Erstes Kapitel
In dem Hause von Steerforths Mutter befand sich ein Diener, der gewöhnlich zur Verfügung des jungen Herrn zu stehen hatte und von ihm auf der Universität aufgenommen worden war.
Dem Äußern nach war er ein Muster von Respektabilität. Ich glaube nicht, daß es in solcher Stellung einen respektabler aussehenden Mann geben konnte. Er trat leise auf, war äußerst still in seinem ganzen Wesen, ehrerbietig, aufmerksam, immer zur Hand, wenn er gebraucht wurde, und nie zu sehen, wenn man ihn nicht brauchte. Aber seine hervorstechendste Eigenschaft war, wie gesagt, seine Respektabilität.
Er hatte ein unbewegliches Gesicht, einen etwas steifen Nacken, einen runden, glatten Kopf mit kurzem an den Schläfen dicht anliegendem Haar, eine milde Sprechweise und eine eigentümliche Art, den Buchstaben S so deutlich zu lispeln, daß er ihn öfter als jeder andere Mensch zu gebrauchen schien. Aber auch diese Eigentümlichkeit trug nur zu seiner Respektabilität bei.
Selbst wenn seine Nase umgekehrt im Gesicht gestanden hätte, würde ihn dies wahrscheinlich noch respektabler gemacht haben. Er umgab sich mit einer Atmosphäre von Respektabilität und wandelte mit Sicherheit in ihr einher.
So durch und durch respektabel war er, daß ihn wegen irgend etwas im Verdacht zu haben, für jedermann von vornherein ausgeschlossen schien. So respektabel war er, daß sich niemand unterstanden hätte, ihm eine Livree zuzumuten, noch viel weniger eine niedrige Arbeit. Und dessen waren sich die weiblichen Dienstboten des Hauses so sehr bewußt, daß sie sich solcher Arbeit stets aus freien Stücken unterzogen und das meistens, während er am Herdfeuer die Zeitung las.
Ich sah nie einen gesetzteren, zurückhaltenderen Menschen als ihn. Aber auch durch diese Eigenschaft erschien er noch respektabler. Sogar der Umstand, daß niemand seinen Taufnamen wußte, schien zur Hebung seiner Respektabilität beizutragen. Niemand hatte etwas einzuwenden, daß man ihn mit seinem Familiennamen Littimer rief. Ein Peter konnte gehenkt oder ein Tom deportiert werden, aber Littimer war höchst respektabel.
Ich glaube, die fast ehrwürdige Art seiner nahezu abstrakten Respektabilität war schuld, daß ich mir in seiner Gegenwart ganz besonders jung vorkam.
Wie alt er sein mochte, konnte ich nicht erraten. Und das kam ihm schon wieder zugute. Nach seiner Ruhe und Respektabilität zu schließen, konnte er ebenso gut fünfzig, wie dreißig Jahre sein.
Littimer brachte mir, ehe ich aufstand, das gewisse, auf mich wie ein Vorwurf wirkende Rasierwasser und meine Kleider. Als ich die Vorhänge zurückzog, um aus dem Bett zu schauen, sah ich ihn in einer gleichmäßigen Respektabilitätstemperatur, ungerührt von dem winterlichen Ostwinde draußen und in keiner Hinsicht fröstlig, meine Stiefel in die erste Tanzposition stellen und Stäubchen von meinem Rock blasen, den er so zärtlich, als wäre es ein Wickelkind, hinlegte.
Ich wünschte ihm guten Morgen und fragte ihn, wie spät es sei. Er zog eine höchst respektable Jagduhr heraus, ließ den Deckel nur halb aufspringen, spähte hinein, als ob er eine orakelfähige Auster zu Rate zöge, und sagte: »Wenn es beliebt, es ist halb neun. Mr. Steerforth wird sich freuen, zu hören, wie Sie geruht haben, Sir.«
»Ich danke,« antwortete ich, »vortrefflich. Befindet sich Mr. Steerforth wohl?«
»Ich danke Ihnen, Sir. Mr. Steerforth befindet sich recht wohl.« Es war wieder eine von Littimers Eigenheiten, daß er nie von Superlativen Gebrauch machte. Immer der kühle, ruhige Mittelweg.
»Habe ich die Ehre, sonst noch etwas für Sie zu tun, Sir? Die Frühstücksglocke wird um neun Uhr läuten. Die Familie frühstückt um halb zehn.«
»Nichts sonst. Ich danke Ihnen.«
»Ich danke Ihnen, wenn Sie erlauben,« erwiderte Littimer; und mit diesen Worten und mit einer leichten Verbeugung, wie wenn er für seine Berichtigung um Verzeihung bitten wollte, ging er hinaus und schloß die Türe so zart, als ob ich eben in einen süßen Schlummer, von dem mein Leben abhing, gesunken wäre.
Jeden Morgen fand ein Gespräch dieser Art zwischen uns statt, niemals länger und niemals kürzer. So hoch ich mich infolge von Steerforths Gesellschaft, Mrs. Steerforths Vertrauen oder meiner Unterhaltung mit Miß Dartle dem Alter entgegen gereift wähnte, vor diesem so respektablen Mann wurde ich jedesmal wieder zum Kinde.
Er besorgte Pferde für uns, und Steerforth, der alles konnte, gab mir Reitstunden. Er besorgte uns Fleuretts, und Steerforth unterrichtete mich im Fechten - Handschuhe, und ich nahm Boxstunden. Es verletzte mich nicht, vor Steerforth als Neuling in allen diesen Künsten zu erscheinen, aber unerträglich war es mir, meinen Mangel an Geschicklichkeit vor dem so respektablen Littimer sehen zu lassen. Ich hatte gar keinen Grund, zu glauben, daß er selbst von allen diesen Dingen etwas verstünde. Nicht durch das geringste Zucken auch nur eines seiner respektabeln Augenlider ließ er so etwas ahnen. Aber wenn er nur bei unseren Übungen anwesend war, kam ich mir schon als der grünste und unerfahrenste aller Sterblichen vor.
