Von einer seltenen Krankheit zum Volksleiden
Das Schicksal von Lena ist kein Einzelfall. Mit einer Insulinresistenz oder einem Typ-2-Diabetes hat sie viele Leidensgenossen. Patienten mit einer Glukosestoffwechselstörung sind heute in Arztpraxen sehr zahlreich vertreten - in Zukunft sicher noch viel zahlreicher. Dabei war der Typ-2-Diabetes in Deutschland einmal eine seltene Erkrankung. 1950 lag den Statistiken nach die Anzahl der Patienten mit dieser Erkrankung bei nahezu gleicher Einwohnerzahl wie heute bei unter fünfhunderttausend. In den folgenden Jahrzehnten stiegen mit dem zunehmenden Wohlstand die Fallzahlen Jahr für Jahr kontinuierlich an, sodass es heute laut der Deutschen Diabetes Gesellschaft über 10 Millionen diagnostizierte Patienten mit Typ-2-Diabetes sind. Zusätzlich muss aber noch von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen werden, da eine Insulinresistenz oder ein Typ-2-Diabetes bei vielen schon besteht, jedoch noch nicht diagnostiziert wurde - wie auch im Fall von Lena. Damit kommt dieser Erkrankung die Bedeutung einer schwerwiegenden Volkskrankheit zu, die viel Leid erzeugt und für das Gesundheitssystem eine große ökonomische Herausforderung darstellt.
Weltweit beläuft sich die Anzahl der Patienten mit einem Typ-2-Diabetes auf über fünfhundert Millionen. Aber wie konnte es zu diesem erschreckenden Massenphänomen kommen? Was sind die Ursachen dieser fatalen Entwicklung?
Die Zivilisationskrankheiten, zu denen auch der Typ-2-Diabetes zählt, werden vor allem durch die moderne Lebensweise verursacht. Auf eine Zeit großen Mangels folgte ab ca. 1955 eine Periode des zunehmenden Wohlstands. Sie brachte mit sich: eine vermehrte Fehl- und Überernährung, einen zunehmenden Bewegungsmangel, eine chronische Stressbelastung und eine mangelnde Regeneration. Die Veränderung der Lebensweise führte zu einem Wandel des Krankheitsspektrums: von den früher häufigen Infektionskrankheiten hin zu den heutigen zahlreichen chronischen Zivilisationskrankheiten.
Der Wohlstand entwickelte sich langsam, sodass sich der Wandel des Krankheitsspektrums ebenfalls langsam vollzog. Auch dauerte es damals in der Regel bei den Betroffenen Jahrzehnte, bis eine Zivilisationskrankheit, z. B. eben Typ-2-Diabetes, ausbrach. Aus diesem Grund wurde vor nicht allzu langer Zeit der Typ-2-Diabetes noch als Altersdiabetes bezeichnet, da nahezu ausnahmslos ältere Personen von dieser Erkrankung betroffen waren. In den letzten Jahren zeigte sich jedoch, dass zunehmend jüngere Erwachsene und bereits auch schon Kinder betroffen sind. Diese Entwicklung ist relativ neu, und so gab es gute Gründe für den Namenswechsel: Von der Bezeichnung Altersdiabetes hin zu der heutigen Bezeichnung Typ-2-Diabetes.
Insulinresistenz und Typ-2-Diabetes - wie gehört das zusammen?
Ernährungsfehler, die wiederholt oder dauerhaft zu einem erhöhten Blutzucker führen, bewirken eine vermehrte Ausschüttung von Insulin in der Bauchspeicheldrüse und damit einen erhöhten Insulinspiegel im Blut. Mit der Zeit verliert das Insulin jedoch seine Wirkung, da die Zellen nicht mehr gut darauf ansprechen, sodass das Einschleusen der Glukose in die Zellen zunehmend vermindert oder gestört ist. Das Insulin senkt den Blutzucker nun nur noch unzureichend, wodurch die Bauchspeicheldrüse noch mehr Insulin produziert - was früher oder später in den Typ-2-Diabetes führt.
