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Mainz, im März 1432
«Mörderin!»
Dumpf hallte die Anklage von den Wänden der Kammer wider, die Martin Herrlinger, Zunftmeister der Färber von Mainz, mit seiner jungen Gemahlin teilte. Das Echo verhallte im Brausen des Sturmwinds, der um die Giebel der Häuser heulte und Mensch wie Vieh in Unruhe versetzte.
Magdalena fuhr auf und starrte benommen in das dämmrige Licht, das sie wie ein Netz aus düsteren Ahnungen umgab. Sie brauchte eine Weile, bis ihr einfiel, wo sie sich befand. Sie war allein. Das Laken auf der linken Seite ihres Ehebettes war straff gespannt und kalt wie Eis.
Unberührt.
Stöhnend versuchte sie, sich aufzurichten. Hatte sie geträumt? Wenn ja, dann war es ein fürchterlicher Albtraum gewesen, einer jener Träume, deren Bilder so glaubhaft und nah waren, dass man auch eine ganze Weile nach dem Erwachen noch nicht wagte, sie anzuzweifeln. Sie hatte Martin gesehen, ihren Mann. Im Traum hatte er an einem Balken gehangen, den Kopf nach unten, und sie mit starren Augen angeblickt.
Wenige Spannen über ihrem Kopf bewegten sich die moosgrünen Bettvorhänge, das Tuch sperrte die Kälte der regnerischen Frühjahrsnacht nur notdürftig aus. Magdalenas Mund war trocken, doch sie verspürte weder Hunger noch Durst. Wie eine eisige Flüssigkeit durchdrang der Frost der Nacht ihren Körper. Sie war bloß mit einem dünnen Schnürgewand bekleidet und fror so erbärmlich, dass ihre Zähne zu klappern begannen.
Von der mit Schnitzereien reichverzierten Kleidertruhe sandte die Lampe ihren Schein herüber. Die müden Flämmchen reichten nicht einmal aus, um die Schatten vor der Fensterluke zu vertreiben; dafür beleuchteten sie die zackigen, vom Hausschwamm unterlaufenen Risse, die sich ins Mauerwerk gefressen hatten. Martin hatte sie schon vor Tagen ausbessern wollen. Er war sehr gewissenhaft in allem, was das Handwerk betraf, und obwohl Magdalena vermutete, dass ihr Gemahl es kaum abwarten konnte, bis er mit ihr und dem Gesinde das alte Haus verlassen und auf den größeren Hof umziehen konnte, hielt er die Wohnräume und Vorratsspeicher an der großen Bleiche vorbildlich in Schuss. Seine Diener hatten hier oben nichts zu suchen. Er war der Herr des Hauses; seine Schlüssel vertraute er nicht einmal Magdalena an.
Als Magdalena den Kopf zur Fußseite des Alkovens wendete, entdeckte sie ein Tragebrett, das jemand nachlässig gegen die Wand gelehnt hatte. Das Holz trug dunkle Flecken, es roch scharf nach Moder, feuchter Erde und gewissen Substanzen, die Martin in seiner Tuchfärberei verwendete. Erschöpft ließ sich Magdalena wieder in die Kissen gleiten.
Was hatte die Bahre hier oben verloren?
Was, bei allen Heiligen, mochte ihr zugestoßen sein? Bei dem Gedanken packte sie Entsetzen. Sie tastete Brust, Hüften und Oberschenkel ab und stellte erleichtert fest, dass sie noch immer Strümpfe trug. Wer auch immer sie während ihrer Ohnmacht hinauf in die Kammer getragen hatte, war wieder verschwunden, ohne ihre Hilflosigkeit auszunutzen.
Aber wo blieb Martin? Warum ließ er sie allein in einem Haus, in dem jedermann sie verachtete? Er wusste doch, wie ungern sie hier oben allein zu Bett ging.