Die Woche verstrich in der angenehmsten Weise. Ich lernte Steerforth noch besser kennen und aus tausend Gründen noch mehr bewundern. Seine ungenierte Weise, mich wie ein Spielzeug zu behandeln, war mir lieber als jedes andere Benehmen, das er mir hätte zeigen können. Es erinnerte mich an die Zeit unserer frühern Bekanntschaft, erschien mir als eine natürliche Folge derselben, zeigte mir, daß er noch ganz der Alte war, und befreite mich von jedem unangenehmen Gefühl, das ein Nebeneinanderstellen seiner und meiner Eigenschaften hätte verursachen können. Vor allem aber war es seine vertrauliche, ungezwungene und herzliche Art, weil er sie gegen niemand sonst zur Schau trug, die mich annehmen ließ, er behandle mich, wie schon damals in der Schule, auch jetzt im Leben anders, als irgend einen seiner Freunde. Ich glaubte seinem Herzen näher zu stehen als alle andern und glühte vor Liebe zu ihm.
Er entschloß sich, mit mir auf das Land zu gehen, und der Tag unserer Abreise kam heran. Anfangs schwankte er, ob er Littimer mitnehmen solle oder nicht, entschied sich aber dann, ihn zu Hause zu lassen.
Der respektable Mann war selbstverständlich zu frieden und befestigte unsere Manteltaschen auf dem kleinen Wagen, der uns nach London bringen sollte, so sorgfältig, als müßten sie dem Sturm von Jahrhunderten trotzen, und nahm meine bescheiden hingehaltene Gabe mit unerschütterlicher Miene entgegen.
Wir sagten Mrs. Steerforth und Miß Dartle Adieu unter vielen Danksagungen meinerseits und vielen Freundschaftsbezeigungen von seiten Steerforths zärtlicher Mutter. Das letzte, was ich sah, war Littimers unbewegtes Auge. Es war voll der Überzeugung, wie ich mir einbildete, daß ich wirklich sehr jung sei.
Meine Empfindungen bei einer so glücklichen Rückkehr zu der alten trauten Umgebung will ich nicht zu beschreiben versuchen. Von London aus nahmen wir die Post. So sehr lag mir die Ehre von Yarmouth am Herzen, daß ich sehr erfreut war, als Steerforth während der Fahrt durch die dunklen Gassen nach dem Gasthof sagte, es sei ein gutes, verrücktes, abgelegenes Loch.
Wir begaben uns gleich nach der Ankunft zu Bett (ich bemerkte ein paar schmutzige Schuhe und Gamaschen, die meinem alten Freund, dem »Delphin« gehörten) und frühstückten spät am Morgen. Steerforth, der sehr gut aufgelegt war, hatte schon vorher einen Spaziergang am Strande gemacht und, wie er sagte, bereits die Hälfte der Fischer kennen gelernt. Er hätte bestimmt, wie er sagte, in der Ferne Mr. Peggottys Haus mit dem rauchenden Ofenrohr gesehen und große Lust gefühlt, hinzugehen, die Türe zu öffnen und sich in meinem Namen vorzustellen.
»Wann willst du mich dort einführen, Daisy?« fragte er. »Ich stehe ganz zu deiner Verfügung. Arrangiere du.«
»Nun, Steerforth, ich denke, heute abends wäre die beste Zeit. Da sitzen sie alle um das Feuer. Ich möchte, daß du sie siehst, wenn es gerade am gemütlichsten ist.«
»Also gut, heute abends.«
»Ich werde ihnen natürlich nichts von unserm Hiersein sagen lassen. Wir müssen sie überraschen!«
»Natürlich,« sagte Steerforth. »Es wäre sonst kein Spaß dabei. Wir müssen die Eingebornen in ihrem Naturzustand sehen.«
»Obgleich sie - ein >gewisser Schlag Leute sind,< wie du einmal sagtest,« bemerkte ich.
»Aha. Du erinnerst dich also an mein Geplänkel mit Rosa,« sagte er mit einem raschen Blick. »Verdammtes Frauenzimmer! Ich fürchte mich fast vor ihr. Sie verfolgt mich wie ein Kobold. Aber weg mit ihr! - - - Was gedenkst du jetzt zu tun? Wie ich vermute, willst du deine alte Kindsfrau besuchen.«
»Freilich wohl,« sagte ich, »Peggotty muß ich zuerst besuchen.«
»Gut,« antwortete Steerforth und sah auf die Uhr. »Genügt es dir, um dich auszuweinen, wenn ich dich ein paar Stunden allein lasse?«
Ich erwiderte lachend, ich glaubte bis dahin fertig sein zu können. Daß er aber auch kommen müßte, denn sein Ruhm sei ihm so voraus geeilt, daß er eine ebenso wichtige Person wäre wie ich.
»Ich werde kommen, wohin du willst, und alles Gewünschte vollbringen. Sage mir nur, wohin ich kommen soll, und in zwei Stunden werde ich mich in jedem gewünschten Zustand vorstellen, gleichgültig, ob sentimental oder humoristisch.«
Ich gab ihm genaueste Anweisungen, damit er die Wohnung Mr. Barkis - »Fuhrmann nach Blunderstone und andern Orten« - auffinden könne, und ging dann allein aus.
Die Luft war scharf, die Erde trocken, die See gekräuselt und klar, die Sonne verbreitete reiches Licht, wenn auch wenig Wärme, und alles erschien...