Bei der modernen Lebensweise spielen sich die krankhaften Veränderungen im Organismus in viel kürzeren Zeiträumen ab. Deshalb erhalten immer mehr Betroffene in sehr viel früheren Lebensjahren die Diagnose einer Insulinresistenz oder eines Typ-2-Diabetes. Bei einigen jungen Menschen und auch bei Kindern ist die gleiche Entwicklung zu beobachten: Die Anzahl der Kinder mit Typ-2-Diabetes wird mittlerweile auf mehrere Tausend in Deutschland geschätzt. Auch die Folgeerkrankungen und Folgekomplikationen wie Nervenschäden, Nierenschäden, Netzhautschäden (Retinopathie), Durchblutungsstörungen der Beine, Herz-Kreislauf-Schäden mit Arteriosklerose (Gefäßverengung), Herzinfarkt und Schlaganfall treten deshalb immer mehr auch bei jüngeren Patienten auf. Diese Entwicklung ist verheerend. Kinder waren früher fast ausschließlich von dem sogenannten Typ-1-Diabetes betroffen, der völlig andere Ursachen hat.
Gesunde und krankmachende Kohlenhydrate
»Was für ein Zucker ist denn Glukose, und was sind gute und schlechte Kohlenhydrate?«, wollte Lena während unseres Gesprächs von mir wissen. Sie blickte auf ihren Teller, auf den sie sich vom Buffet Salat, Gemüse und Kartoffelsalat angerichtet hatte. »Manchmal«, sagte sie, »hört man ja die folgende Empfehlung: >Essen Sie viel Gemüse und Salat, aber lassen Sie die Kohlenhydrate weg.< Also mache ich das hier gerade richtig?«
»Jein«, sagte ich.
Diese Empfehlung ist sachlich und fachlich so nicht richtig. Sowohl für das Verstehen der Insulinresistenz und des Typ-2-Diabetes als auch für deren Prävention und Therapie sind gründliche Kenntnisse über die Kohlenhydrate unerlässlich.
Was sind eigentlich Kohlenhydrate?
Pflanzen bauen mithilfe von Sonnenenergie aus Kohlenstoff und Wasser unterschiedliche Zuckerbausteine auf. Von dem Kohlenstoff stammt die Bezeichnung Kohlenhydrate. Der häufigste Baustein ist Glukose, die von den Pflanzen zu unterschiedlich langen Ketten wie zu Stärke (Glykogen) oder Cellulose verknüpft wird. Somit hat man es bei Kohlenhydraten mit einzelnen Zuckerbausteinen (z. B. Glukose, Fruktose) sowie mit unterschiedlich langen Zuckerketten zu tun. Daraus resultiert die folgende Einteilung in einfache und komplexe Kohlenhydrate:
Einfache Kohlenhydrate. Darunter werden einzelne Zuckerbausteine (Monosaccharide), wie Glukose, Fruktose, Galaktose, oder die Verbindung von zwei Zuckerbausteinen (Disaccharide), wie z. B. Saccharose aus Glukose und Fructose, verstanden.
Komplexe Kohlenhydrate. Darunter werden lange Ketten mit vielen Zuckermolekülen verstanden. Diese bestehen aus Hunderten oder gar aus Tausenden von Glukosemolekülen, die unterschiedlich lange und unterschiedlich verknüpfte Ketten bilden. Sie kommen zum Beispiel im Salat oder im Gemüse vor und benötigen viel Zeit für ihren Abbau durch die Verdauung oder sind überhaupt nicht verdaulich.
