KAPITEL 1
Mr. Bob Sawyer gibt eine lustige Abendgesellschaft in seiner Wohnung im Borough.
In der Gegend von Landstreet herrscht gewöhnlich eine Ruhe, die die Seele melancholisch stimmt. Immer sind in ihr eine Menge Häuser zu vermieten, und wer sich von der Welt zurückzuziehen wünscht und der Möglichkeit einer Versuchung entgehen will, zum Fenster hinauszusehen, dem kann nur angelegentlichst geraten werden, eine Wohnung in Landstreet zu beziehen.
Die Mehrzahl der Bewohner wendet ihre Tätigkeit unmittelbar der Vermietung möblierter Zimmer zu oder widmet sich dem gesunden und muskelstärkenden Geschäfte des Wäschemangelns. Die Hauptformen der unbelebten Natur in. dieser Straße sind grüne Fensterläden, Mietzettel, messingene Türplatten und Glockenzüge; die Hauptarten der belebten sind der Küchenjunge, der Semmelbursche und der Kartoffelmann. Die Mieter sind eine Art von Zugvögeln; sie verschwinden gewöhnlich am Ende des Quartals und meistens zur Nachtzeit. Die Einkünfte Seiner Majestät werden in diesem Paradiese nur selten eingesammelt, die Zinse sind unsicher, und die Trinkwasserleitungen werden sehr häufig gesetzlich gesperrt.
An dem Abend, zu dem Mr. Pickwick eingeladen worden war, saßen Mr. Bob Sawyer und Mr. Ben Allen im Vorderzimmer des Erdgeschosses am Kamin, einander gegenüber. Die Vorbereitungen zum Empfang der Gäste schienen bereits vollendet. Der Regenschirmständer im Hausflur war in der kleinen Ecke vor der Stubentür untergebracht, die Haube und der Schal des Dienstmädchens vom Treppengeländer entfernt, ein Paar Überschuhe standen auf der Strohmatte am Haustor, und auf dem Gesims des Treppenfensters brannte ein munteres Küchenlicht mit einer sehr langen Schnuppe. Mr. Bob Sawyer hatte die Getränke in einem Weingewölbe in der Highstreet eigenhändig eingekauft und den Träger derselben begleitet, um der Möglichkeit der Ablieferung in einem unrechten Hause vorzubeugen. Der Punsch wartete in einem roten Krug im Schlafgemach, ein mit grünem Tuch überzogenes Tischchen war von einem Mitbewohner des Hauses geborgt worden, um als Spieltisch verwendet zu werden, und die Gläser des Etablissements samt denen, die man aus einem Wirtshaus entlehnt, standen auf einem stummen Diener auf dem Treppenabsatz vor der Tür. Trotz dieser höchst befriedigenden Anordnungen lag eine Wolke auf Mr. Bob Sawyers Mienen, als er am Fenster saß und auch die Züge Mr. Ben Allens trugen das gleiche Gepräge, während er aufmerksam auf die Kohlen starrte, und seine Stimme hatte etwas Melancholisches, als er nach einer langen Pause das Stillschweigen brach:
»Es ist wirklich ärgerlich, daß sie es sich in den Kopf gesetzt hat, gerade bei dieser Gelegenheit auf die Pauke zu hauen. Sie hätte wenigstens bis morgen warten können.«
»Aus purer Bosheit«, brach Mr. Bob Sawyer los. »Sie sagt, wenn ich Gesellschaften geben könne, müsse ich auch imstande sein, ihre verdammte ,kleine Rechnung' zu bezahlen.«
»Wie lange läuft sie denn jetzt?« fragte Mr. Ben Allen.
Eine Rechnung ist, beiläufig gesagt, das merkwürdigste Perpetuum mobile, das der menschliche Scharfsinn je ausgedacht hat. Sie würde das längste Menschenleben lang laufen, ohne je aus eigenem Antrieb stehenzubleiben.
