Schweitzer Fachinformationen
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Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, brannten in der Wohnstube des Teppichwebers Marx noch alle Lampen. Griet und ihre Schwiegereltern hatten sich um den Eichentisch versammelt, an dem sonst nur sonntags oder an Feiertagen der Weberzunft gespeist wurde. Schweigend blickten sie auf die Schüssel mit kaltem Hammelfleisch, aber keiner rührte das Essen an. Zu tief saß allen der Schreck in den Gliedern. Hanna griff immer wieder nach der faltigen Hand ihres Mannes, als müsse sie sich davon überzeugen, dass sie auch kein Gespenst mit nach Hause genommen hatte. Wie alle war sie davon ausgegangen, dass Frans mit den anderen Ratsmitgliedern aus dem Fenster geworfen worden war. Von den Verurteilten hatte nur ein einziger, der Gewandschneider Hendryk van Porten, den Todessturz überlebt. Mit vielfach gebrochenen Gliedern war er in einer Karre fortgebracht worden; niemand wusste, wohin.
«Ich bin zu müde, ich kann nicht mehr denken!» Sooft jemand die Sprache auf das Strafgericht brachte, wehrte Frans ab. Griet wollte den alten Mann keineswegs quälen, dennoch fiel es ihr schwer, ihre Neugier zu zügeln. Was mochte den Statthalter bewogen haben, Frans Marx zu verschonen? Hatte er mit ihm geredet? Oder eine Forderung gestellt?
Eine Weile später, Hanna wollte schon aufstehen, um ihrem Mann in die Schlafkammer zu helfen, fing Frans doch noch zu sprechen an.
«Zunächst dachte ich, der Statthalter wollte verhandeln», sagte er leise. «Er erkundigte sich nach unseren Geschäften und Familien, wollte wissen, wie lange wir in der Stadt ansässig seien und ob wir bereit wären, wieder die Messe zu hören. Aber damit konnte er mich nicht täuschen. Mir war klar, dass er den Schöffenrat vernichten würde. Und dann fing Osterlamm wieder an, herumzuschreien und auf Farnese loszugehen. Man hätte ihn nicht nur fesseln, sondern auch knebeln sollen. Ich habe nie zuvor einen Menschen so wüten gesehen. Als wäre der Leibhaftige persönlich in ihn gefahren. Wäre Osterlamm nicht gewesen, hätten die anderen Ratsherren vielleicht eine Chance gehabt, mit dem Leben davonzukommen. Aber der Wahnsinnige riss sie mit ins Verderben. Er verriet Farnese, wer die Urkunde unterschrieben hatte, in der sich die Stadt der Utrechter Union unterstellt. Anschließend beschimpfte und bedrohte er Farnese von neuem. Er sei ein verdammter Papist, der zur Hölle fahren würde, und habe sich das Amt des königlichen Statthalters mit Lug und Trug erschlichen. Die eigene Mutter würde er wie eine Gefangene in Namur festhalten, aber die sei schließlich auch nur eine Höllenhure, kaum besser als er selbst. Und Farneses Großmutter sei ein armseliges Dienstmädchen gewesen, das den Kaiser verhext habe, um nicht in einem öden Loch versauern zu müssen. Mir wurde ganz anders, als ich ihn so viel Gift versprühen hörte.»
Frans holte tief Luft, bevor er weitersprach. «Nachdem er den Statthalter beleidigt hatte, erklärte er, dass die Spanier verschwinden sollten und dass König Philipp seine alten Rechte an den Provinzen Flandern, Holland und Brabant längst eingebüßt hätte. Einige der Ratsherren versuchten vergeblich, Osterlamm zu beschwichtigen, aber es war zu spät.» Frans schob die Schüssel mit Eintopf zur Seite, ließ es aber zu, dass Griet ihm den Becher mit dunklem Bier füllte. Gierig trank er, als gelänge es ihm auf diese Weise, die furchtbaren Erinnerungen fortzuspülen. Ein dünnes Rinnsal lief über sein stoppeliges Kinn.
«Der Statthalter gab sich zunächst unbeeindruckt. Er beachtete Osterlamm gar nicht. Aber ich bemerkte, wie der Mann innerlich kochte. Von einem Kerl wie Osterlamm lässt sich der Herzog von Parma und Neffe des spanischen Königs nicht angreifen.»
«Ein Heuchler ist er», platzte es aus Griet heraus. Verbittert stellte sie den Bierkrug auf ein Regal über der großen Truhe. «Farnese hatte sein Urteil gesprochen, noch bevor sein Schreiber die Ratsherren aufrief, zu ihm ins Rathaus zu kommen. Er ist ein Tyrann vom Schlag seines Vorgängers Alba. Nein, schlimmer. Herzog von Alba kam in die Niederlande, um uns in die Knie zu zwingen, das hat auch Willem immer gesagt. Seine Gerichte schickten Tausende aufs Schafott. Wenigstens gab er sich nicht den Anschein eines gerechten Richters und spielte mit uns.»
