusfunktionären absolvierten, erfuhren wir, dass ausschweifende Geschäftsessen ja eigentlich offiziell untersagt seien. Das hier sei gar nichts im Vergleich zu früher, bevor Parteichef Xi Jinping beschloss, endlich mit der Korruption aufzuräumen, mit den ewigen Banketten, ohne die in China gar nichts läuft. Die dicken Umschläge will er verbieten, und Zigaretten gönnt er ihnen auch nicht mehr. Allerdings werden in der Zwischenzeit auch fröhlich Dissidenten verhaftet, die gegen die Korruption kämpfen, denn gegen Korruption darf in China nur einer kämpfen, der oberste Korruptionsbekämpfer nämlich, und das ist nun einmal der Parteichef.
Auch wir kämpften, und zwar auf unsere Weise. Wir saßen also im eiskalten Séparée, vor uns türmten sich auf dem gläsernen Drehtisch Platten mit frittierten Bröckchen: Tofubröckchen und Schweinebröckchen, Entenbröckchen, Hühnerbröckchen, Quallenbröckchen, Rinderbröckchen und Kuhmagenbröckchen, dazu Gemüse in salziger brauner Soße, Pilze in salziger brauner Soße und Extraschälchen mit salziger brauner Soße. Also ungefähr das, was wir schon seit Tagen aßen und noch tagelang essen würden. Ausgestattet waren wir für diesen Zweck mit Tellerchen, Schälchen, Stäbchen, einer Teetasse und einem fingerhutkleinen Glas. Zwischendurch kam jemand und füllte Suppe ins Schälchen, dann kam jemand anderes und füllte Tee in die Tasse, und dauernd kam jemand und füllte Schnaps ins Glas.
So ein Geschäftsessen ist in China eine durchritualisierte Angelegenheit. Man trifft sich, setzt sich, isst, trinkt und steht sehr schnell wieder auf. Anderthalb Stunden Druckbetankung. Das klingt harmlos, ist aber ungewohnt. Unterhaltungen etwa sind kaum möglich, da ständig auf irgendetwas angestoßen werden muss. Auch das fluchtartige Verlassen des Raumes, sobald das letzte Gäbelchen das vorletzte Melonenstückchen aufgespießt hat - auch das letzte aufzuspießen wäre nämlich unhöflich -, ist ungewohnt. Chinesische Geschäftsessen sind kurz, heftig und effizient. Kategorien wie «gemütliches Sitzenbleiben» oder «entspanntes Plaudern» existieren nicht. Man ist ja nicht zum Spaß hier.
Also, von vorn: Erst kommen die leichteren Speisen und erste frittierte Bröckchen. Der Funktionär steht auf, drückt seine Freude aus, wir stoßen an, Ganbei! Und das ist das Stichwort, das Glas Kornschnaps ganz auszutrinken. Der Gast steht auf, drückt seine Freude aus, Ganbei!, Essen. Zwischendurch ein paarmal Ganbei zum Warmwerden. Dann wird der Fisch aufgetragen, und auf wen der Fischkopf zeigt - meist der Platz gegenüber der Tür -, der muss zweimal Ganbei. Ein bisschen wie Flaschendrehen also, nur in verschärfter Variante. Dann muss der gegenüber - mit dem Rücken zur Tür - viermal Ganbei.
Während des Essens der Hauptgänge ergreift den Tisch dann eine für westliche Gemüter intolerable Unruhe. Erst steht der Gastgeber auf und macht seine Runde. Das heißt, er muss mit jedem Gast zweimal Ganbei, aber richtig, denn das leere Glas gehört demonstrativ geneigt vor sich gehalten, da darf nichts mehr heraustropfen, da muss man schon gründlich zu Werke gehen. Das macht jeder der Gastgeber mit jedem Gast. Dann müssen die Gäste ran und ebenfalls ihre Runde drehen, also wir. Weil wir verweichlichte Langnasen und schlecht im Training sind, wie wir glaubhaft versichern, dürfen wir ausnahmsweise als Gruppe losziehen und so die zwei Ganbei pro Person weiter reduzieren. Das finden wir wirklich sehr nett, und wir wollten ganz bestimmt auch niemanden beleidigen.