»Bloß ein Vierteljahr und einen Monat oder so was«, erwiderte Mr. Bob Sawyer.
Ben Allen hustete hoffnungslos und richtete einen forschenden Blick auf die beiden Stangen am Ofen.
»Es wäre doch eine verdammte Geschichte, wenn sie sich in den Kopf setzen würde, vor der Gesellschaft hier aufzubegehren, was?« sagte er endlich.
»Schauderhaft«, versetzte Bob Sawyer, »schauderhaft.«
Ein leises Pochen ließ sich in diesem Moment an der Zimmertür hören. Bob Sawyer warf seinem Freund einen bedeutsamen Blick zu, rief: »Herein!«, und ein schmutziges, schlampiges Mädchen in schwarzen Baumwollstrümpfen, die ganz gut für die verwahrloste Tochter eines dienstunfähigen Straßenkehrers in reduzierten Umständen hätte gelten können, steckte den Kopf herein und sagte:
»Mit Verlaub, Mr. Sawyer, Mrs. Raddle wünscht Sie zu sprechen.«
Ehe aber noch Mr. Bob Sawyer etwas erwidern konnte, verschwand das Mädchen plötzlich mit einem gellenden Schrei, wie wenn ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzt hätte, und unmittelbar nach diesem geheimnisvollen Verschwinden erfolgte ein abermaliges Klopfen - ein kurzes entschiedenes Klopfen, das zu sagen schien: »Hier bin ich und lasse mich nicht abweisen.«
Bob Sawyer starrte seinen Freund mit einem Blick hoffnungsloser Angst an und rief abermals:
»Herein!«
Die Erlaubnis wäre indes nicht notwendig gewesen, denn ehe er das Wort ausgesprochen, stürzte eine grimmerfüllte kleine Person ins Zimmer, an allen Gliedern zitternd vor Zorn und ganz bleich vor Wut.
»Na, Mr. Sawyer«, keuchte sie, bemüht, möglichst ruhig zu erscheinen, »wenn Sie die Güte haben wollen, meine kleine Rechnung da zu berichtigen, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein, denn ich muß heute mittag ebenfalls meine Miete bezahlen, und der Hausbesitzer wartet unten.« Dabei rieb sie sich die Hände und blickte unverwandt über Mr. Sawyers Kopf auf die Wand.
»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie in Ungelegenheiten bringe, Mrs. Raddle«, stotterte Bob Sawyer demütig, »aber ...«
»Oh, von Ungelegenheiten ist nicht die Rede«, entgegnete die kleine Frau mit schrillem Ton. »Ich habe es bis jetzt noch nicht gebraucht, und da war's mir gleichgültig, ob Sie es hatten oder ich, wo ich's sowieso dem Hausherrn geben muß. Sie haben mir's zu heute nachmittag versprochen, Mr. Sawyer, und jeder Gentleman, wo hier gewohnt hat, hat sein Wort gehalten, wie das auch natürlicherweise von jedem erwartet werden muß, wo sich für einen Gentleman ausgeben tut.«
Und Mrs. Raddle schüttelte ihr Haupt, biß sich in die Lippen, rieb ihre Hände noch stärker und blickte noch starrer nach der Wand. Man konnte deutlich sehen, wie Mr. Allen bei einer späteren Gelegenheit in orientalisch-allegorischem Stil bemerkte, daß sie zu »dampfen« anfing. »Es tut mir sehr leid, Mrs. Raddle«, sagte Bob Sawyer mit aller erdenklichen Demut; »aber das Geld, das man mir heute in der City versprochen hat, ist ausgeblieben. Es ist wirklich ein Pech, der Geldgeber hat es mir als ganz sicher zugesagt.«
»Ganz gut, Mr. Sawyer«, schrillte Mrs. Raddle und pflanzte sich entschlossen auf eine in den Kidderminsterteppich gewebte purpurfarbene Blume, »aber was geht das mich an, Sir?«