Auf dem Gang vor ihrer Kammer hörte sie Flüstern, doch sie vermochte keiner der Stimmen ein Gesicht zu geben. Sie lauschte angestrengt, und eine böse Ahnung stieg in ihr auf.
«Wie könnt ihr noch an meinen Worten zweifeln?», zischte einer der Unbekannten aufgebracht. «Ganz bestimmt hat sie etwas mit seinem Tod zu tun. Mit ihrem Blick hat sie ihn zum Bösen verführt, bis ihm kein anderer Ausweg mehr blieb!»
Ihm. Wer war ihm?
«Ich habe trotzdem keine Ahnung, warum du uns gerufen hast», widersprach zaghaft eine dunkle Männerstimme. Selbst durch das Holz der Tür klang sie ängstlich, als fürchtete der Mann, selbst beschimpft oder angeklagt zu werden.
«Dies ist kein Fall für das Schöffengericht. Vernünftiger wäre es, nach einem Wundarzt oder einem Baderchirurgen zu schicken, der sich auf die Leichenbeschau versteht.»
«Nun gut, dann wartet aber wenigstens unten in der Stube, bis ich den Wundarzt verständigt habe. Der versteht sich auf Todeszeichen. Einer von euch sollte die Tür zur Kammer im Auge behalten. Der Satansbraten darf uns nicht entwischen.»
Satansbraten. Wer? Sie?
Magdalena geriet in Panik. Man verdächtigte sie eines teuflischen Verbrechens. Aber warum? Welcher Wahnsinn mochte die Leute gepackt haben? War sie denn nicht mehr die Herrin des Hauses?
Draußen stürmte und regnete es zum Gotterbarmen. Geräuschvoll prasselten die Tropfen gegen das schmale Vordach, das sich zur Hofseite hin erhob. Unter dem Dach standen Karren, mit denen Martins Gesellen gefärbte Tuche zu den Lagergewölben der Kaufleute am Domplatz zogen. Auch Butterfässer, Honig- und Ölkrüge wurden dort verwahrt. Die Pferde- und Ziegenställe befanden sich jenseits der Hofmauer.
Kein kluger Mensch verließ sein Haus in einer derart schaurigen Sturmnacht, wenn ihn nicht ein guter Grund antrieb. Magdalena musste einen solchen gehabt haben, ihr Haar war noch immer feucht. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie vermochte sich einfach nicht daran zu erinnern, weshalb sie ohne Haube und Umhang hinaus in die Gasse gestürzt sein sollte.
Als Magdalena ihre Finger betrachtete, bemerkte sie eine Anzahl hässlicher Schrammen und Schürfwunden. Getrocknetes Blut befand sich selbst auf den Ärmeln ihres Gewandes und auf dem Laken. Die Flecken sahen aus wie Blütenblätter in frischgefallenem Schnee. «Heilige Jungfrau Maria», betete sie leise, «lass Martin nach Hause kommen. Er wird die Leute fortschicken und mir beistehen, so wie er es vom ersten Tag unserer Ehe an getan hat. Verleih mir die nötige Kraft, um .» Die Worte erstarben auf ihren Lippen, als plötzlich dunkel eine schreckliche Erinnerung aufflackerte. Es waren nicht mehr als Bruchstücke, zu vage, um einen Sinn zu ergeben. Doch immerhin entsann sie sich nun, das Haus etwa um die neunte Stunde verlassen zu haben. Der Regen hatte kurz zuvor eingesetzt. Einer von Martins Lehrjungen war in die Stube gekommen und hatte sie gebeten, ihn in die Stadt zu begleiten.
Martin hat nach mir gefragt, durchfuhr es sie. Natürlich, so war es gewesen. Er hatte noch auf der Baustelle zu tun gehabt, irgendwelche Geschäfte mit auswärtigen Kaufleuten. Er hatte ihr auftragen lassen, etwas dorthin zu bringen. Anscheinend hatte es sehr geeilt. Aber was hatte er zu dieser Stunde so dringend gebraucht, und warum hatte der Junge es ihm nicht selbst bringen können?
