Katja Winkler
Die säkulare Option und der Rückgang traditionaler Religiosität bei Jugendlichen
Glaubensweitergabe in Familien im Kontext säkularisierter Gesellschaften
In diesem Beitrag werden vorliegende Daten zum Wandel der Religiosität Jugendlicher in den verzweigt und kontrovers geführten Diskurs um die Säkularisierung eingeordnet. Im Zentrum steht dabei die Familie als Ort der Sozialisation. Eine große internationale Studie untersucht gegenwärtig Veränderungen in der Weitergabe des Glaubens und religiöser Praxis in Familien. Ob die Entwicklungen eher im Sinne eines "Religionsverlusts" (Gert Pickel) oder eher im Sinne einer "Religionsproduktivität" (Charles Taylor) interpretiert werden sollten, bleibt aber umstritten. Die Autorin sieht keine der beiden Thesen durch die Familienstudie vollständig bestätigt und schlägt eine Interpretation der Daten "zwischen Überforderung und Authentizität" vor. (Redaktion)
Jugend vollzieht sich häufig in familialen Lebensformen und Religion vollzieht sich zu einem nicht unerheblichen Teil in Familien. Im Folgenden soll es um Familienreligiosität, die Teil der Lebenswelt von Jugendlichen ist, im Kontext von säkularisierten Gesellschaften gehen. Der Säkularisierungsbegriff ist bekanntlich hoch umstritten.1 Im Folgenden soll zunächst einmal darunter verstanden werden, dass in westeuropäischen Ländern (auch in Österreich) die institutionalisierte Religion, also die traditionelle christliche Kirchlichkeit, abnimmt. Dies zeigt sich in steigenden Kirchenaustrittszahlen und dem Rückgang traditionsgebundener religiöser Praktiken. Die Familie gilt, neben der Kirche selbst, als Institution, die relevant für die Reproduktion von Religiosität ist. In familialen Lebensformen wird Glaube praktiziert und reflektiert und hier entwickeln sich Kirchenbindungen. Die Familie ist also ein zentraler Ort der Weitergabe des Glaubens und somit auch ein relevanter Faktor in Säkularisierungsprozessen. Im Folgenden soll auf gegenwärtige Formen der Familienreligiosität eingegangen und die Frage gestellt werden, ob und inwiefern Familienreligiosität zum Rückgang der Religiosität von Jugendlichen beiträgt oder vielmehr nach wie vor oder in veränderter Form religionsproduktiv wirkt. Zunächst wird die These von Gert Pickel vorgestellt, der den Befund, dass familienreligiöse Dynamiken zum Verlust von institutioneller Kirchlichkeit bei Jugendlichen beitragen, als Reduktion von Religiosität deutet und in eine Säkularisierungstheorie des Relevanzverlusts von Religion einordnet. In Anlehnung an die Säkularisierungstheorie von Charles Taylor soll anschließend die gegenläufige These, dass Familie insbesondere für die Religiosität von Jugendlichen ein religionsproduktiver Raum ist, der neue Arten von Religiosiät hervorbringen kann, vorgestellt werden. Diese These der Religionsproduktivität säkularer Gesellschaften lehnt sich an die religionssoziologischen Debatten um Individualisierung, Subjektivierung und Pluralisierung an. Religiosität wird in prekären säkularen Kontexten, in denen es neben der Möglichkeit zu glauben auch andere Optionen gibt, zur (Lebens-) Aufgabe religiöser Personen. Abschließend werden die qualitativen empirischen Forschungsergebnisse von Christel Gärtner zur katholischen Familienreligiosität vorgestellt, die die Opposition der beiden erstgenannten Thesen etwas relativieren und auf Möglichkeiten hinweisen, wie die Kirche mit dem Wandel der Familienreligiosität und der Religiosität von Jugendlichen umgehen kann.