»Ich - ich - zweifle nicht, Mrs. Raddle«, erwiderte Mr. Sawyer, die letzte Frage scheinbar überhörend, »daß wir noch vor Mitte der nächsten Woche miteinander abrechnen können, und dann soll es künftighin besser gehen.«
Mehr verlangte Mrs. Raddle nicht. Sie war mit so bestimmter Absicht, einen Skandal zu machen, in des unglücklichen Bob Sawyers Zimmer gestürzt, daß sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei sofortiger Bezahlung kaum zufriedengegeben hätte, und war in der vorzüglichsten Stimmung zu einem kleinen Herzenserguß, zumal da sie soeben in der Küche mit Mr. Raddle eine Art Generalprobe zu dem Zweck abgehalten hatte. »Nehmen Sie etwa an, Mr. Sawyer«, begann sie und erhob dabei ihre Stimme, um der Nachbarschaft das Verständnis zu erleichtern, »nehmen Sie etwa an, ich lasse Tag für Tag einen Burschen bei mir wohnen, wo nie daran denkt, seine Miete zu bezahlen - noch nich mal die baren Auslagen für frische Butter, Zucker und Milch, wo ich ihm zum Frühstück besorge? - Nehmen Sie etwa an, eine fleißige Frau, wo schwer arbeiten tut und schon zwanzig Jahre in diese Straße gewohnt hat - zehn Jahre auf die andre Seite und neundreiviertel Jahr in dies Haus hier -, hat weiter nichts zu tun, als sich für Tagediebe totzurackern, wo dauernd bloß rauchen und saufen und Maulaffen feilhalten, anstatt sich 'ne Beschäftigung zu suchen, damit sie ihre Rechnungen bezahlen können? Nehmen Sie etwa ...«
»Aber liebe Frau«, unterbrach Mr. Benjamin Allen begütigend.
»Sind Sie so gut und behalten Sie Ihre Bemerkungen für sich, ja«, rief Mrs. Raddle, bremste plötzlich den mitreißenden Schwung ihrer Rede ab und wandte sich mit eindrucksvoller Gemessenheit und Feierlichkeit an den Sprecher. »Ich bin mir gar nicht die Sache bewußt, Sir, daß Sie irgendwie berechtigt sind, eine Anrede an mir zu richten. Soviel ich weiß, habe ich das Zimmer nicht an Ihnen vermietet, Sir.«
»Nein, das haben Sie freilich nicht«, gab Mr. Benjamin Allen zu.
»Na also«, erwiderte Mrs. Raddle voll stolzer Höflichkeit, »dann begnügen Sie sich vielleicht am besten damit, den armen Leuten in den Spitälern Arme und Beine zu knacken und den Dreck vor Ihre eigene Tür wegzufegen, sonst könnten sich Leute finden, wo Ihnen daran erinnern möchten.«
»Sie sind aber wirklich sehr unvernünftig«, wandte Mr. Benjamin Allen ein.
»Gestatten Sie mal, junger Mann«, sagte Mrs. Raddle noch lauter und nachdrücklicher, »war die Bemerkung etwa auf meine Person gerichtet?« »Sie war; na und?« sagte Mr. Benjamin Allen.
»Haben Sie das auf mir gemeint, frage ich Ihnen, Sir?« schrie Mrs. Raddle, deren Zorn nun. in Weißglut geraten war, und riß die Tür weit auf. »Aber ja, natürlich«, erwiderte Mr. Benjamin Allen.
»Ja, natürlich!« schrie Mrs. Raddle so laut wie möglich, damit Mr. Raddle in der Küche alles hören konnte. »Ja, natürlich haben Sie das getan! Es weiß ja auch jeder, daß man mich in meinem eigenen Hause ungestraft beleidigen tut, weil mein Mann ganz ruhig unten schnarcht und sich nich mehr um mir kümmern tut wie um ein' Straßenköter. Er sollte sich was schämen«, schluchzte Mrs. Raddle, »daß er seine Frau so...