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In der Nähe von Heidelberg, Herbst 1590
Was du da siehst, ist nichts Natürliches. Hier darf man nicht stehen bleiben, sondern muss sehen, dass man weiterkommt und rasch ein Vaterunser betet, damit einem nichts Böses geschieht.
Wie oft hatte Hahns Mutter diese Warnung aussprechen müssen, bevor er sich dazu herabgelassen hatte, sie ernst zu nehmen? Er erinnerte sich nicht mehr, denn als junger Mensch war er einfältig genug gewesen, die Mahnungen der Älteren in den Wind zu schlagen, sie als abergläubisches Geschwätz abzutun. Nun aber, da er selbst das Alter in seinen Knochen spürte, kamen ihm die Worte seiner Mutter wieder in den Sinn, als hätten sie dort genistet und nur darauf gewartet, dass er eine Dummheit beging.
Hahn hatte genug Zeit, darüber nachzudenken, als er an diesem Abend seinen Karren über den Feldweg nach Hause schob. Es war kalt und ungemütlich, ein feiner Nieselregen durchnässte seinen Mantel. Doch nicht nur das Wetter machte ihm zu schaffen; Hahn musste höllisch aufpassen, dass kein Stück seiner kostbaren Habe verloren ging oder im Straßenschmutz landete. Das Ergebnis zäher Verhandlungen auf dem Heidelberger Markt. Verdarben Wolle und Filz, würde es in seiner Werkstatt womöglich wochenlang keine Arbeit geben.
Was du da siehst, ist nichts Natürliches. Hier darf man nicht stehen bleiben. Nicht stehen bleiben, sondern muss sehen .
Hahn versuchte die Worte aus seinen Gedanken zu vertreiben, aber es gelang ihm nicht. Dabei hatte er gar nicht die Absicht anzuhalten, wenngleich eine Ruhepause verlockend war. Bis zu seinem Heimatdorf war es noch weit, er würde sein Haus mit der kleinen Hutmacherwerkstatt vor Einbruch der Nacht nicht mehr erreichen. Aber er und sein Weib konnten doch nicht unter freiem Himmel schlafen. Schon gar nicht bei diesem unwirtlichen Wetter.
Hahn seufzte. Warum mussten ihn seine Kräfte verlassen, ausgerechnet jetzt, wo doch der Nebel immer dichter wurde? Es war schon eine ganze Weile her, dass er etwas zu sich genommen hatte, und der Wunsch nach einem Stück Braten und einem Becher heißem Würzwein wurde immer stärker.
Auf dem Karren hockte sein Neffe, der hin und wieder mit ihm und seiner Frau in die Stadt fahren durfte. Leise summend spielte der Junge mit einer Laterne. Sie spendete ein wenig Licht, doch es reichte kaum aus, um zu sehen, in welche Richtung sie eigentlich marschierten. In Kürze würde der ausgetretene Pfad nicht mehr zu erkennen sein. Hahn, dem das Gesumme des Jungen auf die Nerven ging, war versucht, ihn anzubrüllen, aber er wusste nur zu gut, dass dies keinen Sinn hatte. Der kleine Lutz war ein eigenwilliges Kind und tat nur, was ihm gefiel.
Nicht stehen bleiben, befahl er sich selber streng. Nicht stehen bleiben.
Irgendwo in seiner Nähe hörte er einen Raben krächzen. Das Tier musste sich ganz in der Nähe, auf einem der alten Bäume niedergelassen haben, die rechts und links des Weges standen.
Was du hier siehst, ist nichts Natürliches .
Solange er denken konnte, hatte Hahn den Weg über die abgeschiedenen Hügel der Herrensümpfe gemieden. Mochte man die Erzählungen der Ältesten im Dorf für bare Münze nehmen, so gab es hier draußen manche Stelle, an der das Gras selbst im Winter frisch blieb und nicht verdorrte. Dafür erfüllten grauenvolle Schreie die Nacht.
Es war ein verfluchter Ort.
Ein Ort, über den der Teufel wanderte, um einen neuen Hiob zu finden, den er quälen konnte, und vor dessen bösem Atem jeder Wanderer zu Recht gewarnt wurde.
Hahn fröstelte; im Stillen sprach er ein Vaterunser und warf, wie man es ihn als Kind gelehrt hatte, Steinchen über die linke Schulter, um Irrlichter und Dämonen zu erschrecken. Dann wandte er sich mit einem schuldbewussten Blick seiner Frau Agatha zu, die wortlos neben ihm einherschritt, den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht über Wurzeln und Steine zu stolpern.
Hahn wollte etwas zu ihr sagen, doch er wagte es nicht, sie anzusprechen. Wenn Agatha in dieser Stimmung war, machte man besser einen Bogen um sie. Obwohl sie sich seit ihrem Aufbruch aus der Stadt nicht beklagt hatte, war ihr anzusehen, dass sie Hahn die Schuld dafür gab, bei Nacht und Nebel über den Hügel laufen zu müssen. In der Tat war es seine Idee gewesen, noch eine Schänke aufzusuchen, um sich aufzuwärmen und den Staub des Marktplatzes mit Kräuterbier hinunterzuspülen.
Auf dem Karren begann der Neffe des Hutmachers leise zu wimmern.
«Willst du dem Bengel nicht endlich die Laterne abnehmen, ehe er sie fallen lässt und den ganzen Karren in Brand steckt?», beendete Agatha Hahn ihr Schweigen. Hahn nickte. Er streichelte dem Jungen über das flachsblonde Haar und nahm ihm dann die Laterne aus der Hand.
