Schweitzer Fachinformationen
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Die junge Berlinerin Nelly verschlägt es in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in einen holländischen Küstenort. Dort soll sie die Pflichten des alten Leuchtturmwärters übernehmen, der in einer stürmischen Nacht verschwand. Keine leichte Aufgabe für ein Großstadtkind wie Nelly, die keine Ahnung von den Gezeiten oder Schiffsverkehr hat. Von den Dorfbewohnern erfährt sie keine Unterstützung, diese begegnen der jungen Deutschen mit Feindseligkeit. Als Nelly einen abgestürzten britischen Piloten im Turm versteckt und sich in ihn verliebt, gerät sie zwischen die Fronten des Widerstands und einer brutalen Besatzungsmacht. Nelly weiß: Ihr Mut ist gefährlich - denn auf Hochverrat steht die Todesstrafe.
Berlin, im Herbst 1943
Normalerweise nahm sich Nelly viel Zeit, wenn sie um eine Porträtaufnahme gebeten wurde. Ihr alter Ausbilder hatte ihr eingeschärft: »Gott hat sechs Tage gehabt, um die Erde zu erschaffen. Die perfekte Fotografie bekommst du in sechs Minuten. Vorausgesetzt, du hast gute Vorarbeit geleistet.« Nelly erinnerte sich gern an diesen Rat und arbeitete hart, um ihren Aufnahmen das spezielle Etwas zu verleihen. Längst hatte es sich bis weit über Berlin-Mitte hinaus herumgesprochen, dass in diesem schäbigen Hinterhofatelier eine Künstlerin hinter der Kamera stand. Dem alten Otto Kellermann, dem der Laden gehörte, konnte das nur recht sein. Seit Beginn des Krieges waren seine Auftragsbücher voll. Die Kundschaft bestand vornehmlich aus Familien oder jungen Paaren, von denen der Mann seine Einberufung erhalten hatte und eine Erinnerung an seine Liebsten mit an die Front nehmen wollte. Kundschaft ohne Uniform sah man dagegen von Tag zu Tag seltener.
Nelly bemühte sich um professionelle Distanz zu den Menschen, die bei ihr eine Aufnahme bestellten. Doch es gelang ihr nicht immer, diese auch zu bewahren. Zu oft fing ihre Kamera die Angst in den Augen der Frauen ein, die in Sonntagskleidern vor ihrem Objektiv posierten. Ihre Schreckhaftigkeit, die sie bei jedem Geräusch zusammenzucken ließ, machte auch Nelly nervös. Trotz ihrer eigenen Probleme, und davon gab es eine Menge, verspürte sie Mitleid mit ihren Kundinnen. Wer konnte schon voraussagen, ob diese Porträtaufnahme nicht die letzte Erinnerung an den geliebten Mann oder Sohn sein würde? Die Männer in Uniform machten meist gute Miene zum bösen Spiel. Sie gaben sich gelassen, betont männlich und selbstbewusst. Im Atelier scherzten sie mit ihren Kindern und gaben ihr Bestes, um die Situation aufzulockern. Nelly ließ sie gewähren, ja, sie ging sogar auf die Späße ein, doch ihre Kunden konnten ihr nichts vormachen. Sie hatte lange genug mit der Kamera das Wesen des Menschen studiert, um zu erkennen, was in ihnen vorging. Hin und wieder, jedoch sehr selten, ließ der eine oder andere eine Bemerkung fallen, die in diesen Zeiten gefährlich sein konnte, aber Nelly war so klug, nicht darauf einzugehen. Die Wände hatten Ohren, und obwohl Kellermann seit den letzten Bombennächten zumeist so sturzbetrunken war, dass er Nelly mit der ganzen Arbeit im Atelier allein sitzen ließ, konnte man nie wissen, ob er nicht gerade im falschen Moment auftauchte und etwas aufschnappte, was er dann im Beisein anderer wieder ausplauderte.