Glukose kommt demnach in Nahrungsmitteln in sehr unterschiedlichen Arten vor. Deshalb trifft die Empfehlung »Essen Sie viel Gemüse und Salat, aber lassen Sie die Kohlenhydrate weg« schlicht nicht zu. Denn wie wir gerade gesehen haben, bestehen auch Gemüse und Salat aus Kohlenhydraten. Die große Bedeutung der Einteilung - einfache oder komplexe Kohlenhydrate - liegt in den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit der Glukose nach einer Nahrungsaufnahme im Blut erscheint. Nach dem Verzehr von Süßigkeiten (Mono- und Disaccharide) und von Stärke (Weißmehlprodukte, Kartoffeln, Reis usw.) gelangt Glukose sehr schnell - innerhalb von wenigen Minuten - ins Blut. Beim Verzehr von Salat und Gemüse müssen die langen Ketten dagegen erst durch die Verdauung aufgespaltet und zerlegt werden. Dies benötigt Zeit, weshalb die Glukose aus komplexen Kohlenhydraten sehr viel langsamer und später im Blut erscheint. Das macht den entscheidenden Unterschied! Hinzu kommt, dass einige kohlenhydrathaltige Pflanzenfasern (Ballaststoffe) aus Salat, Gemüse oder Obst überhaupt nicht verdaut und abgebaut werden können.
Schnell ins Blut einschießende Glukose lässt den Blutzucker sehr rasch und unnatürlich hoch ansteigen. Als Reaktion darauf wird übermäßig viel Insulin ausgeschüttet, das die Glukose in die Zellen treibt und den Blutzucker nun sehr stark absenkt. Zwei Stunden nach einer solchen Mahlzeit kommt es deshalb oft zu einer Unterzuckerung im Blut, die eine Heißhungerattacke auslöst. Dann besteht der Drang, schnell etwas Süßes zu essen, und der Betroffene gerät dadurch rasch in eine »Kohlenhydratmast« mit einer kontinuierlichen Gewichtszunahme.
Eine andauernde Fehlernährung mit schnellen Kohlenhydraten führt zu dauerhaften Blutzucker- und Insulinerhöhungen. Dadurch werden anhaltende krankmachende Veränderungen ausgelöst: eine Insulinresistenz und letztlich ein Typ-2-Diabetes. Für die praktische Medizin macht deshalb die Einteilung in »schnelle und langsame Kohlenhydrate« anstelle von »einfachen und komplexen Kohlenhydraten« deutlich mehr Sinn. Denn das entscheidende Kriterium ist: Wie schnell schießt die Glukose nach dem Essen ins Blut und wie stark wird der Blutzucker dadurch in die Höhe getrieben. Für den Speiseplan ist bedeutsam, dass sich viele schnelle Kohlenhydrate in Süßigkeiten, Süßgetränken, Kartoffeln, Reis und Weißmehlprodukten wie Brot, Brötchen, Kuchen, Nudeln usw. finden. Viele langsame Kohlenhydrate dagegen in Gemüse, Salat, Nüssen und Obst.
In der Evolutionsbiologie (Entwicklungsbiologie) nahm der Mensch fast ausschließlich langsame Kohlenhydrate zu sich. Der Verzehr von schnellen Kohlenhydraten kam so gut wie nie vor, denn er stand die meiste Zeit schlicht nicht zur Verfügung. Nur selten hatten unsere Vorfahren in der Urzeit die Gelegenheit, etwas Honig oder große Mengen süßer Früchte zu verzehren. Aus diesem Grunde sind der Glukosestoffwechsel und die Blutzuckerregulation des menschlichen Organismus lediglich für den Verzehr von langsamen Kohlenhydraten ausgelegt. Nicht jedoch für die heute in großen Mengen tagtäglich verzehrten schnellen Kohlenhydrate.
Die Veränderung der ursprünglichen Ernährungsweise hin zu den schnellen Kohlenhydraten vollzog sich in mehreren Schritten. Zu der ersten größeren Veränderung in der Ernährung kam es durch den Getreideanbau vor ca. 10 000 Jahren. Zu der zweiten...