«Wir werden das Dorf nicht vor Morgengrauen erreichen», sagte er seiner Frau. «Aber wer konnte schon ahnen, dass in Heidelberg so viel Aufregung herrschen würde? Wenn ein Galgenvogel aus seinem Kerker gezerrt und aufs Schafott getrieben wird, drängen sich die Bauern aus den umliegenden Dörfern wie eine Herde Schafe durch die Stadttore und verstopfen Plätze und Gassen, um den Malefikanten zappeln zu sehen.»
Die Hutmacherin schüttelte erbost den Kopf. «Wie scheinheilig ihr Männer doch sein könnt. War es nicht eine Büßerin, die man heute zur Richtstätte führte? Der Teufel soll ihr die Gestalt eines Engels geschenkt und sie mit ihrer hübschen Fratze zum Bösen verführt haben. Wenn sie einen Burschen gehenkt hätten, wären nicht halb so viele Schaulustige herbeigeströmt.»
Ihr Mann hütete sich, darauf etwas zu erwidern. Sie hatten inzwischen den steilen Anstieg hinter sich gebracht. Bei normalen Sichtverhältnissen wären die Lichter, die abends vor dem Dorfgatter brannten, um Wölfe abzuschrecken, bereits von weitem zu sehen gewesen. Aber wenigstens ging es nun bergab, und sie mussten sich mit dem Karren nicht mehr so schinden.
Hahn dachte an die Frau, über die Agatha gesprochen hatte. Eine Ehebrecherin, so hieß es zumindest. Gesehen hatte die Verurteilte jedoch keiner der Wirtshausbesucher, denn aus heiterem Himmel war verfügt worden, die Bestrafung an einem geheimen Ort zu vollziehen. Das war seltsam. Nicht weniger eigenartig war es aber, dass die Sünderin nicht am Galgen hatte baumeln müssen, sondern nur gebrandmarkt worden war, obwohl das Gesetz des seligen Kaisers Karl V. für Ehebruch bei Frauen durchaus härtere Strafen vorsah. Hahn fragte sich, was für ein Zeichen man der Frau ins Fleisch gebrannt haben mochte. Eine Rose mit Dornen? Eine Teufelsfratze?
«Schafft den Bösen fort aus eurer Mitte, steht in der Bibel», stieß Agatha auf einmal hervor. Sie schien gemerkt zu haben, wohin die Gedanken ihres Mannes wanderten.
«Und sondert euch ab von denen, die .»
Die Worte erstarben in ihrem Mund, als Hahn den Wollkarren mit einem Ruck zum Stehen brachte. Er packte seine Frau am Arm und wies auf eine einsame Baumgruppe, deren Wipfel trotz des Nebels noch zu sehen waren. Zwischen den Bäumen befand sich ein verfallenes Gutshaus.
«Dort unten geht etwas vor sich», flüsterte Hahn. «Ich sehe Männer mit Fackeln. Sie zerren einen Sack hinter sich her. Gott steh uns bei, der Sack bewegt sich. Bei Gott, es sieht aus, als würde ein Mensch darin stecken.»
Hahn löschte die Laterne und bedeutete seinem Neffen, sich still zu verhalten. Wer auch immer um das verlassene Haus herumstrich, er brauchte sie nicht zu sehen. So leise er konnte, schob er den Karren hinter dichtes Gestrüpp und winkte seine Frau und den Jungen zu sich. Schweigend verharrten sie dort.
Eine ganze Weile später ging die Tür plötzlich auf, und vier Gestalten verließen das Haus. Aus seinem Versteck heraus konnte Hahn sehen, dass sie dunkle Umhänge und Hüte mit breiten Krempen trugen. Nur einen Augenblick lang streifte der Schein einer Fackel das Gesicht eines der Männer. Dieser blickte sich argwöhnisch um, und für ein paar bange Sekunden verweilte sein Blick auf den Büschen, hinter denen die Hahns kauerten.
Der Hutmacher hielt die Luft an; sein Herz raste vor Aufregung. Dann aber gab der Mann im schwarzen Umhang seinen Begleitern ein Zeichen. Ohne Umschweife schwang sich die unheimliche Schar auf ihre Pferde und preschte davon, ohne sich noch einmal nach dem Haus im Wald umzublicken.
Der Spuk war vorüber.
Erleichtert atmete Hahn auf. Was auch immer die Fremden in dem alten Gutshaus zu tun gehabt hatten, es wäre sicher gefährlich gewesen, sie dabei zu stören.
«Sie haben sich davongemacht», sagte er leise. «Ich denke, wir können die Nacht in dem Haus verbringen.»
Agatha blickte ihn skeptisch an. «Mir ist nicht wohl bei der Sache, aber ein Dach über dem Kopf hätte ich schon gern. Und die Männer sahen nicht aus, als würden sie noch einmal zurückkehren.»
Das Gutshaus war größer, als Hahn angenommen hatte, befand sich aber in einem beklagenswerten Zustand. Das Schindeldach war an mehreren Stellen undicht, und da es auch keine Fensterscheiben oder Holzläden mehr gab, drang die Kälte ungehindert ins Innere. In der Wohnstube gab es einen festgemauerten Kamin, doch es war nicht möglich, ein Feuer anzuzünden; irgendetwas verstopfte den Schlot. Angeekelt betrachtete Agatha den Unrat, der überall herumlag. Ein Fest für die Ratten.
«Der Gestank ist abscheulich», beklagte sie sich. «Ich werde hier kein Auge zumachen.» Sie überließ es Hahn, den Karren zu entladen. Energisch nahm sie Lutz an der Hand und durchquerte mit ihm die Stube. Wenige Augenblicke später hörte Hahn ihren Schrei.
Erschrocken ließ er das Bündel fallen, das er soeben zu den Decken hatte legen wollen, und stürzte auf die Tür...
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