2. KAPITEL
Während der Abend voranschritt, überkam Eve bleierne Müdigkeit. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und geschlafen. Es muss dieses Kopfschmerzmittel sein! vermutete sie. Vielleicht hilft es ja, wenn ich ein wenig frische Luft schnappe. Wo steckt nur Beth? Ihr Blick schweifte durch den Raum, aber sie konnte ihre Freundin nirgends entdecken.
Eve ging durch den Salon hinaus auf die Terrasse. Dort legte sie die Hände auf die niedrige steinerne Brüstung und versuchte, tief und ruhig zu atmen. Es entging ihr völlig, dass sie nicht alleine war - und als sie schließlich die beiden ins Gespräch vertieften Gentlemen bemerkte, war es zu spät, um sich noch unauffällig zurückzuziehen. Es waren Lord Stainton und sein Freund Henry Channing.
"Ist Ihnen nicht wohl?", fragte Letzterer besorgt, als ihm auffiel, dass Eve Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.
Obgleich ihr entsetzlich elend war und sie das Gefühl hatte, der Boden unter ihren Füßen schwanke, bemerkte sie den verächtlichen Blick, mit dem Lord Stainton sie bedachte.
"Ich glaube, die Dame ist völlig betrunken, Henry." Und zu Eve gewandt, meinte er: "Sie werden morgen einen gehörigen Kater haben, Mrs. Brody."
"Wenn ich getrunken hätte, was allerdings nicht der Fall ist. Und selbst wenn, ginge Sie das nicht das Geringste an. Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?", wehrte sie sich.
"Ich könnte noch ganz andere Dinge zu Ihnen sagen, Mrs. Brody, aber das wäre pure Zeitverschwendung." Lord Stainton packte sie unsanft am Arm, als er sah, dass sie abermals schwankte. "Ich hole wohl besser Ihre Freunde, damit man Sie heimbringt, bevor es zu einem Eklat kommt."
Sprachlos starrte Eve ihn an. Sie wollte etwas sagen, brachte aber nur ein schwaches "Sie missverstehen ." hervor.
"Ich verstehe nur allzu gut." Er blickte demonstrativ auf den nassen Fleck auf ihrem Kleid.
"Sie impertinenter ." Ihre Beine versagten, als sie versuchte, sich von ihm loszumachen. Um sie her begann sich alles zu drehen. Sie schloss die Augen.
"Ich glaube, sie wird ohnmächtig", bemerkte Henry.
"Nein . nein . es geht schon .", stieß Eve hervor. Erneut machte sie Anstalten, sich loszumachen, und sank dabei beinahe zu Boden.
"Herrgott noch mal!" Lord Stainton konnte sie gerade noch festhalten. Kurz entschlossen hob er sie auf seine Arme und sah sich nach einer Bank um.
"Hol Mrs. Seagrove, Henry. Sie soll sofort herkommen und am besten ihr Riechfläschchen mitbringen. Aber sei um Himmels willen diskret, damit niemand etwas merkt. Es hätte mir gerade noch gefehlt, dass man mich mit einer bewusstlosen Frau in den Armen sieht. Wie ein Lauffeuer würde das durch ganz London gehen."
Während Henry davoneilte, trug Lord Stainton seine reglose Last zu einer Bank.
Plötzlich kam Eve wieder zu sich. Ihr ganzer Körper erstarrte, als sie begriff, dass Lord Stainton sie auf seinen Armen hielt. Brennende Scham durchflutete sie. Sie stemmte ihre Hände gegen seine breiten Schultern und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. "Wie können Sie es wagen .!", fuhr sie ihn an. "Lassen Sie mich sofort herunter!" Ihr Widerstand schürte allerdings Lord Staintons Zorn und Verachtung nur noch mehr.
"Halten Sie den Mund!", befahl er kurz angebunden und setzte sie nach ein paar Schritten unsanft auf einer der steinernen Bänke ab.
Eve wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sie bemerkte, dass Beth, gefolgt von Mr. Channing, eilig auf sie zustrebte.
"Beth!", rief sie aus. Noch nie in ihrem Leben war sie so erleichtert gewesen, ihre Freundin zu sehen.
"Um Gottes willen! Was ist denn passiert?" Besorgt beugte Beth sich über sie. "Haben sich deine Kopfschmerzen so verschlimmert?"
"Nein . nein, das ist es nicht. Würdest du diesem . diesem arroganten Menschen mit dem Benehmen eines Barbaren bitte erklären, dass ich einfach nur zu viel von deinem Kopfschmerzmittel genommen habe - und nicht, wie er mir unterstellt, betrunken bin?"
"Kopfschmerzmittel?", wiederholte Lord Stainton und hob die Brauen. Anstatt schuldbewusst seinen Fehler einzugestehen, amüsierte ihn das Ganze offenbar. "Sie neigen zu Kopfschmerzen, Mrs. Brody?"
"Ganz im Gegenteil", erwiderte Eve bissig. "Normalerweise erfreue ich mich bester Gesundheit. Leider hatte ich heute das Pech, Ihnen zu begegnen, was mein Wohlbefinden schlagartig beeinträchtigt hat."
"Tja, was bleibt mir da noch zu sagen?"
"Wie wäre es mit 'Entschuldigung'?" Eve funkelte ihn an.
"Nun gut. Dann bitte ich untertänigst um Verzeihung."