«Alessandro Farnese hat seinen Soldaten bei schwerer Strafe verboten, Oudenaarde zu plündern», gab Frans Marx leise zu bedenken. «Dies hätte Alba niemals getan, der ließ seine Männer wie die Teufel hausen. Vergiss nicht, dass Farneses Mutter in Oudenaarde zur Welt kam. Das verbindet ihn mit uns Flamen auf ewig. Es gibt ein paar Familien, die sich noch an Margarethe erinnern, und obwohl der Statthalter durch und durch Italiener ist, könnte seine Herkunft für uns von Bedeutung sein. Er wird schon aus taktischen Gründen nicht zulassen, dass die Heimat seiner Vorfahren wirtschaftlich weit hinter Antwerpen oder Amsterdam im Norden zurückfällt.» Frans atmete schwer. Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an, der Griet nicht gefiel. Ihr entging nicht, wie oft die linke Hand des Teppichwebers zum Herzen wanderte. Farnese mochte sein Leben geschont haben, innerlich aber war Frans Marx gebrochen. Ein Greis. Unruhig blickte Griet zu den hohen, gerundeten Fenstern, die ein Knecht sofort nach ihrer Rückkehr mit Brettern vernagelt hatte. Unter anderen Umständen hätte sie nach einem Arzt geschickt, damit er nach Frans sah, aber dem einzigen Mann, dem sie solchen Mut zutraute, mitten in der Nacht durch eine von Kriegsvolk besetzte Stadt zu laufen, war der alte Karel Bloemhuis aus Leiden, und der lebte am anderen Ufer der Schelde, bei der Kirche von Pamele.
«Vielleicht hat der Statthalter mich laufen lassen, weil ich der Älteste war», murmelte Frans Marx. «Ein gebrechlicher Greis, dessen einziger Sohn schon auf dem Friedhof liegt, kann den Spaniern kaum gefährlich werden.» Er lächelte schwach. «Als die Reihe an mir war, flüsterte ein junger Spanier dem Statthalter etwas zu, worauf dieser mich kurz musterte, dann aber in den Raum nach nebenan schickte. Dort wartete ich, bis der junge Mann kam und mir sagte, ich könnte nach Hause gehen. Es wäre mir sehr viel wohler, wenn ich wüsste, warum ich verschont wurde.»
«Wer war dieser Spanier?», fragte Griet nachdenklich.
«Hör endlich auf, dir den Kopf darüber zu zerbrechen!» Hanna Marx warf Griet einen Blick zu, der sie warnte, sich in Männerangelegenheiten einzumischen. Frans war verschont worden, er war bei ihnen und konnte, sobald es ihm besser ging, wieder in der Manufaktur arbeiten. Das allein zählte, war es da noch wichtig zu erfahren, warum der Statthalter ihn hatte laufen lassen? Schon morgen früh, wenn die Sonne aufging, würde das alte Haus wieder zu atmen anfangen. Wie ein Kind freute sich Hanna darauf, in aller Frühe aufzustehen, um in der Speise- und Wäschekammer für Ordnung zu sorgen. Vermutlich würde Alessandro Farnese die Bürger zu Einquartierungen zwingen. Wenn sie keine Vorräte anlegten, würden ihnen die Spanier bis zum Winter die Haare vom Kopf fressen.
Nachdem Hanna ihrem Mann geholfen hatte, sich ins Bett zu legen, rief sie Beelken und eine ältere Dienstmagd aus ihren Kammern, damit sie ihr trotz der späten Stunde halfen, die Stube aufzuräumen. Nichts sollte mehr an die vergangenen Stunden voller Angst und Schrecken erinnern. Hanna beschloss, diesen Tag einfach aus ihrem Kopf zu verbannen, als habe es ihn nie gegeben.
Als Griet bemerkte, dass die junge Beelken sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, nahm sie ihr kurz entschlossen den Besen aus der Hand, schickte sie zu Bett und fegte die Scherben zerbrochener Schalen und Tiegel, welche die Eindringlinge rücksichtslos zu Boden geworfen hatten, allein auf. Niemandem war geholfen, wenn das Mädchen krank wurde, nur weil Hanna beschlossen hatte, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen.
Beelken lächelte sie an. «Aber Frau Griet, schmerzt Euer Arm nicht zu sehr?», erkundigte sie sich mitfühlend. Griet schüttelte den Kopf. Der Anflug von Schmerz, den sie auf dem Marktplatz im Arm gespürt hatte, war längst vorbei. Nun fühlte er sich wieder taub und nutzlos an wie sonst auch. Doch zum Fegen genügte auch die linke Hand. Energisch fuhr der Besen über den Dielenboden. Beelken wünschte eine gute Nacht und verschwand in ihrem Zimmerchen, einer Abseite hinter der Küche, die sie mit Basse teilte. Der Junge schlief längst. Vor Erschöpfung waren ihm die Augen zugefallen, kaum dass Griet ihn ins Bett gelegt hatte.
Als es im Haus endlich still war, zog sich auch Griet zur Nachtruhe zurück. Nachdenklich sah sie sich in den beiden Räumen mit den niedrigen, buntbemalten Holzdecken um, die sie gleich nach ihrer Hochzeit mit Willem bezogen hatte. Oft waren sie hier nicht allein gewesen. Solange Willem noch gelebt hatte, hatten sich bei Tagesanbruch Weber und Freunde, Dienstboten und Familienangehörige in der Stube eingefunden, um an langen Bänken ein gemeinsames Frühstück einzunehmen. Hier war gelacht und geschimpft, beratschlagt und sogar gefeiert worden. Basse hatte nach Milch geschrien, seine Großmutter über teures Fleisch, faules Gemüse und freche Krämerinnen geklagt. Zuweilen hatte Willem hier seinen Arm um Griets Taille gelegt und ihr versprochen, eines Tages ein eigenes Haus zu bauen oder vielleicht sogar in eine andere Stadt mit ihr zu ziehen. Nach Antwerpen oder Brügge, wo die Teppichweber auch nicht schlecht lebten. Griet schluckte bei dem Gedanken, so weitermachen zu müssen wie bisher und keinen Mann mehr an ihrer Seite zu haben, der ihr eine Zukunft versprach. Es graute ihr davor, morgen früh aufzustehen und festzustellen, dass alle ihr Leben weiterlebten.
Griet fing an zu weinen. Es sah alles so trostlos aus. Frans würde neue Wandbehänge weben lassen, und Basse...
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