Es gibt eine verifizierte Ausrede, sagte man mir, also eigentlich zwei. Frauen müssen prinzipiell nicht mitmachen, und Männer sind nur befreit, wenn sie sagen, sie nähmen Medikamente. Andere Ausflüchte werden nicht geduldet. Oder gereichen zum eigenen Nachteil: Wer nicht mehr stehen kann, kommt schlicht nicht zum Geschäftsabschluss. Oder kann beim Vortrag der Tourismusfunktionäre über die Schönheiten dieser speziellen Kleinstadt der wunderschönen Provinz Henan nicht mehr zuhören, vergisst den Namen der Stadt sofort und blättert sich hinterher ratlos durch Hunderte Fotos von Millionenkleinstädten, die alle gleich aussehen.
Ich muss also nicht trinken. Aber irgendwie doch. Ich habe nämlich keine Lust, hier als schwaches Geschlecht eingeordnet zu werden, so dumm das sich jetzt anhören mag, und außerdem bin ich größer als die meisten Chinesen hier am Tisch und verfüge als Europäer über eine erstklassig funktionierende Aldehyd-Dehydrogenase, auf Deutsch: Alkohol wird in meinem Körper ziemlich reibungslos abgebaut, was man von 56 Prozent der Chinesen nicht behaupten kann. Deren Aldeyd-Dehydrogenase ist nämlich mutiert und kann mit hemmungslosem Ganbei eher schlecht umgehen, jedenfalls schlechter als der Enzym-Wildtyp, über den wir robusten Europäer verfügen.
Und so stellte ich mich der Herausforderung. Ganz oder gar nicht, dachte ich. Es half, dass der grüne Tee ständig nachgefüllt wurde. Die frittierten Bröckchen in salziger brauner Soße halfen ebenfalls immens. Chinesisches Essen - zumindest im nördlichen China - ist nämlich nicht gerade leicht und auch nicht sonderlich gesund, sondern eher bleiern, also eine bestens geeignete Unterlage für die Trinkspielchen, die diese Herren hier veranstalten und die, so denke ich mit meiner kulturell selbstverständlich sträflich eingeschränkten Weltsicht, ja mit Mitte zwanzig jeder halbwegs gereifte Mitmensch überstanden haben sollte.
An Entspannung war also in keiner Weise zu denken. Mit jeder Tischrunde musste ich mir eine Eloge anhören, die sich die Gastgeber ausdachten und die meistens darauf abzielte, dass ich recht dekorativ sei und meine Anwesenheit in dieser Herrenrunde als optisch bereichernd und mutig angesehen werde. Ich sagte etwas vage Freundliches über China, Ganbei Nummer eins, Ganbei Nummer zwei, lächeln, hinsetzen bis zum nächsten Rundendreher. Dann Obstteller, Melonenbröckchen übrig lassen, aufstehen, raus hier, brutalstmöglicher Gesprächsabbruch inklusive. Das sei harmlos, das sei alles noch gar nichts, ich hätte das mal sehen sollen, bevor das neue Antikorruptionsgesetz erlassen wurde und die Funktionäre wie die Fliegen an Alkoholvergiftung starben. Dreißig Funktionäre mehr, vierzig Gänge, fünfzig Ganbei. Wie viel hatten wir? Sechzehn Ganbei. Also gar nichts. Wir befanden uns dennoch in sanfter Dauerbetüdeltheit, die uns im Bus bis zum nächsten Schlagloch sanft dösen ließ. Der Bus war für Chinesen gebaut, weshalb wir Europäer nicht recht wussten, wohin mit unseren Beinen. Kurz: Die Lage war so angespannt, dass uns ein funktionärsloser, ganbeifreier Nachmittag im Grünen recht paradiesisch vorkam.
Gespannt falteten wir uns also aus dem Bus und schüttelten die tauben Gliedmaßen. Das Naturschutzgebiet rund um den Berg Yuntaishan hatte einen riesigen Parkplatz, von dem eine riesige Treppe abging, auf der man Militärparaden hätte abhalten können und die an einem riesigen Bildschirm vorbeiführte, auf dem unablässig und musikuntermalt die Schönheiten des Naturschutzgebietes auf die Besucher einflimmerten. Die Treppe endete vor einer monströsen Halle, die sich nicht die geringste Mühe gab, sich auch nur ansatzweise in die Landschaft einzupassen, sondern sich selbstbewusst sozialistisch vor die dahinter befindliche Hügelkette klotzte. In der Halle wimmelten schon einige Gruppen, sie wurden von in Megaphone brüllenden, bewimpelten Guides in Zweierreihen aufgestellt, was die Gruppen bereitwillig mit sich geschehen...
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