Nachdem die letzten Porträtaufnahmen des Tages im Kasten waren, hatte Nelly es eilig, den Laden abzuschließen. Sie musste in die Dunkelkammer. »Ich bin heute spät dran. Kannst du noch fegen, bevor du gehst?«, rief sie Ulf zu, der hinter dem Verkaufstisch hockte und in einem Filmmagazin blätterte. Das Atelier war nicht besonders groß. Es bestand aus einem schmalen Raum mit niedriger Decke und weiß gekalkten Wänden, die voller Fotografien hingen. Hinter einem Vorhang standen zwei wuchtige Plüschsessel und ein Kanapee mit knallrotem Polster, das früher einmal zum Fundus eines Theaters gehört hatte. In einer Ecke standen aufgerollte Leinwände, hauptsächlich mit Landschaftsmotiven, die als Hintergrundbilder für Aufnahmen herhielten. Der Dielenboden war alt und knarzte bei jedem Schritt.
»Und kümmere dich bitte um die Verdunkelung vor dem Schaufenster! Wir wurden schon zweimal verwarnt, weil die Abdeckung angeblich Licht durchgelassen hat.« Als der Lehrling nicht antwortete, wurde ihr Ton etwas schärfer. »Ulf! Ich rede mit dir! Sitzt du auf den Ohren?«
Der Junge blickte mit großem Unwillen von seiner Lektüre auf und beäugte Nelly durch die Gläser seiner Hornbrille, als wäre sie ein lästiges Insekt. Als Neffe des Atelierbesitzers fühlte er sich trotz seiner siebzehn Jahre über jede Kritik erhaben und liebte es, den Chef zu spielen, wenn er mit Nelly allein im Laden war. Mit den weizenblonden Locken, den blauen Augen und dem blassen Gesicht sah Ulf aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Doch der Schein trog. In den letzten Monaten hatte Nelly den Burschen von einer Seite kennengelernt, die ihr nicht gefiel: Nicht nur, dass er oft zu spät zur Arbeit kam oder die Mittagspause überzog - nein, er ließ sich von Nelly nur etwas sagen, wenn sein Onkel zugegen war. Seit Fotograf Kellermann jedoch immer öfter Nelly das Tagesgeschäft überließ, war Ulfs Benehmen unerträglich geworden. Nelly hatte sich bereits ein paarmal vorgenommen, mit dem Chef über Ulf zu reden, es aber immer wieder hinausgeschoben. Immerhin gehörte der Lehrling zu Kellermanns Familie, während sie froh sein konnte, dass der Fotograf ihr diese Stelle gegeben hatte. Nelly verdiente nicht viel, aber genug, um ihre Eltern nicht um Geld bitten zu müssen. So kam sie gerade über die Runden und konnte das tun, was sie am meisten liebte: fotografieren.
Ulf blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Schau an, es ist noch nicht mal sieben Uhr, und das fleißige Fräulein Vogel macht Feierabend«, sagte er frech. »Na, ich muss schon sagen, das hätte ich von Ihnen gar nicht erwartet.«
»Von Feierabend kann keine Rede sein!« Empört stemmte Nelly die Hände in die Taille. »Wir haben so viele Bilder zu entwickeln, dass ich vermutlich bis in die Nacht hinein in der Dunkelkammer stehen werde. Die Leute wollen ihre Abzüge so schnell wie möglich. Viele müssen schon bald an die Front zurück und rechnen fest damit, dass ihre Bilder vorher fertig werden. Wahrscheinlich muss ich sogar hier übernachten, weil ich es vor der Ausgangssperre nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffe.«
Ulf sah sie durch seine dicken Brillengläser abschätzig an. Seine Miene ließ erkennen, dass er ihr nicht glaubte. »Ich frage mich, ob das der einzige Grund ist, warum Sie so erpicht darauf sind, nachts im Laden zu bleiben«, sagte er. »So ganz allein und unbeobachtet. Sie glauben wohl, Sie könnten meinen Onkel und mich hinters Licht führen, nur weil Sie früher eine große Nummer in Berlin waren und für die Zeitung fotografiert haben. Aber wenn Sie so gut waren, wie alle behaupten, verstehe ich nicht, warum Sie gefeuert wurden und in dieser Klitsche hier unterkriechen mussten. War wohl was Politisches, he?«