1. Familienreligiosität und Religionsverlust
Wenn ein soziales Gefüge die Kriterien Generationendifferenzierung sowie Kooperations- und Solidaritätsverhältnis erfüllt, kann von Familie gesprochen werden.2 Für die Frage, inwiefern Familienreligiosität zur Säkularisierung beiträgt, sind die Aspekte emotionale Bindung innerhalb der Familie und Pluralisierung der Familienformen ebenso zu beachten, wie die Tatsache, dass Familie eine gesellschaftliche Institution ist. Das heißt, Familie ist eine Struktur, ein stabiles Muster, das die Art und Weise menschlichen Zusammenlebens formt und durch die Veränderungen von existierenden Leitbildern, Werten und Normen, Regeln und Handlungsmustern beeinflusst wird. Familien erfüllen Funktionen wie die materielle Versorgung ihrer Mitglieder, die Erziehung von Kindern und die Pflege älterer Familienangehöriger, von denen die Gesellschaft als Ganzes profitiert. Die Weitergabe von weltanschaulichen Inhalten, von Sinnressourcen und Werten gilt ebenfalls als eine soziale Funktion der Familie. Hierunter können auch religiöse Inhalte fallen: "Religion, Glaube und Werte werden primär durch Interaktionen in der familialen Sozialisation weitergegeben [.] und der religiöse Wandel ist in die Abfolge der Generationen eingebettet."3 Ein komplexes Wechselspiel familiärer, kirchlicher und gesellschaftlicher Bedingungen ist für die Weitergabe des Glaubens entscheidend.4
Die glaubensvermittelnde Funktion der Familie scheint allerdings aktuell prekär zu sein. Analysen des gegenwärtigen Familienlebens zeigen, dass dieses mit einer Abkehr von explizit konfessionell-religiösen Lebensmodellen und einer strukturellen Entfremdung von kirchlicher oder kirchenbezogener Religiosität einher gehen kann und die Weitergabe des traditionellen Glaubens somit abzubrechen droht. Dies hat insbesondere Konsequenzen für die Religiosität von Kindern und Jugendlichen, für die der Kontakt zur Kirche grundsätzlich seltener wird und - wenn er noch stattfindet - häufig kaum mehr sinnvoll erlebt wird. Während die Großeltern in der Regel noch in recht großer Zahl überzeugte kirchenbezogene Christ:innen und Kirchgänger:innen waren, hat das Christentum, das mit einer bestimmten Form der Kirchlichkeit einhergeht, für den Lebensalltag der Enkel:innen nur noch eine nachrangige oder sogar keinerlei Relevanz mehr.5 Die institutionalisierte Religion mit ihren "klar definierten und auch normierten Teilnahme- und Verhaltensregularien" hat an Bedeutung offensichtlich verloren, so der Religionssoziologe Gert Pickel: "Dass sich diese Prozesse beziehungsweise dieser unverkennbare Abbruch von institutioneller Bezogenheit von Religiosität innerhalb weniger Generationen derart durchgreifend ereignet hat, ist beachtlich."6 Ausgangpunkt seiner Überlegungen ist, dass ein Wandel der Werte7, natürlich auch der religiösen, maßgeblich über den Generationenwandel stattfindet und diese Prozesse in der Regel Verhaltensänderungen nach sich ziehen - insbesondere bei der dritten Generation, also den Jugendlichen. Mit Blick auf die Veränderungen der Religiosität von Jugendlichen macht Pickel zwei entscheidenden Gründe dafür aus, dass traditionale Religion in Familien an Relevanz verliert.
Als ersten Grund führt er einen Wandel der Erziehungsideale an, der sich folgendermaßen beschreiben lässt: "In den 1960er Jahren hat das noch dominierende Erziehungsziel 'Gehorsam' recht schnell massiv an Bedeutung verloren. Der Rückgang des Erziehungsziels 'religiöser Glaube' verlief langsamer, dafür aber von einem niedrigen Niveau kommend sehr konstant. Die zeitliche Vergleichsbetrachtung der von Menschen selbst als wichtig angesehenen Erziehungsziele belegt einen deutlichen Anstieg von 'Unabhängigkeit' und 'Selbstverwirklichung'."8 Als zweiten Grund nennt Pickel komplexe Lernprozesse innerhalb der Familien, die alle Familienmitglieder, nicht nur die Kinder und Jugendlichen, betreffen. Damit ist Folgendes gemeint: "Familienreligiosität ist offensichtlich komplexer angelegt als im Sinne einer 'Weitergabe' von Überzeugungen und Praktiken: Weitervermitteln ist also offensichtlich kein einseitiger Prozess des Lernens von Kindern und Jugendlichen und des Lehrens von Erwachsenen, also etwa Eltern, sondern wird im vorliegenden gesellschaftlichen Kontext zu einem komplexen Austauschprozess und betrifft dabei auch nicht nur existentielle Fragen, in denen Religion eine Bedeutung spielt."9 Daher ist die Entwicklung des religiösen Familienlebens nicht allein mit Blick auf die Sozialisationsprozesse von Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen, sondern im erweiterten Sinne eines Familienlernens, welches alle Familienangehörigen miteinschließt.
Mit Blick auf diese beiden Entwicklungen lautet Pickels These: "Der durch gesellschaftliche Rahmenfaktoren begünstigte, wenn nicht bedingte Wertewandel hin zur Selbstverwirklichung kollidiert mit den vormals leitenden Wertekonzepten des religiösen Diskurses beziehungsweise der sozialisationsmäßigen Weitergabe von Religion und trägt so zu einem bereits innerfamilial angelegten Verschwinden von Religion bei."10 Autonomie und Selbstverwirklichung stellen zwar nachvollziehbare Erziehungsziele dar, jedoch ergibt sich daraus auch eine Option zu areligiöser Lebensgestaltung....