"Sie! Und untertänig! Da muss ich ja lachen!"
"Ich versichere Ihnen, Sie haben ein völlig falsches Bild von mir. Ich wollte Ihnen lediglich zu Hilfe eilen. Und das nicht zum ersten Mal", bemerkte er anzüglich.
"Und ich erinnere mich deutlich, Ihnen schon einmal erklärt zu haben, dass ich Ihrer Hilfe in keiner Weise bedarf." Angelegentlich wich Eve Beths Blick aus. Ihr war klar, dass sie später eine Menge zu erklären haben würde.
"Sind Sie sicher?" Ein süffisantes Lächeln umspielte Lord Staintons Mundwinkel. "Ich kann Ihnen gern meinen Arm anbieten, um Ihnen beim Aufstehen behilflich zu sein."
Wutentbrannt setzte Eve sich gerade. "Unterstehen Sie sich, mich anzufassen!"
Sie warf den Kopf in den Nacken, legte ihre Hand auf Beths Arm und sagte: "Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern nach Hause fahren. Ich muss mich unbedingt hinlegen, bevor ich mich vollends zum Gespött der Leute mache und in Lady Ellesmeres Salon einschlafe."
Beth unterdrückte ein Lächeln. "Das wäre wirklich äußerst unpassend, meine Liebe. Wir wollten sowieso bald gehen. Lass uns William suchen, und dann verabschieden wir uns von unserer Gastgeberin." Sie wandte sich Lord Stainton und Mr. Channing zu, der verdutzt den Schlagabtausch verfolgt hatte. "Gute Nacht, Lord Stainton, Mr. Channing. Und vielen Dank für Ihre Unterstützung."
"Unfassbar!", war alles, was Henry nach minutenlangem Schweigen hervorbrachte. Er konnte nicht glauben, was sich soeben vor seinen Augen abgespielt hatte. Er kannte niemanden, der so vermessen gewesen wäre, Lucas Paroli zu bieten oder ihn zu provozieren. Und dann kam diese junge amerikanische Witwe - eine überaus reizvolle junge Witwe - und tat genau das. "Was hat sie zu dir gesagt? Du hättest das Benehmen eines Barbaren? Da hast du es dir aber bei jemandem sehr gründlich verscherzt, mein Freund."
Lucas blickte zu der Terrassentür, durch die Eve entschwunden war. Sein amüsiertes Lächeln hatte einem Ausdruck eisiger Kälte Platz gemacht.
"Das dürfte allein Mrs. Brodys Problem sein, Henry, und nicht meines."
Beth bestand darauf, eine ruhige Stelle für das Picknick zu suchen, was nicht einfach war, da an diesem Tag der Ballonaufstieg stattfinden sollte und die Menschen nur so in den Hyde Park strömten, um dem Spektakel beizuwohnen. Die Seagrove-Kinder und Estelle bildeten da keine Ausnahme. Die Veranstaltung zog so viele Schaulustige an, dass sogar der Strom der Equipagen, der sich nachmittags durch den Park bewegte, ins Stocken geriet. Neben Reitern auf Pferden aus den edelsten Gestüten und herausgeputzten Dandys sah man Damen der besten Gesellschaft und gefeierte Schönheiten. Im strahlenden Sonnenschein plauderten die Menschen ungezwungen miteinander, wobei Gesprächsthema Nummer eins natürlich der Ballonaufstieg war.
Lucas, der die Kutsche, in der Miss Lacy und seine Töchter saßen, zu Pferde begleitete, fiel die kleine Picknickgesellschaft rein zufällig auf - oder vielleicht auch, weil dem Anblick ein gewisser Zauber innewohnte. Er schwang sich aus dem Sattel und betrachtete die Szene. Die Erwachsenen lagerten friedlich im Schatten einer Buche, während die Kinder auf der Wiese Fangen spielten. Auf einem weißen Damasttuch im Gras waren allerlei kulinarische Köstlichkeiten ausgebreitet.
Eine Gestalt in der Runde zog Lucas' Blicke besonders auf sich. Eine Frau in einem hellen, zartblau gemusterten Kleid, das im Rücken mit einer Schleife gerafft war. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, um den Ballon beobachten zu können, und ihre Haare, denen die Sonne rötliche Glanzlichter aufsetzte, flossen ihr in einer Kaskade über den Rücken. Mit ihrem seidenen Haarband wirkte sie wie ein junges Mädchen, obwohl ihr Körper der einer erwachsenen Frau war.
Als der Ballon am Horizont immer kleiner wurde, wandte Eve den Blick von ihm ab und sah zu den Kindern hinüber. Beths Jungen waren eigentlich ein bisschen zu wild, um mit einem Mädchen zu spielen, aber Estelle gab ihr Bestes, um mithalten zu können. Plötzlich hielt ihre kleine Tochter jedoch inne. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie rannte aufgeregt zu Eve.
"Mama!", rief sie. "Da drüben sind Sophie und Abigail!" Damit hüpfte sie schon auf die Kutsche zu, in der ihre neuen Freundinnen saßen.
Eve stand auf und eilte ihrer Tochter leichtfüßig hinterher.
"Sarah! Wie schön, Sie zu treffen!" Sie wandte sich den Kindern zu: "Habt ihr euch auch den Ballonaufstieg angesehen?"
"Ja",...