Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zur selben Zeit, als Freud diese Worte schrieb, widmete sich ein Mann in Dresden ganz allein einer sehr ähnlichen Arbeit, die er 1933, als Hitler an die Macht kam, begonnen hatte - ein Akt der Beharrlichkeit, des leisen Widerstandes und des Blicks auf Symptome, um etwas von der »historischen Wahrheit« des Augenblicks ans Licht zu bringen. Dieser Mann war Victor Klemperer. Er war weder Psychoanalytiker noch Philosoph, sondern schlicht (aber das ist freilich schlecht ausgedrückt) Philologe. Intellektuell stand er anderen Romanisten nahe wie etwa Karl Vossler, Ernst Robert Curtius oder Leo Spitzer; schon vor dem Krieg galt er als anerkannter Spezialist für die französische Literatur der Aufklärung.[21] Die außergewöhnlichen Umstände - und Schwierigkeiten - in seinem Leben führten dazu, dass seine Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert erst sehr viel später, nämlich in den 50er und 60er Jahren, veröffentlicht wurde.[22]
Vom Hitler-Regime verfolgt, brachte es Klemperer niemals fertig, seine Emigration zu planen - ja noch nicht einmal, sie wirklich anzustreben. Da er mit einer Protestantin verheiratet war, glaubte er sicherlich eine Zeit lang, dies würde ihn schützen; anschließend war es zu spät, um aus seiner schönen Stadt Dresden zu fliehen, sie wurde ihm zur Hölle. Wie dem auch sei; zunächst auf sein Zuhause beschränkt, dann in ein sogenanntes »Judenhaus«[23] verbannt - die vorbereitende Etappe für eine »Umsiedlung« nach Theresienstadt und Auschwitz -, hörte er als Philologe, der all seiner gelehrten Bücher beraubt war, niemals auf, seine Zeit und seinen Raum im politischen, sozialen, journalistischen, alltäglichen und phantasmatischen Sinn aus der Perspektive seines eigenen Ausgegrenztseins zu lesen. Selbst in besonders schwierigen Zeiten, in denen er wie ein Sklave acht bis neun Stunden am Tag in einer Verpackungsfabrik arbeiten musste, unterließ er es niemals, ein heimliches Tagebuch zu führen, dessen circa fünftausend Blätter nach und nach abschnittsweise an eine »arische« Freundin gesandt und im Hohlraum einer Mauer versteckt wurden.
Aus diesem außergewöhnlichen Tagebuch ging 1947 das berühmteste Werk Victor Klemperers hervor: das LTI [Lingua Tertii Imperii - die Sprache des Dritten Reichs], untertitelt: Notizbuch eines Philologen.[24] Nach Jahren des Nichtbeachtetwerdens - wie dies auch das Schicksal anderer wichtiger Zeugnisse aus dieser Zeit war - erlangte Klemperers Buch den Rang eines unersetzlichen Dokuments und gleichzeitig eines historischen wie philologischen »Denkmals«, das detailliert die Struktur der Nazi-Sprache beschreibt. Es ist durchaus bedauerlich, dass Jean-Pierre Faye in seinen berühmten Büchern zu diesem Thema den Analysen Klemperers nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die sie verdient hätten, obwohl die Untersuchung von »Bedeutungsänderungen«, die Worte erfuhren, oder gängiger Begriffe wie beispielsweise Volk das LTI zum unmittelbaren Vorgänger aller Semiologie totalitärer Sprachen im Allgemeinen macht.[25] Wahrscheinlich dürfte das Unsystematische von Klemperers Text, in dem die theoretischen Anmerkungen nur inmitten von konkreten, wenn nicht sogar intimen Schilderungen auftauchen, verhindert haben, dass, zumal in Zeiten des Strukturalismus, die Tiefe seiner Analyse die angemessene Anerkennung fand.