Ich muss mich erinnern, ich muss, ich muss . Doch es war zwecklos. Je verzweifelter sie sich zu erinnern versuchte, desto mehr verschwammen die Bilder. Den Rest der Nacht verschluckte ein dichter Nebel, der sich nicht lichten wollte.
Ich muss ihn suchen gehen. Entschlossen zog sich Magdalena an dem geschnitzten Bettpfosten empor. Martin würde dem Spuk ein Ende machen. Sie hoffte nur, das Haus verlassen zu können, ohne den Männern, die unten auf den Wundarzt warteten, in die Arme zu laufen. Mit einem leisen Stöhnen stützte sie sich auf die Ellbogen, dann hielt sie plötzlich inne. Ungläubig blickte sie auf ihre Beine. Heilige Mutter Gottes, sie gehorchten ihr nicht mehr, schienen zu Fremdkörpern geworden zu sein. Taub waren sie. Kalt und steif. Magdalena krümmte sich, weil sie fürchtete, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen.
Mit einem energischen Ruck wurde die Tür aufgestoßen, und eine Frau trat in die Kammer. Drei Männer folgten ihr. Magdalena erkannte Basilius Fust, den städtischen Wundarzt, mit dem sich ihr Mann von Zeit zu Zeit in einer Schenke am Rhein auf einige Becher Wein traf. Der Arzt trug enganliegende, zitronengelbe Beinkleider und einen pelzverbrämten Mantel, der im Regen feucht geworden war.
«Dort liegt sie», rief die Frau. «Nun seht Ihr, dass ich Euch die Wahrheit gesagt habe.» Sie stellte ihre Kerze auf einem Schemel ab und betrachtete Magdalena hasserfüllt. Es war Annegret, Martins ältere Schwester. «Schaut Euch das Weib an, damit Ihr später vor den Schöffen beschwören könnt, wie Ihr sie angetroffen habt: Das Kleid besteht nur noch aus Fetzen, die Hände sind blutig, die Stirn ist zerkratzt, ebenso wie bei dem armen Martin. Und dann dieser wahnsinnige Ausdruck in ihren Augen. Wie die Buhlschaft eines Höllenteufels sieht sie aus. Ich habe meinen Bruder immer wieder vor ihr gewarnt, doch nun ist es zu spät.»
Der Arzt räusperte sich; sein Gesicht verriet, dass er Angst hatte. «Wir sollten nicht voreilig handeln, Frau Annegret. Immerhin ist Martin ein geachteter Zunftmeister und Ratsherr, außerdem ist er mein ältester Freund.»
«Solltet Ihr dann nicht wissen, was Ihr ihm schuldig seid?» Magdalenas Schwägerin sah den Arzt feindselig an. Sie war eine unscheinbare Frau, deren Gesicht die graue Farbe ihrer Kleidung angenommen hatte. Am Gürtelband ihrer Witwentracht klapperten einige Schlüssel. Magdalena erkannte das Geräusch auf Anhieb. Diese Schlüssel gehörten Martin.
Magdalena stöhnte leise. «Was geschieht hier? Annegret, was haben die Männer in meinem Haus zu schaffen?»
«In deinem Haus? Ich lasse dich vor die Tür setzen!» Magdalenas Schwägerin drehte sich zu den ratlos wirkenden Männern um. «Ihr seht, dass ich nicht übertrieben habe. Ihr Haar ist nass wie das Fell einer ersoffenen Katze. Und auf der Stirn trägt sie ein Mal, das ihr mein armer Bruder in seinem Todeskampf beigebracht hat.»
«Was redest du da von einem Todeskampf?», stieß Magdalena hervor.
«Martin liegt mit eingeschlagenem Schädel unten in der Werkstatt! Pater Edmund ist bei ihm, aber er kam zu spät, um ihm die Ölung zu spenden. Auch das ist deine Schuld, du dahergelaufene Hure. Warum hast du ihm das...
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