Eine rätselhafte Krankheit
Im Jahr 1855 erkrankt eine junge Frau lebensgefährlich am Krim-Kongo-Fieber. Sie wird diese Krankheit überstehen, aber sie wird nicht wieder gesund werden. Eine andauernde rasche Erschöpfung und chronische Müdigkeit machen aus ihr mit 38 Jahren eine Invalidin und fesseln sie fast 50 Jahre lang ans Bett. Mit 90 Jahren stirbt Florence Nightingale.
Die berühmte englische Krankenschwester (1820-1910) war wohl eine der ersten Patientinnen, bei der ein chronisches Müdigkeitssyndrom beschrieben wurde. Damals war die Bezeichnung »Chronic-Fatigue-Syndrom« in der Medizin noch nicht eingeführt, jedoch besteht angesichts des Verlaufs ihrer Krankengeschichte kein Zweifel, dass diese ungeheuer aktive Persönlichkeit durch ein Chronic-Fatigue-Syndrom zur lebenslangen Invalidin wurde.
»Seit zehn Jahren befinde ich mich in einer Verfassung, die ich als andauernd schwerkrank beschreiben würde. Dabei ist das Kuriose, dass man mir von der Erkrankung kaum etwas ansieht.« So äußerte sich Saranda T. in einem Interview, das ich anlässlich dieses Buches mit ihr geführt habe. Das chronische Leiden der heute 52-Jährigen begann vor zehn Jahren infolge einer akuten Epstein-Barr-Virus-Infektion. Nach einer langen Odyssee von Arzt zu Arzt wurde bei ihr das Chronic-Fatigue-Syndrom diagnostiziert. Ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit ist massiv eingeschränkt - mittlerweile so sehr, dass sie ihre Wohnung nur selten verlassen kann und an manchen Tagen kaum noch aus dem Bett kommt.
Florence Nightingale und Saranda T. - über ein Jahrhundert hinweg teilen die beiden Frauen dasselbe Schicksal. Denn obwohl ihre Krankheit schon so lange bekannt ist, gibt sie der Medizin bis heute viele Rätsel auf.
»Meine dringendste Frage ist«, sagt Saranda T., »ob ich jemals wieder gesund werde und ein normales Leben führen kann. Eine Antwort darauf konnte mir bisher niemand geben.«
Während meiner früheren Tätigkeit als Chefarzt einer internistisch-orthopädisch-neurologischen Rehabilitationsklinik nahmen wir multimorbide (vielfacherkrankte) Patient:innen zum Beispiel nach Schlaganfall, Hüftoperationen oder Herzinfarkt zur stationären Behandlung auf. Die Begleitdiagnosen psychovegetative Erschöpfung, Depression oder Burnout-Syndrom kamen bei diesen Patient:innen oft vor. Die Diagnose Chronic-Fatigue-Syndrom jedoch so gut wie nie.
In unserem Klinik-Team hatten alle schon von diesem Krankheitsbild gehört, aber so richtig etwas damit anfangen konnte eigentlich keiner. Lediglich unsere Psychologin vermutete ab und zu bei einer Patientin oder einem Patienten ein Chronic-Fatigue-Syndrom. Während der gemeinsamen Klinikkonferenzen überraschte sie uns dann in der Patientenbesprechung mit Aussagen wie: »Frau Schulze leidet nicht primär an einer Depression oder an einer psychovegetativen Erschöpfung, sondern sehr wahrscheinlich an einem Chronic-Fatigue-Syndrom.« Diese von der Psychologin vermutete Diagnose wurde von uns Ärzt:innen zur Kenntnis genommen, ohne dass daraus unsererseits jedoch irgendwelche medizinischen Konsequenzen gezogen wurden.
Rückblickend waren wir im Kollegenkreis damals bei der Diagnose Chronic-Fatigue-Syndrom nahezu einheitlich der Auffassung: »Wer müde ist und lange genug eine Auszeit bekommt, der gelangt auch wieder zu Kräften. Oder es wird schlimmer, sodass bei dem Patienten irgendwann eine sehr schwere und ernste Erkrankung zum Vorschein kommt.« Aus diesem Grund gewährten wir den Betroffenen meist durch eine Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit oder gar durch eine Zeitberentung eine längere Auszeit. Die Herausnahme aus dem Arbeitsprozess war mit der Vorstellung und der Prognose verbunden, dass es danach doch von selbst wieder aufwärtsgehen müsse. Doch mit dieser Einschätzung lagen wir schlicht und ergreifend falsch. Wir taten damit sowohl den betroffenen Patient:innen als auch der aufmerksamen Psychologin unrecht.
Unser Umgang mit den Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen war leider nicht ungewöhnlich, sondern an der Tagesordnung, und nach meinen Recherchen hat sich bis heute kaum etwas zum Besseren gewendet. Das Chronic-Fatigue-Syndrom wurde und wird in der Medizin selten als eigenständige Krankheit erkannt und ernst genommen. Patient:innen berichten, dass sie jahrelang als psychosomatisch erkrankt eingestuft und dementsprechend behandelt wurden, bis sie nach intensiven Recherchen an einen Arzt oder eine Ärztin gelangten, die sich mit diesem Krankheitsbild auskannte und die Diagnose Chronic-Fatigue-Syndrom stellen konnte. Dass sie so lange darauf warten mussten, ist dem Umstand in der Medizin geschuldet, dass eine chronische Müdigkeit ohne körperliche Befunde nach wie vor weitgehend den Psycholog:innen und Psychiater:innen überlassen wurde und noch wird.