Klemperer betrachtete sich in erster Linie als einen Kliniker der Sprache: einen Beobachter von Symptomen. Diesen Scharfsinn hat man mittlerweile voll und ganz gewürdigt, und das ist nur gerecht. Seine Pionierleistung bei der Analyse totalitärer Sprachen ist seither allgemein anerkannt.[26] Aber man tat dies allzu häufig um den Preis, dass man seine Beobachtungen zur Affektivität der Sprache, also zur darin zum Ausdruck kommenden emotionalen Spaltung, überging. Man tat dies auch, indem man vor seiner eigenen emotionalen Sprache zurückwich: als dürfe der Beobachter einer totalitären Sprache - die selbst mit brutalen, tyrannischen, kein Dennoch zulassenden Affekten überladen ist - in seinem eigenen Schreiben keinerlei Pathos einfließen lassen; als habe er all seine Emotionen von seinem Denken isolieren müssen, damit dieses ein Mindestmaß an Seriosität aufweise. Es ist verblüffend, dass W. G. Sebald in seinem Essay von 1999 über Luftkrieg und Literatur in der Sprache Klemperers nichts anderes sah als einen Stil, der »innerhalb der von der sprachlichen Konvention gezogenen Grenzen« verbleibe: nichts also, was, ihm zufolge, direkten Bezug zu der geschichtlichen Erfahrung der Gewalt habe und in seinen Augen sogar »Zweifel [.] an der Authentizität der [darin] aufgehobenen Erfahrung« aufkommen lasse.[27]
Éric Hazan, Autor eines Aufsatzes über den zeitgenössischen Neusprech - in Politik, Werbung und Ökonomie - fasste sein Lob auf das Modell von Klemperers Unterfangen in folgende Worte: »Trotz der Umstände, unter denen er schrieb, stößt man in diesem Buch nirgends auf Pathos.«[28] Laurence Kahn wird aus dem Vorwand, die gesamte Nazi-Sprache sei von mythischen und beschwörenden Regungen durchdrungen, den - aus philosophischer Sicht sehr klassischen - Schluss ziehen, man müsse »dem Pathos und seinem Verrat« entkommen, also »die Vortäuschung von Affekt« verringern, wenn man irgendwie auf die totalitäre Umklammerung reagieren oder sich ihr widersetzen wolle.[29] Kann man aber den isolierten Emotionen der totalitären Welt - die sich in dem von Hervé Mazurel analysierten »militärischen Enthusiasmus« abzeichneten, in der von Ute Frevert beschriebenen »Politik der Emotionen« umgesetzt wurden und schließlich in den von Richard Rechtman hinterfragten »Paroxysmen« der Völkermörder gipfelten - als einzigen Garanten eines freien und analytischen Geistes nichts anderes entgegensetzen als eine rein rationale Isolation aller Affekte?[30]
Gegen diese wenig dialektischen Dichotomien kann man schon die grundsätzliche Bemerkung Hannah Arendts ins Feld führen, die aus einem ihrer letzten Bücher, Macht und Gewalt stammt (einem Buch, dessen Analysen übrigens bei einer Vielzahl von Themen mit denen übereinstimmen, die schon Klemperer zur Sprache brachte): »Gefühlskälte ist kein Kennzeichen von Vernunft. >Objektivität und Gleichmut< angesichts unerträglichen Leidens können in der Tat mit Recht >Furcht< erregen, nämlich dann, wenn sie nicht Ausdruck der Selbstkontrolle sind, sondern die offenbare Manifestation der Unrührbarkeit. Um vernünftig reagieren zu können, muß man zunächst einmal ansprechbar sein, >bewegt< werden können; und das Gegenteil solcher Ansprechbarkeit des Gemüts ist nicht die sogenannte Vernunft, sondern entweder Gefühlskälte - gemeinhin ein pathologisches Phänomen - oder Sentimentalität, also eine Gefühlsperversion.«[31]
Man hat sich also, was den Stil Victor Klemperers anbetrifft, geirrt, indem man aus seiner analytischen Akribie, seinem Sinn für präzise Beschreibungen den fragwürdigen Schluss auf ein angebliches Fehlen von Emotionen zog. Martin Walser sprach 1996 in einer Laudatio zur Erinnerung an Victor Klemperer von einem Prinzip Genauigkeit,[32] einem sehr treffend gewählten Wort, da es eine dreifache Qualität entfaltet: eine epistemische (die Genauigkeit), eine ethische (die Rechtmäßigkeit), aber auch eine affektive, denn ein Instrument, das präzise sein soll wie etwa ein Seismograph, muss entsprechend sensibel sein: fähig, von den Umständen »affiziert« oder beeinflusst zu werden. Klemperer selbst hat in einem langen Aufsatz über die europäische Literatur, der 1929 in der Zeitschrift Logos erschien, James Joyce großes Lob gezollt, bei dem, so sagt er, das feinfühlige »Genie« und die »wissenschaftliche Exaktheit« stets miteinander Hand in Hand gingen - und all das mit einem außergewöhnlichen analytischen Sinn für die menschlichen Emotionen gepaart sei. Joyce' Kunst im Ulysses, schreibt Klemperer, komme daher, dass »in jedem Augenblick der gesamte Inhalt des Bewußtseins und Unterbewußtseins dieser Menschen [der Joyce'schen Figuren] ausgeschüttet wird, all ihre Ideen-Assoziationen, all ihr ganzes und halbes Erinnern, und dies, wie gesagt, mit der pedantischsten Konsequenz, mit der letzten wissenschaftlichen Exaktheit und Schamlosigkeit, [entsprechend] erhält man tatsächlich ein Gesamt- und Weltbild heutiger Geistigkeit [.]«.[33] Kurzum, es gibt nach Ansicht des Philologen - wie auch des Psychoanalytikers - einen historischen Wahrheitsgehalt gerade dort, wo die Schreibweise von einem aufmerksamen Blick auf die kleinsten Dinge zeugt, sofern diese keine bloßen Nichtigkeiten darstellen, sondern Symptome, in denen sich Emotionen wie auch deren Spaltungen sedimentieren.
Es besteht kein Zweifel, dass das LTI ein Buch von großer emotionaler Schamhaftigkeit ist. Gerade im Namen dieser Schamhaftigkeit erwies sich Klemperer nach dem Krieg als äußerst streng gegenüber den »sentimentalen Verschönerungen« einiger Berichte aus dem Ghetto, deren Schwäche in seinen Augen in der Verwendung romanhafter oder romantischer Stereotype bestand, eines »literarischen Schmucks« in den Formulierungen, die, so sagt er, »manchmal etwas angelesen und überaltert, manchmal ein bißchen geschmacklos klingen«.[34] Das LTI erweist sich hingegen als ein durchaus...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.