Nelly musste sich sehr beherrschen, den frechen Bengel für seine Unverschämtheit nicht zu ohrfeigen. Woher wusste er überhaupt von ihrer früheren Tätigkeit als Pressefotografin? Damit war doch schon seit Jahren Schluss. Nelly hatte nie ein Wort darüber verloren und den alten Kellermann geradezu angefleht, niemandem davon zu erzählen. Aber in vielerlei Hinsicht war selbst eine Stadt wie Berlin ein Dorf, und oft sickerte gerade das durch, was man zu verheimlichen suchte. Wütend schnappte sich Nelly ihren grauen Arbeitskittel, verschwand in der winzigen Dunkelkammer und warf die Tür hinter sich zu. Dann schaltete sie das Rotlicht ein, stützte sich mit beiden Armen auf die Arbeitsfläche und atmete erst einmal tief durch. Es war lächerlich, sich wegen eines Halbwüchsigen aufzuregen. Seit Kriegsbeginn witterten viele Menschen hinter jedem Baum einen Spion oder einen Landesverräter. Mit jeder Bombe, die auf Berlin fiel, griff diese Hysterie stärker um sich. Nelly musste das eben Geschehene vergessen, denn was sie nun zu tun hatte, war viel wichtiger und erforderte äußerste Konzentration. Sie wartete noch ein Weilchen, und erst als sie sicher war, dass Ulf gegangen war, nahm sie einen kleinen Schraubenzieher, ließ sich auf dem Fußboden nieder und löste vorsichtig eines der Dielenbretter. Darunter war ein Hohlraum, ein kleines Versteck, in dem einige Filmrollen auf sie warteten. Ihr Herz raste, als sie die Rollen eine nach der anderen herausholte und auf die Arbeitsplatte legte. Die Aufnahmen, die sie heute Nacht entwickeln würde, zeigten weder Wehrmachtssoldaten noch herausgeputzte junge Mädchen, die melancholisch in die Kamera lächelten. Und sie waren auch nicht im Atelier entstanden.
Die Aufnahmen waren gefährlich. Entdeckte man sie bei ihr, konnte das Nelly vor den Volksgerichtshof bringen. Oder in eines der fürchterlichen Lager, aus denen es keinen Weg mehr zurück gab. Nelly dachte an ihre gut situierten Eltern, und wie schockiert diese wären, wenn sie wüssten, was sie nachts allein in Kellermanns Atelier trieb. Vermutlich würden die beiden sie für wahnsinnig halten. Immer noch zögernd starrte sie auf die Filmrollen, als wüchsen denen plötzlich Klauen und Zähne. Auf ihrer Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen, was nicht allein an der Enge und der trockenen Wärme in dem kleinen Kabuff lag. War da draußen nicht ein Geräusch gewesen? Nein, vermutlich spielten ihr die Nerven einen Streich. Und wenn sie die Filme einfach loswurde? Noch war Zeit, sie verschwinden zu lassen. Niemand konnte ihr einen Vorwurf machen, wenn sie einen Rückzieher machte. Am wenigsten Paul. Dazu hatte er kein Recht, denn immerhin war sie es, die in Berlin ausharrte, während er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Aus sicherer Entfernung war es leicht, den Helden zu spielen. Dabei riskierte man nicht, getötet zu werden. Waren die Negative erst einmal zerstört, würde ihr kein Mensch jemals auf die Schliche kommen. Verdammt noch mal, wer dankte es ihr schon, wenn sie ihr Leben für Wahrheiten aufs Spiel setzte, die keiner hören wollte!
Es tat gut, sich ihren Zweifeln hinzugeben, doch am Ende schluckte Nelly sie alle runter. Sie durfte nicht schwach werden. Was sie vorhatte, war eine Gewissensfrage, mit Paul hatte das nichts zu tun. Sie fand, dass die Welt endlich erfahren musste, was hier tagtäglich vor sich ging. Sie würde jemanden finden, der die Bilder in Umlauf brachte.
Hastig machte sie sich ans...
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