Da der überwiegende Teil der Ärzt:innen für organische Störungen ausgebildet ist, verwundert es nicht, dass sie mit dieser Krankheit, bei der bisher keine organischen Störungen erkannt wurden, wenig anfangen können. Erschwerend kommt bei den Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen hinzu, dass die Vielzahl ihrer unspezifischen Beschwerden organisch schlecht einzuordnen ist. Diese für eine Diagnostik und Behandlung schon schwierige Situation, wird für die Patient:innen noch dahingehend verschlechtert, dass Müdigkeit als Hauptsymptom für die meisten Ärzt:innen wenig nachvollziehbar ist. Dem Symptom Müdigkeit liegt immer ein subjektives Empfinden zugrunde, das kaum objektiviert werden kann. Klagt jemand anhaltend über eine bleierne Müdigkeit, so gilt es als normal und verständlich, dass man ihm zu einer entsprechenden Auszeit rät. Aber genau dieser gut gemeinte Ratschlag bringt den Patient:innen mit einem Chronic-Fatigue-Syndrom keinerlei Besserung.
Die gängige Einstellung in unserer Gesellschaft lautet: »Wer müde und erschöpft ist, muss sich erholen und wird dann wieder leistungsfähig.« Deshalb werden die Betroffenen regelmäßig mit dem Satz konfrontiert: »Ruhe dich mal ordentlich aus, und danach geht es wieder aufwärts mit dir.« So verhält es sich im Normalfall. Gerade das trifft jedoch für die Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen nicht zu. Ihr Zustand verhält sich nach leichten Anstrengungen und nach Schlafzeiten gegen die bekannte Logik: Sie regenerieren sich durch Schlaf kaum oder gar nicht mehr.
Mit der bisherigen Betrachtung und Herangehensweise an das Chronic-Fatigue-Syndrom bleibt den Ärzt:innen nur eine wenig erfolgreiche und meist unbefriedigende Symptombehandlung. Deshalb sind nicht nur viele Betroffene, sondern auch sehr viele Ärzt:innen von der derzeitigen Diagnostik und Behandlung des Chronic-Fatigue-Syndroms frustriert.
Aber nicht nur die medizinische Situation dieser Patient:innen liegt im Argen, sondern auch die soziale. Ihr Leiden führt oft zu einschneidenden Einschränkungen im beruflichen und privaten Leben. Mehr als die Hälfte von ihnen bleibt für immer arbeitsunfähig, und lediglich knapp ein Drittel kehrt nach einem Chronic-Fatigue-Syndrom wieder in den angestammten Beruf zurück. Aufgrund einer ausgeprägten Schwäche können nahezu ein Viertel der Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen ihre Wohnung nicht mehr allein verlassen und dadurch nicht mehr selbstständig am öffentlichen Leben teilnehmen. Einige von ihnen sind auf Dauer bettlägerig und auf Pflege angewiesen.
Da sich die Forschung nur spärlich mit dem Chronic-Fatigue-Syndrom beschäftigte, gibt es für die Betroffenen bis heute nur wenig Hoffnung auf eine Besserung ihrer Situation. Das wenige Interesse der Forschung lag sicher daran, dass sich in Deutschland die Fallzahlen bislang nur auf ca. 300 000 und weltweit nur auf ca. 17 Millionen beliefen. In der Medizin stellt das eine kleine Gruppe an Patient:innen dar. Doch ausgerechnet durch die Corona-Pandemie können Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen wie Saranda T. wieder Hoffnung schöpfen. Denn das neu hinzugekommene Long-Covid-Syndrom entspricht den Kriterien des Chronic-Fatigue-Syndroms: Es ist eine Krankheit mit einer raschen Erschöpfung, einer chronischen Müdigkeit und einer Vielzahl an unspezifischen Symptomen.
Zusammen mit der Zahl der Long-Covid-Syndrom-Patient:innen erhöhte sich in Deutschland die Fallzahl des Chronic-Fatigue-Syndroms in kürzester Zeit um das Drei- bis Vierfache auf ca. 1,2 Millionen. Mit diesem Anstieg rückten die Probleme der medizinischen Versorgung dieser Patient:innen endlich in den Fokus der Medizin.
Auch in den Rehakliniken nahmen die Einweisungen mit der Diagnose Long-Covid-Syndrom sprunghaft zu. Ein Psychologe, der in der Rehabilitation schon lange Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen behandelte und im Long-Covid-Syndrom die gleichsinnige Erkrankung erkannte, wandte sich mit der Bitte um ein Gespräch an mich. Er hatte in einem meiner Bücher gelesen, was ich über Evolutionsbiologie, Zellbiologie und Systembiologie geschrieben hatte. Dies hatte ihn in seiner Annahme bestätigt, dass bei dieser Erkrankung körperliche Störungen eine erhebliche Rolle spielen.
Als Chefarzt in der Rehabilitation hatte ich es mit vielfach (multimorbiden) Erkrankten zu tun. Um diesen Patient:innen gerecht zu werden, war es für mich unabdingbar, mir tiefgründige Kenntnisse der modernen Biologie anzueignen. Schließlich bedeutet Biologie: die Logik des Lebens. Das Gespräch mit dem Psychologen über das Chronic-Fatigue-Syndrom und besonders sein Hinweis auf eine körperliche Störung weckten sofort mein Interesse, und ich vertiefte mich in das Thema. Mit der Zeit wurde mir bewusst, dass bei dieser Erkrankung die körperliche Störung auf Zellebene und insbesondere in einem Zellenergie-Defizit-Syndrom zu finden ist. Es muss in der universitären Medizin endlich mehr beachtet werden, dass es die Zellen sind,...